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Top-Wissenschaftlerin rät belästigten Akademikerinnen: „Dokumentiert alles, löscht nichts“

von Anna Schughart
Hope Jahren gehört zu den besten Wissenschaftlerinnen ihres Fachs. Doch erst seit sich die Geobiologin gegen die Diskriminierung und sexuelle Belästigung von Frauen in der Wissenschaft einsetzt, sagt sie: „Ich mache endlich meinen Job.“ Im WIRED-Interview erzählt die Autorin, Bloggerin und Forscherin, wie sie zu ihrem Engagement kam und welchen Herausforderungen sich Frauen in der Wissenschaft stellen müssen.

Hope Jahren liebt die Wissenschaft. Die amerikanische Geobiologin fühlt sich im Labor genau am richtigen Ort. Trotzdem – oder gerade deshalb – gehört sie zu den schärfsten Kritikerinnen der akademischen Kultur. Jahren kämpft gegen sexuelle Belästigung und Diskriminierung von Frauen in der Wissenschaft. Die sei sehr präsent, sagt sie. Und natürlich sei auch sie schon davon betroffen gewegen.

Auf ihrem Blog schreibt die Geobiologin über ihre Erfahrungen (zum Beispiel darüber, wie es sich anfühlt, aus Versehen eine E-Mail zu bekommen, in der die eigene Arbeit von einem Kollegen als „erbärmlich“ bezeichnet wird), gibt Tipps („six things you can do when people say stupid sexist shit to you“) und erzählt, warum sie sich mit der Zeitschrift Nature angelegt hat. Im April erschien ihr Buch Lab Girl auf Englisch. Es ist gleichermaßen eine Autobiografie und ein wissenschaftliches Werk. 2016 wählte das Time Magazine Jahren zu einer der 100 einflussreichsten Personen, weil sie nicht nur eine hervorragende Wissenschaftlerin sei, sondern auch eine sehr gute Schreiberin.

Jahren gehört zu den Besten in ihrem Fachs und hat unter anderem drei Fulbright Awards und weitere hohe Auszeichnungen gewonnen. Zurzeit arbeitet sie an der Universität von Hawaii.

WIRED: Was ist der Unterschied zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mann, die beide eine wissenschaftliche Karriere anstreben?
Hope Jahren: Außer den Chromosomen? Sie werden sich unterschiedlichen Herausforderungen stellen müssen. Ein Leben in der Wissenschaft trennt dich als Frau von anderen Frauen. Das ist einer der eher melancholischen Fakten in meinem Leben.

WIRED: Wie meinen Sie das?
Jahren: Ich war ein Mädchen, das Spaß daran hatte, die Haare meiner Freundinnen zu flechten, ich konnte nähen und kochen und war begeistert, wenn ich ein neues Kleid bekam. Aber als ich begann, meinen wissenschaftlichen Interessen nachzugehen, hat mich das aus dieser Welt entfernt.

Je weiter man in der Karriere voranschreitet, desto geringer wird die Zahl der Frauen

WIRED: Warum kann man als Wissenschaftlerin nicht auch die so genannten „Mädchensachen“ mögen?
Jahren: Kann man natürlich, aber ich befand mich in Räumen, in denen zunehmend weniger Frauen waren. Das gilt auch heute noch: Wenn man sich die Statistiken anschaut, dann sieht man: Je weiter man in der Karriere voranschreitet, desto geringer wird die Zahl der Frauen. Das fühlt sich an wie eine Reise weg von deinem Selbst. Mit dem Titel meines Buches, Lab Girl, wollte ich diesen Teil von mir wiedergewinnen.

WIRED: Weil Sie sich anpassen mussten?
Jahren: Ich wusste, dass erfolgreich arbeiten zu können, oft sehr abhängig von meiner Fähigkeit war, die Dinge zu minimieren, die mich von anderen unterschieden. Und gleichzeitig hatte ich nie die Option, wirklich hineinzupassen. Ich würde nie der „Herr Professor“ werden, der mit seinem Bart, der Pfeife und seinem Jackett über den Campus spaziert. Egal, wie hart ich arbeitete. Also musste ich mir jeden Tag die Frage stellen: Warum tust du das?

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WIRED: Und die Antwort lautete?
Jahren: Ich hatte keine Alternative. Was hätte ich sonst tun sollen? Vielleicht ist das nur in den USA so, aber damals war man mit 18 Jahren für sich selbst verantwortlich und musste ab sofort seine eigenen Rechnungen bezahlen. Ich hatte einen einzigen Freund und der lebte in einem Auto. Aber ich liebe die Wissenschaft! Also haben wir beide hart gearbeitet und Dreck gefressen. Und wir waren glücklich. Das Einzige, wovor ich Angst hatte, war, dass alles aufhören könnte.

