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„Der VW der Zukunft kennt meinen Kalender und weiß, wann ich los will“

von Karsten Lemm
Fast sechs Jahre lang leitete Johann Jungwirth das Silicon-Valley-Labor von Mercedes, ehe Apple ihn abwarb. Im vergangenen Herbst, fast zeitgleich mit der Aufdeckung des Abgasskandals, wechselte er überraschend als Chief Digital Officer zu VW – weil er dort inmitten der Krise die besten Chancen sah, die Zukunft des Autos zu gestalten.

Johann Jungwirth (43) gilt als einer der gefragtesten Experten für selbstfahrende Autos und Elektromobilität. Der Ingenieur aus Hessen glaubt: Nach dem Diesel-Skandal „wird die Offenheit für Veränderungen am größten sein.“ Deshalb zog er mit seiner Familie nach Wolfsburg. Dort soll er VW als Chief Digital Officer fit machen für die Zukunft selbstfahrender Autos.

WIRED hat mit Jungwirth über den Perspektivwechsel auf der Straße, den Wettbewerbsvorteil des VW-Konzerns, das Lenkrad als Extra und darüber gesprochen, was Wolfsburg dem Silicon Valley voraus hat.

WIRED: Herr Jungwirth, was war Ihre erste Entscheidung bei VW?
Johann Jungwirth: Zunächst mal: Ich bin JJ. Ich biete jedem das Du an, das ist mir lieber.

WIRED: Gern. Also, JJ: Was war deine erste Entscheidung bei VW?
Jungwirth: Ich habe gesagt: Es muss keine Krawatte, kein Sakko mehr geben. Vielleicht kommen auch noch T-Shirt und Jeans.

WIRED: Alle folgen dem Vorbild des Chefs?
Jungwirth: Das gilt nur für die, die wollen. Es darf kein Zwang sein. Wenn jemand gern mit Krawatte und Anzug arbeitet, ist das auch okay. Aber ich lebe das anders vor, und ich glaube auch, wir sollten in Deutschland den allgemeinen Zwang zum Siezen abschaffen.

WIRED: Warum?
Jungwirth: Ich finde es einfach wenig hilfreich, gerade im Arbeitsumfeld. Wenn ein Vorgesetzter einem Teil seines Teams das Du anbietet und den anderen nicht – das geht doch nicht. Da finde ich die amerikanische Art, sich konsequent zu duzen und beim Vornamen anzusprechen, weit angenehmer. Die Hürden verschwinden, und trotzdem respektiert man sich.

Wir erleben gerade so etwas wie die Neuerfindung des Automobils

Johann Jungwirth

WIRED: Heißt das auch, dass in deinem Team alle Probleme offen auf den Tisch kommen?
Jungwirth: Mein Motto ist: Hey, wir können was bewegen! Wenn etwas nicht in Ordnung ist, können wir es verändern, können überlegen, ob es nicht eine bessere Lösung gibt. Im Valley stellt man sich ganz oft die Frage: What is the right thing to do? Und zwar aus Sicht der Kunden.

WIRED: Warum ist das so wichtig?
Jungwirth: Wir erleben gerade so etwas wie die Neuerfindung des Automobils. Wir hatten jetzt 130 Jahre lang vorwiegend evolutionäre Schritte in den Innovationen, und jetzt kommt ein exponentieller Sprung. Darauf müssen wir reagieren.

WIRED: Wie genau sieht dieser Sprung aus?
Jungwirth: Es gibt eine Welle der Disruption, die von unterschiedlichen Seiten zugleich die Automobil-Industrie erfasst. Da ist der Wechsel vom Verbrennungsmotor zur Elektromobilität. Aber auch zu Autos, die sich selber steuern. Und als Drittes das Spannungsfeld zwischen Besitzen und Bestellen – also der Unterschied zwischen Shared Mobility, dem Nutzen auf Abruf, und Owned Mobility, dem Auto, das in der eigenen Garage steht. Dieses Zusammentreffen so gewaltiger Veränderungen ist einmalig. Ich finde es phänomenal, daran teilhaben zu dürfen, das auch mit beeinflussen, steuern, gestalten zu dürfen.

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WIRED: Beschreib mal den VW von übermorgen.
Jungwirth: Er ist voll vernetzt, voll elektrisch, voll autonom, und steht mir immer so zur Verfügung, wie ich das gerade wünsche – sei es, indem ich das Auto über mein Smartphone rufe, oder mein VW kennt meinen Kalender und weiß, wann ich los will. Dann fährt er vor, ich steige ein und lasse mich von A nach B bringen.

WIRED: Das funktioniert mit einem VW Polo genauso wie mit einem Bentley?
Jungwirth: Natürlich. Da sehe ich einen riesigen Wettbewerbsvorteil für uns als Konzern. Dieses selbstfahrende System wird zum Herzen des Automobils im 21. Jahrhundert – und wir müssen es nur einmal entwickeln. Dann können wir es in alle Marken integrieren, auch über verschiedene Produktkategorien hinweg: von den autonomen Citymobilen bis hin zu Lkw und Bussen.

WIRED: Wem gehören diese Fahrzeuge? Wird VW zum Service?
Jungwirth: VW wandelt sich vom Automobilhersteller zu einem weltweit führenden Anbieter nachhaltiger Mobilität. Dementsprechend werden wir Mobilität on demand anbieten. Deshalb auch unsere Investition von 300 Millionen Dollar in den Ridesharing-Dienst Gett, für den wir große Wachstumspläne haben. Eines Tages wird es dann die Möglichkeit geben, Fahrzeuge verschiedener Art auf Knopfdruck zu buchen. Ich sehe das wie einen Schieberegler: links der Zweisitzer für die Stadtfahrt oder das Fahrzeug, das ich mit anderen teile, rechts der Audi oder der Porsche, wenn man sich mal etwas Besonderes leisten will.

