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„Das Motorrad der Zukunft ist digital, aber raucht und schnauft“

von Max Biederbeck
Die Autobranche plant längst, den Menschen vom Steuer zu entfernen. Aber wie sieht es auf dem Motorrad aus? Und welches Design brauchen wir insgesamt für den Verkehr von morgen? Darüber haben wir mit Edgar Heinrich gesprochen, dem Chefdesigner von BMW Motorrad.

In den vergangenen fünf Monaten sind WIRED-Reporter durch Deutschland gereist, um herauszufinden, wie digital und innovativ dieses Land wirklich ist. Wir waren in schwäbischen Kleinstädten, im Rheinland, in Hamburg, Berlin und München. Edgar Heinrich ist einer der Menschen, mit denen wir dabei gesprochen haben. Die Ergebnisse unserer Reise lest ihr ab Dienstag, 6. Dezember 2016, in der neuen WIRED-Ausgabe.

Normalerweise arbeitet Edgar Heinrich genau fünf Jahre in der Zukunft. Was heute auf der Straße fährt oder auf den Messen steht, sei „alter Kram“, sagt der Chefdesigner von BMW Motorrad. Zum hundertsten Geburtstag seines Arbeitgebers reichten selbst diese fünf Jahre aber nicht mehr aus. Heinrich sollte noch weiter nach vorne schauen, BMW wollte von ihm wissen: Wo geht die Design-Entwicklung in den nächsten 100 Jahren hin? Wie sehen etwa Motorräder 2030 aus?

Diese Fragen sind Teil der Vision Next 100 des Unternehmens. Mit ihr will BMW Kunden und Konkurrenten weltweit von seiner Innovationskraft überzeugen. Neben dem Motorrad der Zukunft stellte das Unternehmen auch neue Konzepte der Kernmarke vor, von Rolls Royce und von Mini. Hinter den Kulissen wächst der Druck zur Digitalisierung auf den Autohersteller. Aber Digitalisierung hat eben nicht nur mit Software zu tun, sondern auch mit dem richtigen Design.

Heinrich und seine Abteilung stellen deshalb die Außenseiterfrage: Alle reden von autonomem Fahren, aber kann das auch für Motorrad-Fans eine Lösung sein? Wo wird die Grenze verlaufen zwischen Spaß auf der einen Seite und Kontrolle und Ordnung auf der anderen? WIRED hat mit Heinrich darüber gesprochen, wie kluges Design Künstliche Intelligenz verstecken kann – und wie ein digitales Produkt den perfekten Geschwindigkeitsrausch auslösen soll.

WIRED: Herr Heinrich, was denken Sie, werden die harten Hells-Angels-Biker von morgen Datenbrillen wie die HoloLens von Microsoft tragen?
Edgar Heinrich: Warum nicht? In 30 Jahren vielleicht. Es kann ja auch eine Ray-Ban-Datenbrille sein, die modisch aussieht.

WIRED: Na gut, aber ein Rocker wird sein Motorrad doch nicht von einem Computer fahren lassen, oder?
Heinrich: Wir haben uns im Team die gleiche Frage gestellt, wir sind ja selbst alle Motorradfahrer. Kein einziger von uns würde sagen: Ich setze mich jetzt aufs Bike, und das fährt mich irgendwo hin. Nein, wir glauben: Autonomes Motorradfahren ergibt überhaupt keinen Sinn.

Autonomes Motorradfahren ergibt überhaupt keinen Sinn

Edgar Heinrich

WIRED: Gut organisierter Verkehr, viel Platz auf den Straßen, keine Unfälle. Schnell und einfach. Das alles ergibt keinen Sinn?
Heinrich: Motorradfahren ist eines der analogsten und emotionalsten Erlebnisse, die man haben kann. Als würde man ein Pferd reiten. Ich setze mich drauf, fliege 20 Zentimeter über dem Asphalt dahin, spüre die Elemente, die Vibrationen und wenn ich nur leicht am Zügel beziehungsweise Lenker ziehe, dirigiere ich die Maschine.

WIRED: Romantisch, aber das Pferd tritt ja auch gerne mal aus, wirft seinen Reiter ab oder kracht in ein anderes Tier.
Heinrich: Aber das kann auf dem Motorrad nicht passieren, gerade wegen dessen intelligentem Design. Fahrer sind noch immer völlig vernetzt. Erstens bleibt die Maschine Teil eines intelligenten Umfelds, zweitens steckt im Motorrad trotzdem die nötige Technologie, um Unfälle zu verhindern.

WIRED: Sie meinen, selbst wenn der Fahrer einen Fehler macht, bleibt der restliche Verkehr zum Glück von Computern gesteuert. Die Autos passen schön auf, nur der Motorradfahrer behält Narrenfreiheit?
Heinrich: Es wird immer Komponenten im System geben, die nicht am Netz hängen. Das Reh, das auf die Straße springt, oder der Oldtimer, der durch die Gegend tuckert. Der vernetzte Verkehr der Zukunft muss diese Dinge trotzdem erkennen. Das Problem wird es so oder so geben.