Frauen werden im Labor und auch im Feld angegriffen

WIRED: Sie sagen also, dass die Wissenschaft für Frauen nicht einladend ist?
Jahren: Es gibt Bereiche, die sind für Frauen nicht sicher. All die speziellen Gefahren, die es mit sich bringt, im Körper einer Frau zu leben, stoppen nicht einfach an der Tür zum Labor. Frauen werden im Labor und auch im Feld angegriffen.

WIRED: Was genau sind diese Gefahren?
Jahren: Im Grunde läuft es auf drei Problemfelder hinaus: häusliche vs. außerhäusliche Arbeit, sexuelle Gewalt und Reproduktionsrechte. In der Wissenschaft stellt sich die Frage, wie viel Frauen verdienen und welche Jobs sie machen. In der Wissenschaft müssen Frauen ihre Fruchtbarkeit und ihre Arbeit verhandeln. Und in der Wissenschaft gibt es auch sexuelle Gewalt – von Diskriminierung und Belästigung bis hin zum Mord.

WIRED: Erwarten wir fälschlicherweise, dass die Wissenschaft frei von diesen Problemen ist, weil sie sich so sehr auf allgemeine, rationale Prinzipien beruft?
Jahren: Ja, das ist genau das Problem. Aus irgendwelchen Gründen glauben wir, dass die Wissenschaft anders sein sollte. Dass sie frei von der grundlegenden Realität ist, die sich aus der kulturell gelernten, fundamentalen Machtungleichheit zwischen Männern und Frauen ergibt. Alles, was ich getan habe, ist zu zeigen, dass auch die Wissenschaft diesen Phänomenen unterliegt. Dann wurde es kontrovers.

Ich habe mehr Möglichkeiten als meine Großmutter, aber hoffentlich wird meine Enkelin noch mehr haben

WIRED: Können die Prinzipien, auf die die Wissenschaft so stolz ist, nicht auch etwas dazu beitragen, das Problem zu lösen?
Jahren: Das Spannende an der akademischen Welt ist, dass sie gerade so idealistisch genug ist, um Regeln aufzustellen. Es gibt an meiner Universität genaue Vorschriften, wie man mich behandeln darf. Die Herausforderung besteht darin, diesen Schutz tatsächlich auch zu nutzen. So oder so: Die Welt verändert sich, wir sind Teil eines langen Kampfs. Ich habe viel mehr Möglichkeiten als meine Großmutter, aber hoffentlich wird meine Enkelin noch mehr haben.

WIRED: Wieso haben Sie beschlossen, sich aktiv gegen Diskriminierung und sexuelle Belästigung einzusetzen?
Jahren: Es gab da einen entscheidenden Moment. Ich lief über den Campus der Universität und dort fand eine Studentendemonstration statt. Man muss dazu sagen: Die Universität von Hawaii ist nicht weit weg vom Strand, deshalb sind die Studenten und Studentinnen oft für den Strand gekleidet. Ich kam also an dieser Demonstration vorbei und plötzlich sagte einer der Männer zu einer Studentin, mit der er diskutiert hatte: „Du Hure, halt die Fresse!“ und weitere furchtbare Dinge. Mir war klar, was da passierte. Ich wusste, dass sie eine intellektuelle Auseinandersetzung hatten und er auf seine kulturell erlernte Frauenfeindlichkeit zurückfiel, um sie dafür zu bestrafen, ihren weiblichen Körper zu zeigen.

WIRED: Was haben Sie getan?
Jahren: Ich wusste, was das Richtige gewesen wäre. Ich wusste, dass ich hätte einschreiten und sagen sollen: „Du kannst nicht so mit ihr reden.“ Aber ich habe es nicht getan, weil ich Angst hatte. Er war groß und ich bin keine große Person. Ich bin zurück in mein Büro gegangen und saß eine lange Zeit dort und habe versucht, wieder zur Arbeit zurückzukehren. Und dann habe ich mich gefragt: Welchen Sinn hat es, ein eigenes Labor zu haben, eine Stelle, Preise und Forschungsgelder, welchen Sinn hat es, Erfolg zu haben, wenn ich an so etwas Grundlegendem scheitere? Darüber habe ich wochenlang nachgedacht.

