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„Null digitalisiert!“: Frank Thelen sieht schwarz für Deutschlands Chancen

von Dirk Peitz
In der VOX-Sendung „Die Höhle der Löwen“ berät Frank Thelen junge Unternehmensgründer, mit seiner Investmentfirma e42 unterstützt er Startups in der Frühphase. Doch die Digitalisierung in Deutschland als Ganzes sieht er: ziemlich pessimistisch. Was seiner Meinung nach schiefläuft, erklärt Thelen im Interview zur WIRED-Deutschlandreise.

In den vergangenen fünf Monaten sind WIRED-Reporter durch Deutschland gereist, um herauszufinden, wie digital und innovativ dieses Land wirklich ist. Wir waren in schwäbischen Kleinstädten, im Rheinland, in Hamburg, Berlin und München. Frank Thelen ist einer der Menschen, die wir dabei getroffen haben. Die Ergebnisse unserer Reise lest ihr ab Dienstag, 6. Dezember 2016, in der neuen WIRED-Ausgabe.

Die dritte Staffel von Die Höhle der Löwen ist im Oktober zu Ende gegangen, nun kann sich Frank Thelen, einer der Investoren und Juroren der VOX-Gründershow, wieder ganz seiner VC-Firma e42 widmen. Deren Wagniskapital steckt unter anderem in den deutschen Startups MyTaxi, Outbank, Lilium und Scanbot. Thelen wettet also auf die künftigen Erfolge dieser Firmen. Aber wie betrachtet er als Investor Deutschlands Zukunftschancen im Ganzen? Da sieht der 41-Jährige – höflich formuliert – schwarz. WIRED hat Thelen gefragt, warum er in Sachen Deutschland und Digitalisierung so pessimistisch ist.

WIRED: Herr Thelen, wie ist es um Deutschland und die Digitalisierung gerade bestellt?
Frank Thelen: Ich fürchte, dass wir da schlecht aufgestellt sind. Das gilt gerade für die Automobilindustrie, die ja von besonderer Bedeutung ist für Deutschland – nicht nur, weil sehr viele Menschen bei BMW oder Volkswagen arbeiten, sondern auch, weil wir eine große Zulieferindustrie besitzen. Für beide Branchen gilt: Die sind null digitalisiert! Also wirklich: null. Ich empfinde es bereits als schlechtes Zeichen, dass ich als Deutscher ein amerikanisches Auto fahren muss. Weil es kein deutsches Elektroauto gibt, das den Namen verdient. Die deutschen Autohersteller haben es ja nicht mal hinbekommen, in ihrem eigenen Land eine Infrastruktur mit Ladestationen aufzubauen. Ein US-Startup, nämlich Tesla, muss in Deutschland eine solche Infrastruktur errichten – für mich ist das beschämend. Ich bin da wirklich tiefgreifend enttäuscht. Nein, eigentlich sauer. Das ist auch nicht witzig, doch die deutschen Autobauer nehmen das überhaupt nicht ernst. Die präsentieren zwar ein elektrisches Concept Car nach dem nächsten, das dann irgendwann mal auf den Markt kommen soll, es aber nicht tut.

WIRED: Und wie sieht es in anderen Industrien aus?
Thelen: Die Bankenindustrie hat die gleichen Probleme. Fangen wir hinten an: Im Backend gibt es eine gar nicht mehr so ganz neue Technologie, die Blockchain heißt und zu sehr geringen Kosten und auf einer sehr sicheren Basis Transaktionen aller Art abwickeln kann. Das gilt nicht nur für solche, die mit der bekanntesten Währung in dem Fall zusammenhängen, nämlich Bitcoin, sondern auch für Aktien und Wertpapiere. Die internen Kosten einer Bank können dank der Blockchain-Technologie dramatisch gesenkt werden und zugleich deren Tätigkeiten sicherer und einfacher machen. Amerikanische Banken beschäftigen sich seit Jahren mit der Blockchain, sind da groß investiert und haben riesige externe Teams auf das Thema angesetzt. Wenn man nun mit Bankvorständen in Deutschland spricht, und das tue ich häufig, so gibt es da welche, die nicht mal wissen, was eine Blockchain ist. So Leute müssten eigentlich unmittelbar entlassen werden.