WIRED: Haben Sie als Designer eine Lösung?
Heinrich: Nach meiner Vorstellung sollte es unterschiedliche Level geben. So etwas wie eine Autobahn, auf der man nur vernetzt fahren darf. Da darf der Oldtimer dann nicht drauf. Am anderen Ende steht das Bergsträßchen dritter oder vierter Ordnung, wo der Fahrer sogar am Steuer bleiben muss. Vielleicht werden die Versicherungen auch Vorgaben machen: Falls man beispielsweise alleine fahren möchte, kostet der Kilometer eben zehnmal mehr. Das sind alles Systemgrößen, die noch nicht so recht fassbar sind. Eben nicht nur für die Auto- sondern auch für die gesamte Versicherungs-, TÜV und sekundär Industrie.

Es sollte unterschiedliche Level geben, etwa eine Autobahn, auf der man nur vernetzt fahren darf

Edgar Heinrich

WIRED: Und Ihre Lösung zum Thema Motorrad?
Heinrich: Wir stellten uns die Frage: Wie werden wir selbst fahren wollen? Das hört sich ein wenig einfach an, aber wir wollten trotz Vernetzung einfach loslegen können und frei sein. Idealerweise auch ohne diese „Ritterrüstung“, die ich heute brauche. Ich will im Grunde Motorradfahren wie früher der Franz Josef Strauß im Kapi, oder so wie mein Großvater. Das wäre doch eigentlich super.

WIRED: Da draußen gibt es Maschinen mit über 100 PS und sie wollen die Helme abschaffen?
Heinrich: Nicht fünf PS oder zehn PS mehr und zwei Kilo weniger machen den Unterschied, sondern mein Erlebnis. Im Englischen würde man sagen „don’t be fast, but feel fast“. Solange ich nicht auf der Rennstrecke bin, ist das Gefühl viel wichtiger als die tatsächliche Performance. Ich kann mich viel schneller und freier fühlen, wenn ich mit 50 ohne Helm fahre und den Fahrtwind von 50 km/h fühle, das kann viel intensiver sein, als wenn ich mit Helm 150 fahre. Intelligente Maschinen werden das möglich machen.

WIRED: Moment mal. Also doch nur ein Freiheitsgefühl, aber keine echte Freiheit?
Heinrich: Der Fahrer darf alles selbst kontrollieren und nur wenn es zu einer kritischen Situation kommt, würde das Fahrzeug eingreifen. Quasi ein Notfall-Assistent.

WIRED: Sie verstecken also das autonome System im Design des Motorrads.
Der Biker soll gar nicht wissen, dass es da ist.
Heinrich: Ich glaube, so muss es sein. Anders ergibt es keinen Sinn. Wir haben keine Anzeigen und nichts mehr eingebaut. Informationen poppen nur dann auf, wenn ein Fahrer sie braucht. Wenn er wissen will, wie das Wetter wird oder wo der Kumpel steckt. Oder, wenn er die Geschwindigkeit überschreitet, dann wird die Information eingespielt, aber auch nur dann.

WIRED: Klingt nach extrem aufwendiger Technologie. Sie werden Ingenieure für Ihre Design-Ideen brauchen.
Heinrich: Es handelt sich ja bisher nur um eine Idee, sie ist natürlich noch nicht ausgereift – die Technik existiert aber. Wir wollten sie für ein optimales Bike rekombinieren: KI und Netzwerk im Hintergrund. Ein Gyroskop, mit dem die Maschine nicht mehr umkippen kann. Pneumatische Muskeln, die die klassischen Drehpunkte ablösen und organische Lenkung per Luftdruck möglich machen. All das gibt es, nur nicht im Motorrad. Ein Stück weit dürfen wir da auch spinnen, das war im Rahmen des Projektes sogar gewollt.

WIRED: Herausgekommen ist ein durchoptimierter, harmloser Freizeitspaß im Mad-Max-Chopper-Gewandt.
Heinrich: Es kommt auf das Gefühl an. Schauen Sie, wir haben heute schon so perfekte Motorräder. Deren Performance kann ja kaum noch jemand nutzen. Wenn Sie heute ein Motorrad mit 200 PS und 180 Kilo haben, wer kann denn das außerhalb der Rennstrecke noch ausfahren? Nein, unsere Idee funktioniert anders: Das Bike bleibt ein cooles Ding – das einen digitalen Backbone hat und trotzdem raucht und keucht und schnauft.

WIRED: Aber was ist zum Beispiel mit all den Customizern da draußen, die gern selbst Hand an die Maschine legen? Können die noch mitreden, wenn Design und Technologie so stark verschmelzen?
Heinrich: Das Thema Customizing spielt eine große Rolle, nicht nur in der Szene, auch wir machen das schon lange. Bald wird dieser Bereich durch 3D-Drucker und Fräsen in den Mainstream überschwappen.

WIRED: Und was ist, wenn die ersten Programmierer die Software der Künstlichen Intelligenz frisieren oder die Sicherheitssysteme der Motoren?
Heinrich: Das war am Anfang tatsächlich die große Befürchtung, dass wir das perfekte Motorrad bauen und dann andere anfangen, daran herumzuschrauben. Ein naheliegender Reflex, aber man kann diesen Gedanken ja mal durchspielen: Systeme für Fahrsicherheit können so konstruiert werden, dass sie niemand so leicht verändern kann. Alles andere könnte sogar ein Geschäftsmodell sein: ob das Motorrad einen roten, grauen oder gefliesten Tank hat, oder welche Programme darauf laufen.

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