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Ars Electronica Berlin: Die digitale Paralleldimension sichtbar machen

von Christina zur Nedden
Der Mensch ist Teil der sogenannten ersten Natur, die es seit Beginn der Erde gibt. Technik ist entsprechend die von Menschen geschaffene zweite Natur – eine unsichtbare, uns stets begleitende Paralleldimension. Auf der „Ars Electronica Berlin“ machen Künstler diese Dimension in ihren Installationen sichtbar. Wir haben mit ihnen gesprochen.

Wie viel Mensch sind wir, wie viel Maschine? Diese Frage stellt sich nicht nur denjenigen mit Implantaten oder Prothesen. Kaum jemand in der westlichen Welt gestaltet seinen Alltag ohne die Hilfe von Technologie. „Mensch-Maschine“ heißt denn auch konsequent eine Ausstellung in Berlin, die sich dieses Phänomens annimmt. Die Schau ist ein Ableger eines der weltweit wichtigsten Medienkunstfestivals, der Ars Electronica, im österreichischen Linz: Im Drive. Volkswagen Group Forum stellen 14 Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt Werke aus, die die Grenzen zwischen Mensch und Maschine hinterfragen. Was passiert, wenn es keine klare Trennung mehr zwischen den beiden gibt?!

Wie viel einer Maschine kann man in und an sich haben und dennoch Mensch sein? Wie sehr beeinflusst diese von uns selbst geschaffene Gesellschaft von Menschen und Maschinen die Art und Weise wie wir miteinander, lernen, arbeiten, spielen und kommunizieren, kurz wie wir miteinander umgehen und uns begegnen? WIRED hat mit zwei Künstlern gesprochen. 

Christina Kubisch: CLOUD 

Als die Klangkünstlerin Christina Kubisch in den 80er Jahren S-Bahn fuhr, klangen Daten noch anders als heute. Mit ihren selbstentwickelten Induktionskopfhörern nahm sie die elektromagnetischen Sounds ihrer Umgebung auf. Damals waren diese sehr divers, viele Menschen lasen während der S-Bahn-Fahrt. Und heute? „Heute hört man nur noch Handysignale“, sagt Kubisch.  

Dass vor allem Städte durch dichtere elektromagentische Felder mit Induktionskopfhörern immer intensiver hörbar werden, zeigt Kubisch auch auf ihren „Electrical Walks“: In mehr als 60 Stadtspaziergängen auf der ganzen Welt laufen Menschen entlang magnetischer Orte und hören, wie Daten klingen. Technisch kann man sich das so vorstellen: Eine Sicherheitsschranke erzeugt ein magnetisches Feld. Dieses wird durch eine Spule im Kopfhörer aufgegriffen und von dort durch eine kleine Schaltung in Klang übersetzt. „Viele sind nach den Spaziergängen verschreckt, Gesprächsbedarf gibt es immer“, sagt Kubisch im Gespräch mit WIRED. Ausdrücklich will sie nicht alarmieren, sondern nur sensibilisieren für das, was uns Menschen umgibt. 

Kubisch selbst schaltet nachts alle elektrischen Geräte aus und besitzt auch kein Smartphone. Aber: „Es geht mir nicht darum Dinge zu verteufeln, ich will unser Verhältnis zu Technik zeigen, Dinge bewusst machen, wahrnehmbar“. 

Ihre Arbeit namens „Cloud“ auf der Ars Electronica Berlin ist ein von der Decke hängender, wolkenförmiger Kabelsalat, bestehend aus 1500 Meter langen Kupferkabeln. Der Besucher umkreist ihn und hört mit eigens angefertigten elektromagnetischen Kopfhörern Aufnahmen aus Rechenzentren, Server-Räumen und Umspannwerken. Es sind Orte, wo Daten gespeichert werden, die wir in unserem Alltag produzieren, verschicken und die dann an für uns unsichtbaren Orten weiterverarbeitet werden. Die Klangskulptur „Cloud“ steht somit auch für die neue Art der für uns abstrakten Datenspeicherung.  

