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Snap Spectacles: Ein Gadget wie aus einer Social-Media-Dystopie

von Juliane Görsch
Die Spectacles von Snap Inc. sind seit kurzem auch in Deutschland erhältlich. Die Videobrille soll das Teilen von Schnipseln auf Snapchat noch spaßiger machen. So richtig in den Alltag passt das Gadget jedoch nicht, zeigt unser Test: Es ist eher in eine Social-Media-Dystopie.

Als ich die Spectacles aufsetze, denke ich zuerst an James Bond. Wie 007, der von Q profane Alltagsgegenstände mit eingebauter Spionage- oder Kampfausrüstung bekommt, habe ich eine Sonnenbrille mit versteckter Kamera. Allerdings zeigt das LED-Lämpchen deutlich an, dass ich aufnehme, und das grelle Gestell lässt mich nicht gerade mit der Umgebung verschmelzen. Ich fühle mich wie die jämmerlichste Geheimagentin der Welt.

In Wahrheit möchte der Hersteller Snap Inc. gar nicht, dass ich konspirative Gespräche mitfilme, sondern einfach Momente festhalte – aus meiner Sicht. Obwohl mir das Konzept der Storys auf Snapchat gefällt, nutze ich privat eher das Äquivalent auf Instagram oder gar WhatsApp. Ist das 150 Euro teure Spielzeug also ein Grund zurückzukehren?

Mit einer Idee, die zuvor kein anderes soziales Netzwerk hatte, wurde Snapchat von einer einfachen Messenger-App zum Milliarden-Dollar Technologieunternehmen: Die Nachrichten und Fotos verschwanden nach 24 Stunden einfach. Seit September 2016 hat Snap jedoch einen neuen Fokus und bezeichnet sich nicht mehr als Messenger oder soziales Medium, sondern als Kamera-Unternehmen.

Die Snapchat Spectacles sind seit Anfang Juni in ganz Europa erhältlich. Das Wearable steckt in einem knallgelben Etui, das gleichzeitig als Akkupack dient. Ausgeliefert wird es in einem durchsichtigen Plastikzylinder, der an die Verpackung von Tennisbällen erinnert.

Auf dem Weg vom Büro nach Hause probiere ich die Brille gleich aus. Das Pairing mit dem Smartphone klappt schnell und geht einfach von der Hand. Mit einem Knopf am linken Bügel oberhalb der LED-Lampe nehme ich Videos von 10 oder 30 Sekunden auf. Der integrierte Speicher kann Snaps auch zwischenspeichern, um sie erst später mit dem Smartphone zu synchronisieren. Per Bluetooth (in SD Qualität) oder übers WLAN (in HD) werden die Video-Schnipsel in die Snapchat-App geladen. Von den Memorys aus kann ich sie dann an Freunde schicken oder für alle sichtbar in Meine Story teilen.

Vom Fahrrad aus snappe ich die Welt um mich herum. Freihändig Videos aufzunehmen macht Spaß. Und beim Abspielen passen sie sich ähnlich wie man es von einem VR-Video erwarten würde, an die Bewegung des Smartphones an. Als waschechte Actioncam wie die GoPro taugen die Spectacles allerdings nicht. Müssen sie auch nicht, da die geteilten Snaps nach 24 Stunden ohnehin verschwinden. Die Video- und Tonqualität geht dafür vollkommen in Ordnung.

Ein kurioser Hype, ähnlich wie Fidget Spinner

Am Abend gehe ich mit der Sonnenbrille ins Kino. Zugegeben, ich habe Spaß dabei, sie mit Freunden im Foyer auszuprobieren. Allerdings ergibt eine Sonnenbrille in geschlossenen Räumen auch mit Kamera keinen Sinn. Die Aufmerksamkeit des neugierigen Kinopersonals ist uns sicher. „Was ist eigentlich dieses Snapchat?“, fragt einer. Man merkt schnell, dass der Hype um die App nie wirklich ganz in Deutschland ankam. Die letzten Worte des Kartenabreißers bevor wir in den Kinosaal entschwinden, sind: „Und hey, nicht den Film aufnehmen, verstanden?“ Die auffälligen Spectacles werden eher als Kuriosität wahrgenommen, so wie die zur Zeit gehypten Fidget Spinner.