Selbstfahrende Systeme werden mindestens so gut sein wie der Mensch

Johann Jungwirth

WIRED: Wer kauft dann noch? Und warum?
Jungwirth: Es wird nach wie vor viele Menschen geben, die sagen: Ich will mein Auto. Da möchte ich etwas drin liegen lassen können, das ist mein Eigentum. Auch Menschen mit Kindern werden großen Wert auf ein eigenes Auto legen. Das geht mir selber so. Wir haben drei Kinder, das jüngste gerade ein Jahr alt. Die anderen beiden sind drei und fünf. Da bleibt der Kinderwagen im Auto, den will man nicht ständig raus und rein nehmen.

WIRED: Werden deine Kinder noch einen Führerschein machen müssen?
Jungwirth: Wenn sie wollen, na klar. Ich bin der Überzeugung, dass selbstfahrende Systeme mindestens so gut sein werden wie der Mensch. Im Grunde fährt so ein Auto in Zukunft mit 20 Augen, die alles sehen, Tag und Nacht. Es ist ausgestattet mit 360-Grad-Laser, Kameras, Radar. Es kann in Millisekunden reagieren. Schrecksekunden wie beim Menschen gibt es nicht. Das System trinkt auch keinen Alkohol, nimmt keine Drogen, schläft nicht am Steuer ein.

WIRED: Aber sieht man nicht an Unfällen wie bei Tesla im Frühjahr, dass zu viel Vertrauen in solche Visionen tödlich sein kann?
Jungwirth: Diese selbstfahrenden Systeme sind noch in der Entwicklung, keine Frage. Die heutigen Fahrzeuge haben nur Assistenzsysteme an Bord. Sie werden jeden Tag besser, und langfristig werden autonome Fahrzeuge übermenschliche Fähigkeiten besitzen – schon deshalb, weil ihnen auch das Wissen aller anderen Autos zur Verfügung stehen wird.

WIRED: Viele Autofans lieben ja genau das Spiel mit den Pedalen. Die gehen euch verloren?
Jungwirth: Nein. Ich glaube, die werden sich sehr, sehr gut in dieser Zukunft wiederfinden. Vollautonome Sportwagen etwa werden den Menschen weiterhin das Feeling geben, sportlich gefahren zu werden. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass man in Zukunft über einen Dynamikregler einstellen kann, mit welchem Stil das Auto fahren soll. Wichtig ist vor allem, dass man alles selber bestimmen kann. Und es wird sicher auch weiterhin Autos geben, die optional mit Lenkrad und Pedalerie bestellt werden können.

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WIRED: Das Lenkrad als Extra? Klingt seltsam.
Jungwirth: Wir haben durch selbstfahrende Systeme die Chance, komplett neue Fahrzeugkonzepte zu entwickeln. Das ganze Cockpit mit Instrumententafel, Lenkrad und Pedalerie fällt weg – und damit auch die Orientierung zur Fahrtrichtung. Ich kann es kaum erwarten, dass wir in den nächsten drei bis fünf Jahren die ersten selbstfahrenden Fahrzeuge auf den Markt bringen und dann anfangen, diese Konzepte umzusetzen.

WIRED: Sehr ehrgeizig, oder? Schon deshalb, weil der Gesetzgeber längst nicht an dem Punkt ist, so etwas zu erlauben.
Jungwirth: Das ist die Herausforderung. Deshalb appelliere ich an Deutschland und Europa: Wir dürfen nicht zurückfallen. Ich erwarte, dass die ersten Regionen
in den kommenden drei bis fünf Jahren bereit sein werden, die Grundbedingungen für autonomes Fahren zu schaffen – und es zeichnet sich bereits ab, dass die USA und China vorpreschen. Deshalb muss Europa sich anstrengen.

WIRED: Ist VW selbst schon so weit, in dieser Welt ganz vorn dabei sein zu können?
Jungwirth: Wir haben schon einiges vom Silicon-Valley-Spirit übernommen. Unser Digital Lab in Berlin entwickelt Software in mehreren agilen Teams, in München beschäftigen wir mehr als 40 Experten für künstliche Intelligenz, und wir haben viele Mitarbeiter, die Erfahrung und Wissen zum autonomen Fahren mitbringen. Aber wir können sicher auch noch viel lernen – was Geschwindigkeit, das richtige Timing und auch unsere Ziele angeht. Also wirklich zu sagen: Dieses nächste Produkt muss zehn Mal besser sein als das der Konkurrenz, nicht nur zehn Prozent besser.

WIRED: Wie kommst du heute ins Büro?
Jungwirth: Mit einem E-Golf. Ich bin ein großer Fan der Elektromobilität. Schon während meiner Apple-Zeit bin ich E-Fahrzeuge gefahren. Für mich gibt es keinen Weg mehr zurück. Es ist einfach viel bequemer, es macht viel mehr Spaß – leise und dann mit der Power, mit dem Drehmoment aus dem Stand weg!

WIRED: Hat Wolfsburg dem Silicon Valley etwas voraus?
Jungwirth: Wir haben die Hardware-Entwicklung perfektioniert. Qualität, Design, Sicherheit, Zuverlässigkeit, Präzision in der Produktion – das sind unsere Stärken, das macht uns so schnell keiner nach. Jetzt müssen wir schauen, dass wir bei Software und Services auf das gleiche Niveau kommen. Dann wird es eine sehr gute Zukunft für uns geben.

Dieser Artikel erschien zuerst im UNIKAT-Magazin von Condé Nast.

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