Es gibt kein deutsches Elektroauto, das den Namen verdient

Frank Thelen

WIRED: Woher kommt die Zurückhaltung in Sachen Digitalisierung bei deutschen Managern, die Sie unterstellen?
Thelen: Deren Ziel ist es lediglich, ihr Geschäft jährlich um zwei Prozent zu optimieren. Das Problem bei diesem Ansatz aber ist, dass irgendwann komplett neue Technologien auftauchen, die ganze Wirtschaftszweige auf den Kopf stellen. Wir bauen zum Beispiel mit Lilium den ersten wirklichen Elektrojet der Welt. Der startet und landet senkrecht, ist 450 Stundenkilometer schnell und kostet nur einen Bruchteil eines normalen Flugzeugs. Eine solche neue Technologie ist dazu geeignet, die Art und Weise komplett zu verändern, wie Menschen und Güter transportiert werden. Da kommt man mit Zwei-Prozent-Optimierungen nicht mehr weiter. Wenn Paradigmenwechsel geschehen, funktionieren die alten Methoden schlagartig nicht mehr.

WIRED: Wie läuft das dann?
Thelen: Ich weiß noch, wie ich beim Nokia-Chef saß, wenige Tage nach Vorstellung des ersten iPhone, und der Mann mir lachend ins Gesicht sagte: „Du glaubst doch nicht, dass Apple Telefone bauen kann!“ Da steckt auch die Krux für alle Manager drin, die heute noch stabile Gewinne machen mit ihren Produkten: Als solcher darfst du nicht abwarten, bis ein grundlegend anderes Produkt die Regeln deines Geschäfts ändert. Wenn du wartest, bist du sehr bald Nokia. Und dann ist es vorbei. Ich sehe das leider auf sehr, sehr viele Industrien in Deutschland zukommen. Ich bin da eher alarmiert als optimistisch.

WIRED: Was sind die Gründe für diesen Zustand?
Thelen: Ich glaube, das liegt am Mindset. Wir haben heute noch Unternehmensführer, die in erster Linie Chefs sind. Die sitzen auf Vorstandsetagen mit fünf Sekretärinnen vor der Tür, die die Wirklichkeit draußen halten. Status wird weiterhin höher bewertet als das Machen und Tun. Man hört Leute in den Hierarchieebenen darunter flüstern: „So was kannst du dem Vorstand nicht ins Gesicht sagen.“ In deutschen Unternehmen wird noch viel zu sehr gekuscht. Wir müssen zu einer Mentalität kommen, die der von Jeff Bezos oder den Google-Gründern entspricht, und die lautet: „Sag mir, was mich morgen töten wird, dann mache ich es vorher selbst groß.“ Warum wohl durfte Netflix auf die Cloud-Computing-Server von Amazon, obwohl das für Amazon doch die Konkurrenz im Streaming-Bereich ist? Weil Amazon lieber vom Erfolg des Konkurrenten profitiert, als ihn aus Prinzip verhindern zu wollen – weil Amazon weiß, dass es das ohnehin nicht könnte.

Wer als Bankvorstand nicht weiß, was die Blockchain ist, muss sofort entlassen werden

Frank Thelen

WIRED: Was bedeutet das für die Unternehmenspolitik?
Thelen: Du musst als Unternehmen heute verinnerlicht haben, dass dich ständig etwas zerstören kann. Und dann reicht es nicht, dass du die erste Welle überstehst. Du musst schon längst auf die nächsten Wellen vorbereitet sein. Denn die werden immer schneller kommen.

WIRED: Können Sie ein Beispiel nennen?
Thelen: Wir sehen das jetzt bei MyTaxi: Nic Mewes hat MyTaxi als disruptives Startup gegründet, bei dem man mit seinem Smartphone über ein Peer-to-Peer-Netzwerk ein Taxi bestellt. Supergeil, läuft gut, da sind wir als erster Investor auch stolz drauf. Aber nun kommt das selbstfahrende Auto, und da braucht ehrlich gesagt kein Mensch mehr das MyTaxi-System, denn der Fahrer fällt weg. Das einzig Nützliche ist noch, dass ein Auto gerufen wird, doch damit ist das ursprüngliche MyTaxi-Konzept in absehbarer Zeit tot. Uber war schneller und progressiver als MyTaxi und testet bereits selbstfahrende Autos. Eindrucksvoll!

WIRED: Aber …?
Thelen: Uber wird danach als nächstes angegriffen – wenn wir zum Beispiel Lilium Aviation als eine Art Taxi-Service launchen würden. Der Kunde fliegt über die Straßen hinweg, statt auf ihnen im Stau zu stehen. Wer würde da noch einen Uber-Wagen rufen? Die Disruption von ganzen Industrien wird als ständiger Mechanismus der Wirtschaftswelt bleiben. Und auch Lilium wird dann eben irgendwann angegriffen. Die einzige Chance von Unternehmen wird in Zukunft sein, dass sie die Bereitschaft in sich tragen, sich bei Bedarf selbst zu zerstören – um zu überleben. Du musst dein bestlaufendes Produkt oder dein gewinnbringendstes Businessmodell jederzeit hinterfragen und notfalls killen können. Die Bereitschaft dazu sehe ich in Deutschland nicht. Und das ist unser Problem.