Die Klänge, die „Cloud“ abgibt, sind allesamt elektronischer Natur. Mal dumpf, mal ping-pong-artig erinnern sie an die Klopfgeräusche, die man bei MRT-Verfahren in der Röhre hört. Der kurze Test der WIRED-Autorin ergibt: Nach einiger Zeit hat man genug. Und fragt sich auch, wie die Welt wohl klänge, wenn die wachsende Dichte elektromagnetischer Wellen dauerhaft für uns hörbar wäre. Christina Kubisch ging es beim Sammeln der Klangspuren zum Teil ähnlich. „Nachdem ich eine Stunde im Telekom-Server-Raum in Wien aufgenommen hatte, war ich fix und fertig. Es war so intensiv.“

Doch die ausgebildete Komponistin hört in den Aufnahmen als erstes immer noch Musik. Ihr Lieblingssound stammt von Leuchtreklamen. Deren Soundwellen hat sie weltweit gesammelt und daraus Musik komponiert. „Leuchtreklamen sind manisch, unheimlich, wie aus dem Weltall. Sie klingen wahnsinnig schön.“

Quadrature: Positions of the Unknown

Nichts ist für das menschliche Gehirn wohl schwieriger zu verstehen als das Weltall. Ein unendlicher Raum, eine räumliche und zeitliche Dimension, die nicht greifbar ist und die menschliche Vorstellungskraft überschreitet. Und doch ist der Mensch ein Stück weit in diese Dimension vorgedrungen. 70.000 Objekte sollen laut der NASA um die Erde schwirren, darunter viel Weltraumschrott.

1500 der bekannten Objekte sind aktive Satelliten. Während des Kalten Krieges bildete die US-Regierung Hobbyastronomen aus, die den Himmel beobachteten und vermeintliche russische Spionage-Satelliten manuell in eine Datenbank eintrugen. „Operation Moonwatch“ endete im Jahr 1975, doch die Gruppe gibt es weiterhin und ist zu einer Art Citizen Science Projekt geworden. Heute interessieren sich ihre Mitglieder eher für die Objekte, die nicht in der offiziellen Datenbank zu finden sind. 

Um die Verortung des Unbekannten geht es in der Arbeit des Berliner Künstlerkollektivs Quadrature. Auf der Ars Electronica Berlin zeigen Sebastian Neitsch und Juliane Götz eine Installation namens „Positions of the Unknown“. 52 kleine Objekte aus Aluminium, Stahl und Elektronik stehen aufgereiht auf einer 14 Meter langen Metallstange. An ihnen ist jeweils ein Zeiger angebracht, der sich langsam durch den Raum bewegt. Die 52 Objekte stehen für komplett unbekannte Flugobjekte, die die oben genannten Hobbyastronomen im Himmel erspäht haben. Offiziell existieren die Flugobjekte nicht, es gibt keine Metadaten zu ihnen, aber sie wurden von mehreren Menschen gesichtet. 

„Die Arbeit soll eine Perspektive für die eigene Position schaffen: Wo stehen wir? Nicht nur im physikalischen Sinne, sondern auch in der Gesellschaft. Dass dort so viele Objekte um uns kreisen steht für einen riesigen Zivilisationssprung. Das ist eine Errungenschaft, aber wir haben keinen richtigen Bezug zu dieser Weltall-Dimension“, so Neitsch zu seiner Arbeit. 

„Positions of the Unknown“ soll das Abstrakte für den Zuschauer greifbar machen, jedoch stößt die Installation dabei auch an ihre Grenzen, denn die Zeiger bewegen sich nur sehr langsam. Ein Satellit hat eine Relativgeschwindigkeit von 26.000 Kilometern in der Stunde, er braucht aber trotzdem 90 Minuten, um einmal die Erde zu umkreisen. „Kein Besucher will den Zeiger eineinhalb Stunden lang beobachten. Man muss die Arbeit schon über das Konzept verstehen“, erklärt Neitsch. 