Wo sind die Snapchat-Nutzer, die mich um mein neues Gadget beneiden? Snap hat zum Start der Brille auch aktuelle Nutzerzahlen der App für Deutschland veröffentlicht. Demnach nutzen fünf Millionen Menschen den Dienst täglich. Und entgegen meines subjektiven Gefühls sind das nicht alles 14-Jährige: 60 Prozent der deutschen Nutzer sind über 18 Jahre. Zum Vergleich: Die letzten offiziellen Nutzerzahlen von Instagram sind von Anfang 2016 und lagen damals bei neun Millionen.

Google Glass verprellte vor allem deutsche Nutzer vor einigen Jahren noch, weil diese Angst vor dem Verlust der eigenen Privatsphäre hatten – und die Brille ein zu abgehobenes Design. Die Spectacles führen hingegen behutsam an eine Zukunft mit Kamerabrillen heran. Mehr als ein paar Schnipsel der Umgebung einfangen, können sie noch nicht. Erst mit der zweiten Version wird Snap Gerüchten zufolge auch eine Augmented Reality-Funktion hinzufügen.

Am dritten Tag gehen mir die Ideen aus. Ich snappe, wie ich den Müll heruntertrage – der Tiefpunkt ist erreicht. Dabei fühle ich die Blicke meiner Nachbarn im Nacken, als ich die Aktion auch noch zu kommentieren beginne.

Ich komme zum Schuss, dass wir noch weit weg sind von jener Welt, die Dave Eggers in seiner Social-Media-Dystopie The Circle beschreibt. „Secrets are lies. Sharing is caring. Privacy is theft“, heißt es in dem Bestseller. (Zu Deutsch: Geheimnisse sind Lügen. Wer teilt, hat Mitgefühl. Privatsphäre ist Diebstahl.)

Die Snap Spectacles würden auf den ersten Blick gut in diese Zukunft passen. Protagonstin Mae beginnt im Lauf der Geschichte eine Live-Kamera zu tragen, die jeden ihrer Schritte ins Internet streamt. In der echten Welt, in der Apple gerade seinen eigenen „Circle“ eröffnet hat, und fast alle Social-Media-Plattformen ihre Nutzer zum Livestreaming ermuntern, reagieren die Menschen um mich herum trotzdem mit deutlicher Befremdung auf die Spectacles. Selbst solche, die sich als Digital Native und Social-Media-Fans bezeichnen.

Ein sommerliches Gelegenheits-Gadget

Fotos und Videos mit dem Smartphone zu schießen und zu teilen, ist allseits anerkannt, kommt aber ein Wearable zum Einsatz, ändert sich das. Die Videos werden aus der Egoperspektive geschossen. Ich kann demnach ziemlich gut damit leben, nur die Außenwelt festzuhalten und nie mich selbst – meinen Freunden gefällt das eher weniger.

„I wear my sunglasses at night“, singt Corey Hart in meinem Kopf, als ich am Abend snappend aus dem Biergarten komme. Meine Follower auf der Chat-Plattform werden das nie erfahren, weil es viel zu dunkel ist. Meine besten Momente festhalten? Gerne, allerdings nur im Tageslicht. An die Blicke der Leute im Winter möchte ich erst gar nicht denken.

So werden die Spectacles zu einem sommerlichen Gelegenheits-Gadget. Gut für Situationen, in denen man freihändig etwas festhalten möchte, wie etwa beim Sport oder Kochen, schlecht für sozialere Situationen wie Hochzeiten oder Besuche im Biergarten. Also eigentlich immer, wenn andere Menschen mit dabei sind.

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