WIRED: Weil zu viele Firmenlenker denken, dass sie auch diese neue Zeit jetzt überstehen?
Thelen: Genau. Deutschland strotzt derzeit vor Kraft, die Frage ist aber: wie lange noch? Man begreift den Nokia-Effekt nicht als Bedrohung. Das Problem ist, dass es den meisten Unternehmen zu gut geht derzeit. Die denken: Es wird schon irgendwie weitergehen. Es sind da auch zu viele alte Herren noch im Amt. Da gibt es keinen Elon Musk, keinen Mark Zuckerberg, keinen Jeff Bezos, keinen Travis Kalanick. Vermutlich werden die deutsche Autoindustrie und die deutschen Banken auch noch viel länger überleben, als ich das heute glaube. Doch irgendwann wird es ganz schnell gehen. Und dann kann man nichts mehr machen. Was ich nicht sehe, ist die Panik, die angesichts dessen eigentlich angebracht wäre. Ich habe immer Panik. Ich habe Panik davor, dass wir bei Outbank zu langsam sind. Ich habe Panik davor, dass unser Lilium-Jet nicht fliegen wird. Jeden Tag gehe ich in unsere Läden rein und sage: „Leute, we’re fucked.“ Obwohl wir mit einigen Firmen sogar die jeweils aktuellen Marktführer sind. Die Panik habe ich in meiner DNA. Ich bin mal pleitegegangen, ich habe das Schiff mit mir auf den Meeresgrund sinken gesehen.

Die haben alle den Krieg noch nicht gesehen. Aber der Krieg kommt. In jeder einzelnen Industrie

Frank Thelen

WIRED: Pleitegehen verändert die Sicht auf die Dinge?
Thelen: Manchmal habe ich den Eindruck, dass in vielen deutschen Unternehmen Leute sitzen, denen es gutgetan hätte, wenn sie mal was vor die Wand gefahren hätten. Damit sie wissen, wie das läuft. Die sitzen halt da, sind auf ihren Posten unter anderem auch deswegen gelandet, weil sie die richtigen Anzüge getragen haben, morgens immer pünktlich waren und irgendwann mal irgendein Optimierungsprojekt toll hinbekommen haben. Die haben alle den Krieg noch nicht gesehen. Aber der Krieg kommt. Und zwar in jeder einzelnen Industrie.

WIRED: Was sind in diesem Sinne die nächsten Kriegsschauplätze?
Thelen: Mobility ganz klar, da kommen die E-Motoren und das Self-driving Car, und der Markt teilt sich in Flying und Driving. Banken werden nicht mehr benötigt werden, weil alles über Peer-to-Peer-Lösungen mit intelligenter Software passieren wird. Künstliche Intelligenz wird in fast alle Wirtschaftsbereiche eingreifen, nicht nur in der Kundenberatung. In der Medizinbranche wird ein Großteil der Ärzte durch KI und Big Data abgelöst werden. Die eigentliche Frage wird bald sein: Welche Branche ist so klein, dass sie noch ein bisschen in Ruhe gelassen wird?

WIRED: Was spricht bei aller Kritik dann aber vielleicht doch für deutsche Unternehmen und das Land an sich?
Thelen: Wir haben in Deutschland gute Ingenieure, und wir haben eine gute Basisausbildung in den Bereichen Physik und Chemie. Wir sind weit vorne bei den Patentanmeldungen. Wir sind ein sehr friedliches und sicheres Land, und ich glaube, dass große Ideen Weite, Frieden und Ruhe brauchen und eine saubere Umwelt. Ich glaube nicht an die vielen kleinen Boxen, in denen Menschen in Shanghai zum Beispiel hocken, wo man draußen kaum atmen kann. Was uns in Deutschland jedoch fehlt, ist dieser Impuls, der sagt: Leute, lasst uns groß denken und die Welt verändern. Wir optimieren lieber in kleinen Schritten. Das hat uns sehr, sehr weit gebracht, wird uns in Zukunft aber nicht mehr weiterhelfen. Es geht jetzt nicht mehr darum, wie man das effizienteste Windkraftwerk oder die beste Wärmepumpe baut – sondern wie man die Energieversorgung in Gänze neu denkt und was nach der Wärmepumpe kommt. Und hier liegen meine Sorgen. Wie kriegen wir dieses große Denken in die Köpfe unserer Ingenieure rein? Nicht so sehr in die der Betriebswirte, von denen haben wir eh schon zu viele. Nein, wenn dann werden unsere Ingenieure dieses Land hier in die Zukunft führen.

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