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LGBTQ im Videospiel: „Read Only Memories“ macht vor, wie es geht

von Oliver Klatt
Transsexuelle Hacker, genetisch modifizierte Furries mit Fuchsohren und Roboter, die sich nicht auf ein Geschlecht festlegen wollen: Das Cyberpunk-Adventure „Read Only Memories“ lässt Genreklischees und Gender-Schubladen links liegen und erzählt stattdessen eine Geschichte, in der das Anderssein ganz normal ist.

Ohne Cyberpunk, also ohne William Gibsons „Neuromancer“ und Ridley Scotts „Blade Runner“ wären Videospiele undenkbar. Zahllose Games sind von der Bildersprache und Thematik dieser Werke inspiriert. Sehnsüchtig warten Spieler auf Titel wie „Deus Ex: Mankind Divided“ und „Cyberpunk 2077“, die eine Zukunft versprechen, in der alles ganz furchtbar sein wird, aber irgendwie auch ganz furchtbar schön. Die Vernetzung von allem mit jedem, die Koexistenz mit gefühlvollen Maschinenwesen, die Omnipräsenz von Großkonzernen, gegen die es zu rebellieren gilt: Das alles sind Aussichten, vor denen man Angst haben kann — und auf die man sich insgeheim doch irgendwie freut. Der jüngste Genrezuwachs ist das Spiel „Read Only Memories“. Doch das macht einiges anders.

Das Point-and-Click-Adventure, dessen 16-Bit-Style an frühe Spiele wie Hideo Kojimas „Snatcher“ erinnert, beginnt in einem kleinen, heruntergekommenen Apartment. Als Spieler schlüpft man in die Rolle eines Journalisten, der sich im Neo-San Francisco des Jahres 2064 mit schlecht bezahlten Produktbesprechungen über Wasser hält. Die Aussichten sind deprimierend, alle Zeichen deuten auf Niedergang. Doch das ändert sich, als man eines Nachts Besuch von dem Roboter Turing bekommt, der einen um Hilfe bittet. Denn sein Schöpfer Hayden, ein genialer Programmierer, ist von Unbekannten entführt worden, er selbst konnte nur mit Mühe entkommen. So niedlich ist der kleine Kerl mit seinem blauen Kugelkopf, so eindringlich sein Flehen, dass man gar nicht anders kann, als sich mit ihm auf die Suche nach seinem entführten Besitzer zu machen. Und wer weiß? Womöglich springt dabei sogar eine Story heraus, die man meistbietend verkaufen kann.

Schon der erste Ort, dem man mit Turing aufsucht, weicht ab vom Videospielkanon: Anstatt in einer Stripbar oder schummerigen Eckkneipe findet man sich in einem Schwulenclub wieder. Der freundliche Bartender kommt aus Pakistan, die Anwältin mit Katzenohren ist auf Streit aus statt auf einen Flirt, und der Hacker TOMCAT, der einem im Laufe des Spiels bei der Suche nach Hayden unterstützen wird, straft jedes in den Medien verbreitete Bild vom pickeligen Computergenie Lügen: Vor einem steht ein schönes Wesen, sowohl Mann als auch Frau, glamourös und großherzig. „Ich wollte eine Figur erfinden, die entwaffnend ist in ihrer Freundlichkeit, aber auch etwas Geheimnisvolles an sich hat“, sagt John James, genannt JJSignal, der Lead Artist des Spiels. „TOMCAT entspricht keinem gängigen Hacker-Klischee wie wir es aus Filmen kennen. Er hat Persönlichkeit.“

Eine schwule Figur muss nicht grell sein und eine lesbische nicht übertrieben maskulin.

Ted DiNola, Lead Programmer von „Read Only Memories“

Seit 2013 organisiert James zusammen mit Freunden unter dem Firmennamen MidBoss die Konferenz GaymerX in San Francisco. Auch die LGBTQ-Dokumentation „Gaming in Color“ geht auf das Konto des Kollektivs (wofür die Abkürzung LGBTQ steht, wird hier erklärt). Irgendwann kam man bei MidBoss auf die Idee, sich auch an einem eigenen Videospiel zu versuchen — einem Spiel, das die ganze Bandbreite sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten berücksichtigen sollte. „Der Name unserer Konferenz GaymerX wird zwar mit ,y‘ geschrieben, aber unser Motto ist, dass jeder willkommen ist“, sagt James. „Uns ist egal, ob du schwul oder lesbisch bist, transgender oder hetero. Dieses Motto wollten wir auch in unser Spiel übertragen.“

Unterstützung erhielt das Team von Lead Programmer Ted DiNola, der seinerseits davon gelangweilt war, dass in vielen Games immer wieder die selben stereotypen Bilder von Mann und Frau gezeichnet werden. „Wenn in der Videospielindustrie über die Handlung und die Figuren eines Titels diskutiert wird, das auf den Markt gebracht werden soll, werden bestimmte Personengruppen schlichtweg ignoriert“, sagt er. „Wenn alles nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner abzielt, führt das aber leider zu sehr gleichförmigen Ergebnissen.“ Dabei könne man die Welt und die unterschiedlichen Charaktere realer Menschen viel wirklichkeitsnaher abbilden, sagt DiNola. „Eine schwule Figur muss nicht grell sein“, sagt er. „Eine lesbische Figur nicht übertrieben maskulin.“

Bemerkenswert: Das Spiel macht gar keine große Sache aus der sexuellen Identität seiner Figuren.