Ich glaube nicht, dass ich etwas Besonderes tue, ich mache nur endlich meinen Job

WIRED: Mit welchem Ergebnis?
Jahren: Körperlich konnte in in diesem Fall nicht kämpfen. Aber ich kann gut schreiben, es fällt mir leicht. Also kann ich so vielleicht etas erreichen. Und wenn das so ist, dann sollte ich das tun. Ich glaube nicht, dass ich etwas Besonderes tue, ich mache nur endlich meinen Job.

WIRED: Wenn Sie Interviews geben, geht es oft – wie in diesem – nicht mehr um Ihre wissenschaftliche Arbeit. Nervt Sie das?
Jahren: Sollte es?

WIRED: Es gibt einige Frauen, die nicht über sich als „Frau in der Wissenschaft“ sprechen wollen, sondern lieber über ihre Forschung.
Jahren: Ich verstehe dieses Argument nicht. Wenn jemand deine wissenschaftliche Arbeit nicht ernst nimmt, kannst du ihn nicht dazu zwingen. Außerdem habe ich das Gefühl, diesen Kampf bereits schon gewonnen zu haben, ich habe den Preis schon erhalten: Ich durfte meine Arbeit machen, es hat Spaß gemacht, ich habe mit meinem besten Freund zusammengearbeitet und wir haben alles zusammengehalten, auch als wir kein Geld hatten. Es wäre falsch zu sagen, mich interessiert es nicht, ob andere Menschen meine Forschungsarbeit gut finden. Aber ich kann ehrlich sagen: Wir haben sie nicht gemacht, um damit Preise zu gewinnen.

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WIRED: Also hat Ihr Engagement keine negativen Seiten?
Jahren: Manche Menschen fragen mich: Hast du keine Angst? Gibt es nicht die Gefahr, dass du in einer Schublade mit der Aufschrift „Opfer“ landest? Ich denke dann immer: Warum willst du, dass ich mich fürchte? Mir sind schlimme Dinge zugestoßen. Angst zu haben, hat mich davor nicht bewahrt. Ich habe mehr Angst davor, dass ich meine Karriere beende, ohne diese Dinge angesprochen zu haben. Ich habe Angst vor Momenten wie dem auf dem Campus, wo es meine Aufgabe gewesen wäre, etwas zu sagen, und ich es nicht tat. Ich tue mein Bestes, aber ich habe Angst. Und ich bekomme viele E-Mails, die nicht wirklich nett sind.

WIRED: Sie werden für das, was Sie sagen, attackiert?
Jahren: Ja, ich bekomme E-Mails, von Leuten, die beschreiben, wie sie mich vergewaltigen wollen.

Jeder hat Anspruch auf eine sichere Arbeitsumgebung. Es ist nicht anti-wissenschaftlich, das zu verlangen

WIRED: Wie reagieren Sie darauf?
Jahren: Ich spreche offen aus, dass es passiert. Ich sage offen, dass es mich stark beschäftigt. Ich manage meine Angst. Das ist es, was Frauen tun. Sie managen ihre Angst, sie überlegen zum Beispiel, wo sie Ihr Auto parken oder welche U-Bahn sie nehmen.

WIRED: Studentinnen oder Doktorandinnen wenden sich per E-Mail an Sie und bitten um Hilfe, wenn ihnen zum Beispiel ein Vorgesetzter unangemessene E-Mails schreibt. Was raten Sie ihnen?
Jahren: Dokumentiert alles. Löscht es nicht, sondern druckt es aus. Sie werden euch später fragen, was ihr getan habt. Wisst, wie beschützt ihr seid. Die meisten Studentinnen wissen nicht, wie die Regularien zur sexuellen Belästigung aussehen, welchen Schutz es gibt.

WIRED: Können Sie es verstehen, wenn Frauen mit all dem nicht umgehen wollen und ihre wissenschaftliche Karriere beenden?
Jahren: Ja. Aber es gibt keinen magischen Ort, wo diese Probleme nicht existieren. Sie unterscheiden sich von Ort zu Ort, aber ich kenne Anwältinnen, Doktorinnen, Architektinnen oder Musikerinnen, die auch solche Geschichten erzählen. Ich denke, es ist gut, die Umstände der eigenen Arbeit zu bewerten und zu entscheiden, ob die positiven Seiten die negativen überwiegen. Ich liebe die Wissenschaft. Ich liebe sie so sehr, dass ich sie unter fast allen Umständen machen würde. Aber egal, wie sehr man seine Arbeit liebt, jeder hat Anspruch auf eine sichere Arbeitsumgebung und faire Kompensation. Es ist nicht anti-wissenschaftlich, das jeden Tag und für jeden zu verlangen. 

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