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„Wir leben bald in einer Welt der Autokraten“

von Max Biederbeck
Das wichtigste Ziel für Regierungshacker sind nicht andere Staaten, sondern das eigene Volk, sagt Ron Deibert. WIRED traf den Leiter des Citizen Lab der University of Toronto auf der RightsCon-Konferenz in Brüssel zum Gespräch über die neusten Trends in der Überwachungstechnologie.

Eigentlich wollte Ron Deibert in Brüssel den Wahlkampfleiter von Putin-Konkurrent Alexej Nawalny treffen. Der IT-Sicherheits-Experte und Professor aus Kanada hätte mit dem russischen Oppositionellen gern über Überwachung gesprochen. Doch Nawalnys Mann kam nicht zur RightsCon-Konferenz. Die russischen Behörden nahmen ihn am Sonntag fest, weil er die landesweiten Massenproteste online angefeuert haben soll.

Solchen Festnahmen gehen normalerweise gezielte Abhörangriffe auf die Computer von Aktivisten voraus, weiß Deibert. Er ist der Leiter des Citizen Lab der University of Toronto. Seit 2001 ist dieses die weltweit wichtigste Schnittstelle zwischen IT-Sicherheitsforschung und Bürgerrechts-Aktivismus. Deibert und sein Team beraten Organisationen und Menschenrechtler auf der ganzen Welt. Sie erforschen Trends in der Bedrohungslage und decken Sicherheitslücken auf, jüngst etwa im iPhone.

Mit WIRED sprach Deibert über die neusten Entwicklungen bei Hacking und Überwachung, über die Methoden von Russland und China – und über den Versuch, mithilfe von staatlichen Hackern die eigene Bevölkerung zu kontrollieren.

WIRED: Ron, man hat das Gefühl, die Welt wird unfreier. Erkennst du neue Trends in der Überwachung?
Ron Deibert: Ja, wir verbinden uns digital mit einer solchen Geschwindigkeit, dass wir uns bei weitem nicht mehr schützen können. Die Ökosysteme verändern sich andauernd, es gibt so viele Apps, Standards und Protokolle – da kommt der einfache Mensch von der Straße nicht mehr mit. Er ist andauernd gefährdet, allein aufgrund der Technologie selbst. Und es wird immer schlimmer.

WIRED: Inwiefern?
Ron Deibert: Das Internet der Dinge kommt dazu, überall hinterlässt man seine Daten. Es gibt einen neuen Angriffsvektor nach dem anderen. Die meisten Organisationen können sich nicht länger vor Angriffen schützen, ich meine damit NGOs und Journalisten. Das einzige Wissen, dass sie haben, ähnelt Volksweisheiten. Manche sagen: Hey, lasst uns doch Signal benutzen. Darüber hinaus bleibt es gefährlich ungenau.

WIRED: Und die Angreifer sind wirklich so gefährlich?
Deibert: Das bringt mich zum zweiten Trend: Der Autoritarismus kehrt in die Welt zurück, vielleicht mit Ausnahme von Kanada und Deutschland. Überall nimmt der Trend zu korrupten und autokratischen Regierungen zu. Sowieso lebt ein Großteil der Internet-Bevölkerung in Gesellschaften ohne Demokratie. Wir müssen eine Sache verstehen: Beim Thema Hacking ist der Feind in diesen Ländern nicht ein anderer Staat sondern der eigene.

WIRED: Na ja, die Russen sollen gerade eine ganze US-Wahl gehackt haben. Es gab auch neue Angriffe auf den Bundestag in Deutschland.
Deibert: Klar, aber die eigentliche Bedrohung für Putin kommt aus den eigenen Reihen. Das haben wir bei den Demonstrationen am Wochenende gesehen. Wenn es dem Kreml um Sicherheit geht, wiegt die eigene Zivilgesellschaft schwerer als andere Regierungen. Er braucht hier die Kontrolle.

WIRED: Die scheint er ja nicht zu haben, wenn die Russen in solchen Massen auf die Straße gehen.
Deibert: Das ist die Natur des Menschen, man wird ihn nie in Gänze kontrollieren. Ich sehe aber besorgniserregende Entwicklungen. Noch vor zehn Jahren schaltete man das Internet nur unter außergewöhnlichen Bedingungen ab. Heute ist das normal geworden, heute ist Massenüberwachung normal geworden, gezielte Überwachung und der Einsatz von Spionagesoftware sind normal geworden.

WikiLeaks hat die Öffentlichkeit im Stich gelassen

Ron Deibert

WIRED: Und nur Staaten können sich solche Spyware leisten.
Deibert: Das ist der dritte Trend. Weil sich Verschlüsselung, man denke an WhatsApp, immer mehr durchsetzt, brechen staatliche Behörden immer öfter in die Endgeräte ein. Dazu kaufen oder entwickeln sie Überwachungstechnologien und Sicherheitslücken. Drumherum hat sich ein sehr profitabler Markt entwickelt.