Das Bemerkenswerte an „Read Only Memories“ ist, dass es gar keine große Sache aus der sexuellen Identität seiner Figuren macht. Während Mitglieder der LGBTQ-Community in Mainstream-Medien nach wie vor gern als Witzfiguren dargestellt werden, gehören sie hier so selbstverständlich in die Welt wie Roboter und Heteros. Nicht ihre geschlechtliche Orientierung wird in den Mittelpunkt gestellt, sondern ihre Handlungen und das, was sie zu sagen haben. „Read Only Memories“ versucht damit etwas ähnliches wie die Wachowski-Geschwister mit ihrer Netflix-Serie „Sense8“: Inklusion statt Ausgrenzung, Vielfalt statt Langeweile. Allerdings ist das Adventure von MidBoss ein ganzes Stück besser geschrieben als der TV-Ausflug der „Matrix“-Macher. „Es gibt eine Vielzahl von Gamern, die sich mit keiner Figur identifizieren können, die in einem herkömmlichen Videospiel vorkommt“, sagt DiNola. „Wir wollen zeigen, dass das auch anders geht.“

Eine Utopie ist das Spiel dennoch nicht. Auch wenn es eine Zukunft zeigt, in der Homosexuelle keinen Diskriminierungen mehr ausgesetzt sind oder um ihr Leben fürchten müssen, richten sich die Angst und Wut der Einfältigen nun gegen Hybride — Menschen, die ihre Körper mithilfe von Hochtechnologie oder durch Manipulation ihrer DNA erweitert haben. In Neo-San Francisco gibt es Figuren, die halb Mensch sind und halb Tier. Und es gibt VR-Fans, die ihr Gehirn direkt mit Scheinwelten verknüpfen und ihr halbes Leben im virtuellen Jenseits verbringen. Die Frage, auf die das Spiel immer wieder zurückkommt, ist die danach, wie wir mit Veränderungen umgehen — damit, dass sich die Welt und die Menschen, die in ihr leben, in etwas anderes Neues, Ungewohntes verwandeln. „Cyberpunk-Geschichten handeln oft von einer Gesellschaft, die im Umbruch begriffen ist“, sagt DiNola. „Selbst wenn es uns gelingt, bestimmte Probleme und Vorurteile zu überwinden, sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass es immer wieder neue Konflikte geben wird.“

Die Angst und Wut der Einfältigen finden ein neues Ziel: Hybride.

Trotz seines ernsthaften Anliegens ist „Read Only Memories“ kein Serious Game geworden, sondern eine sehr kurzweiliger Ausflug in das Jahr 2064. Zwar ist das Spiel ziemlich textlastig, die Dialoge sind ausufernd, und der Roboter Turing wird nicht müde, sein Wissen über Botanik und das Mixen von Drinks zum Besten zum geben. Doch jedes Mal, wenn die Augen vom vielen Lesen müde werden, nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung. Immer tiefer dringt man zusammen mit dem kleinen blauen Roboter in den Untergrund von Neo-San Francisco vor, macht gemeinsame Sache mit Möchtegern-Rappern, Virtual-Reality-Junkies oder Kleinkriminellen und kommt dabei einer Verschwörung von globalen Ausmaßen auf die Spur.

Und an jeder Ecke wimmelt es von Point-and-Click-Poesie: Objekte, die in der Pixelkulisse herumstehen, können nicht nur genauer unter die Lupe genommen oder berührt werden, man kann sich bisweilen sogar mit dem Mobiliar oder einer Kiste verkrusteter Donuts unterhalten. Mit den High-Tech-Kopfhörern, die man stets bei sich trägt, ist es außerdem möglich, den Werbebotschaften der Plakate oder dem Geflüster von Grünpflanzen und Graffitis zu lauschen. Die Möglichkeiten zu Interaktion reichen von albern bis informativ. „Ich spiele hin und wieder gern Rollenspiele und bin immer enttäuscht, wenn die Nebenfiguren, mit denen ich mich unterhalten möchte, nur einen einzigen Satz drauf haben“, erklärt John James den Aufwand, den sich die Entwickler mit der auskunftsfreudigen Spielwelt gemacht haben. „Wenn unsere Spieler schon so viel Zeit damit verbringen, auf dem Bildschirm herumzuklicken, wollte ich ihnen wenigstens auch etwas zu Lesen geben.“

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Besonders Turing scheint es den Spielern von „Read Only Memories“ angetan zu haben. Obwohl es jederzeit möglich ist, den synthetischen Begleiter zu beleidigen und in seine Schranken zu weisen, scheint kaum jemand davon Gebrauch zu machen. Das zeigen die Statistiken, die James und DiNola über das Spielerverhalten und den Ausgang des Spiels einsehen können. „Ich bin sehr überrascht davon, wie sehr alle Turing mögen, obwohl er so unglaublich geschwätzig sein kann“, sagt James. „Vermutlich finden die Spieler es einfach nur rührend, wie sehr der Roboter darum bemüht ist, einen zu beeindrucken.“ Auch über weitere Geschichten, die parallel zu Handlung von „Read Only Memories“ stattfinden, haben die Entwickler schon nachgedacht. Ein Wiedersehen mit der blauen Roboterkugel ist also nicht unwahrscheinlich. Das ist schön. Denn mehr Charme als der rollende BB-8 aus „Star Wars: Episode VII“ hat sie allemal.

„Read Only Memories“ läuft unter Windows, Mac und Linux und ist unter anderem auf Steam oder im Humble Store erhältlich. 

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