Natürlich geht von unbekannten Flugobjekten eine gewisse Bedrohung aus. Wer hat sie ins All geschickt, aus welchem Grund, und beobachten sie uns vielleicht? Man könnte annehmen, Sebastian Neitsch sei ein Technik-Pessimist. Doch das Gegenteil ist der Fall. „Technologie steht für Menschlichkeit. Denn sie ist ja von Menschen gemacht, um uns zu repräsentieren und für uns Orte, wie zum Beispiel den Mars, erkennbar zu machen.“ In einer früheren Arbeit von Quadrature namens Voyager verfolgte das Künstlerkolletiv die Route der beiden menschengemachten Objekte (Voyager 1 und 2), die am weitesten von der Erde entfernt sind. „Voyager ist eine kühle Maschine, aber sie ist emotional sehr aufgeladen, man denke nur an die Golden Records.“

Was gibt es sonst noch auf der „Ars Electronica Berlin“ zu sehen? Hier eine Auswahl: 

Issac Monté: The art of deception 

Ist es möglich, dass Organe in Zukunft zu Design-Objekten werden? Dass sie aus ästhetischen Gründen verändert werden? Die bereits angewandte Technik der Dezellularisierung könnte synthetische Biologie zur Normalität werden lassen. Das bedeutet, dass Organe ihrer Zellinhalte beraubt, zu einem sterilen Gerüst werden, in das Stammzellen eingespeist werden. Issac Monté hat für den Abfall bestimmte Schweineherzen zu eleganten Behältnissen für neues Leben verwandelt. Ob „Heart of Steel“, „Ghost Heart“ oder „Heart of the Beast“ – seine Design-Herzen sollen zeigen, welche Möglichkeiten Wissenschaftler zur Veränderung des Menschen bereits haben. 

Exonemo: Body Paint

Das Format des Bildrahmens ähnelt einem Smartphone. Denn die Arbeit richtet sich an die Generation, die immer und überall online ist. Oft wissen wir nicht, mit wem wir gerade reden: Mensch oder Bot? Am Ende gehört zur Kommunikation in der immateriellen Welt immer Vorstellungskraft. Diese soll in „Body Paint“ symbolisiert werden. Durch die Aufhebung der Grenzen zwischen menschlichem Körper und Bildschirm, die beide dieselbe Farbe haben, stellen die abgebildeten Personen in Frage, ob das Individuum auf dem Bildschirm Mensch oder doch nur eine Annäherung, eine mögliche Abbildung ist. 

Mariano Sardón und Mariano Sigman: The Wall of Gazes 

Die „Wall of Gazes“, also die Wand der Blicke verändert sich je nachdem, wo der Betrachter seinen Blick hinwendet. Auf den drei Bilschirmen zeigt der argentinische Künstler Mariano Sardón Videosequenzen von Migranten und Geflüchteten, die sich langsam aufbauen und zu Porträts werden, je nachdem, wo man zuerst hinschaut. Das funktioniert über ein Eye Tracking Device, das die Augenbewegungen des Zuschauers verfolgt. Wozu? Um zu zeigen, wie wir durch Fragen wie „Woher kommst du?“ oder „Wohin gehst du?“ individuelle Bilder von anderen konstruieren. 

Shinseungback Kimyonghun: Nonfacial Mirror 

Dieses Kunstwerk treibt einen in den Wahnsinn. Nähert man sich dem Spiegel, wendet er sich schnell und mit einem Zischen von einem ab. Ein Gesichtserkennungsalgorithmus im Spiegel ist dafür verantwortlich. Will man den Spiegel überlisten, muss man sein Gesicht bedecken oder unkenntlich machen. Das Künstlerkollektiv aus Südkorea will mit „Nonfacial Mirror“ zeigen, dass man als Mensch immer über sein eigenes Menschsein hinausdenken muss, um sich von der Künstlichen Intelligenz abzuheben. Und es stellt die Frage: Was ist wahrer – das, was wir sehen, oder das, was die Maschine für uns darstellt? 

Die „Ars Electronica Berlin“ läuft noch bis zum 26. Oktober. 

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