WIRED: Und ein gefährliches Wettrüsten, bei dem man Sicherheitslücken gezielt für sich behält, um sie einzusetzen. Die Folge ist ein Internet voller offener Hintertüren.
Deibert: Der Begriff Wettrüsten passt nur begrenzt. Ein Wettrüsten läuft typischerweise zwischen zwei Staaten ab. Beim Thema Spyware gibt es zahlreiche Spieler und sie alle folgen einer Marktlogik. Anbieter entwickeln Produkte für Machthaber, die in die Geräte ihrer Bevölkerung einbrechen wollen. Diese Daten müssen sie verarbeiten und verstehen, also brauchen sie noch mehr Technologie. Das macht einige Entwickler sehr reich. Man muss das mal so sehen: Auch Unternehmen, auf die wir uns verlassen – Apple, Google, Twitter – das sind im Grunde alles Überwachungsdienste.  

WIRED: Jetzt mal nicht übertreiben. Google ist doch sogar Mitveranstalter der RightsCon, einer Veranstaltung für Bürgerrechte. Oder macht uns das Unternehmen nur etwas vor?
Deibert: Ein Unternehmen tut Dinge deshalb, weil eine Marktlogik dahintersteckt. Google will Teil der Bürgerrechtsdiskussion sein, weil es über bestimmte Aspekte von Internetrechten reden möchte. Das Unternehmen will, dass der Zugang zum Netz offen bleibt. Auch Zensur schadet seinem Geschäftsmodell.

WIRED: Aber Moral gibt es vermutlich auch im Silicon Valley.
Deibert: Richtig, ich will auch keinen Stereotypen aus so einer komplizierten Firma wie Google machen. Es gibt dort viele Leute, die Technologie lieben und denen Menschenrechte sehr wichtig sind. Aber noch einmal: Der Markt wird von einigen wenigen riesigen Spielern dominiert, denen wir alle unsere Informationen anvertrauen. Das ist brandgefährlich.

WIRED: Nicht, solange sie die Informationen sicher verwahren, oder?
Deibert: Schau mal nach China, zu Unternehmen wie Baidu oder Alibaba. Vergangenen Monat haben wir einen Report zu WeChat veröffentlicht. Die haben rund 860 Millionen User, mehr als das zehnfache der deutschen Bevölkerung. Das Unternehmen muss per Gesetz seine Informationen mit den Behörden teilen.

WIRED: Eine solche Verschränkung zwischen Staat und Unternehmen gibt es in dieser Form im Westen aber nicht.
Deibert: Du musst im Hinterkopf behalten, dass ein System nur eine Vorlage ist. Und wie jede Vorlage kann man sie übernehmen. Besonders, seitdem China angefangen hat, seine Herangehensweise an Technologie zu exportieren. Der Westen ist im Vergleich zum Rest der Welt winzig, bald werden wir in einer Welt der Autokraten leben.

WIRED: Also, was sollen wir tun?
Deibert: Erstens müssen wir uns diese autokratischen Staaten anschauen und die Entwicklung beobachten. Wir beim Citizen Lab betrachten China ja nicht, weil wir etwas gegen das Land haben, sondern weil wir damit in die Zukunft schauen. Zweitens ist aber auch der kritische Blick in die eigenen Länder wichtig.

Don't panic – und schaltet die Zwei-Faktor-Authentifizierung ein!

WIRED: Zum Beispiel?
Deibert: Ich wurde in Kanada gefragt, ob ich der Freedom Internet Coalition vorsitzen will. Ein Zusammenschluss aus 35 Ländern, die Normen für die Freiheit im Netz durchsetzen wollen. Darunter sind Deutschland, die USA und Kanada. Das sah auf dem Papier super aus. Es sollte keine Hintertüren in Programmen geben, der Einzelne sollte geschützt sein und so weiter. Ich sah mir diese Prinzipien an und mir wurde klar: Mein eigener Staat bricht sie andauernd. Also trat ich wieder zurück. Solange wir das nicht hinbekommen, brauchen wir gar nicht nach China zu schauen.

WIRED: Wie können wir es aber hinbekommen?
Deibert: Dank mehrerer Zwischenfälle, unter anderem den Vault-7-Leaks, verstehen die Leute langsam, dass Behörden nach Belieben in ihre Geräte einbrechen können. Wir brauchen jetzt eine sinnvolle Kontrolle der Geheimdienste. In manchen Ländern funktioniert das schon ganz gut, in Kanada zum Beispiel aber überhaupt nicht. Gesellschaften müssen sich fragen, gibt es genug unabhängige Behörden, die den Diensten auf die Finger klopfen.

WIRED: Die Vault-7-Informationen kamen von WikiLeaks, keine sehr glaubwürdige Quelle, oder?
Deibert: Ich glaube, WikiLeaks hat die Öffentlichkeit im Stich gelassen. Ich bin sehr enttäuscht. Dieses Unvermögen, die Folgen für Privatmenschen abzusehen, wenn man einfach so ungefiltert Informationen veröffentlicht, das kann ich nicht nachvollziehen. Außerdem wird die Plattform, auch wenn das nicht ganz sicher ist, von Geheimdiensten instrumentalisiert. WikiLeaks sollte eigentlich einem höheren Standard folgen.

WIRED: Die Plattform ist doch ein gutes Beispiel dafür, dass etwa Russland versucht, andere Staaten zu manipulieren.
Deibert: Mit gefälschten Informationen und psychologischen Angriffen auf die Bevölkerung, ja. Das haben wir bei den US-Wahlen zum ersten Mal gesehen. Man kann den Politikern und den Wählern eigentlich nur raten: Don't panic – und schaltet die Zwei-Faktor-Authentifizierung ein!

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