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Karley Sciortino: So arbeitet die derzeit wichtigste Sex-Bloggerin der Welt

von Lars Jensen
Karley Sciortino schreibt den derzeit wichtigsten Sex-Blog der Welt. Ein Treffen in New York.

Dieser Artikel stammt aus dem WIRED Magazin vom Mai 2015. Wenn Ihr die ersten sein wollt, die einen Magazin-Artikel online lesen: hier entlang.

Über Sex schreibt Karley Sciortino praktisch jeden Tag. Langweilig wird ihr dabei aber nie, denn Sex findet sie aufregend. Nicht nur Sex zu haben. Auch darüber nachzudenken, zu recherchieren. Sich mit Freunden, Professoren, Prostituierten darüber auszutauschen.

Ihr Blog heißt Slutever, dort liefert sie Antworten auf die Fragen, mit denen sich jeder irgendwann im Leben beschäftigt: Was ziehe ich an, wenn ich zu einer Orgie gehe? Wie verhalte ich mich dort korrekt? Wie wird ein flotter Dreier zum Erfolg? Oder: Warum sind Fotos von Frauen mit Menstruationsflecken zwischen den Beinen in den Medien tabu?

Das erste Bild, das Instagram bei ihr löschte: Ein Courbet-Gemälde.

Ihre rund 27.000 Instagram-Abonnenten und 17.000 Twitter-Follower liegen rechnerisch zwar nicht in den Dimensionen, die man von Internet-Sensationen kennt. Was nichts daran ändert, dass Slutever im Jahr 2015 der maßgebliche Landeplatz für alle ist, die im Netz weder nach dumpfem Bums noch nach kichernasiger Schminkmädchen-Erotik suchen. Sondern, kein Wortspiel beabsichtigt: nach der Nische dazwischen.

„Mein Blog handelt nicht von Sex“, sagt Karley Sciortino, am Küchentisch ihrer Einzimmerwohnung im New Yorker Stadtteil Gramercy. „Er handelt von sexuellem Verhalten.“

Natürlich auch von ihrem eigenen. Im Beitrag über eine Orgie zum Beispiel beschreibt sie, wie sie dort zu viel trank, im Getümmel einschlief und von der Veranstalterin höflich gebeten wurde, sich nicht auf der Spielwiese auszuruhen: „Der Platz wird dringend gebraucht!“ Lustig auch, wie sie von ihren Versuchen berichtet, mit Freunden und Freundinnen zu dritt Sex zu haben — wie es gelingt oder eben auch nicht und woran das liegen mag: Mal sind zu viele Emotionen im Spiel. Mal nicht genug.

Sciortino mischt ihre persönlichen Erfahrungen mit Erkenntnissen aus Wissenschaft und eigenen Feldversuchen zu einer Melange der sexuellen Weisheit, die sie zur vermutlich bekanntesten Sex-Bloggerin des Internets macht. Zusätzlich schreibt sie eine Kolumne für vogue.com, war der Star einer Videoreihe für Vice. Produziert Filme und Clips für verschiedene Websites und den britischen TV-Sender Channel 4. Es gibt T-Shirts und Becher mit Slutever-Logo, mehr Projekte sind in Arbeit.

„Das war ja nie so geplant“, lacht Sciortino. „Der Blog ist nicht mehr bloß ein Zeitvertreib, sondern hat sich zu einer richtigen Karriere entwickelt.“

Das Einkommen generiert allerdings nicht die Website, denn bislang hat sie nur einen Werbekunden (American Apparel). Die Miete verdient sie mit Aufträgen von Print und TV, den alten Medien. So kann sie sich zum ersten Mal eine eigene Wohnung in Manhattan leisten, in der sie sich mit ihrer Partnerin einrichtet.

Sciortino sagt, sie sei ungefähr 30 Jahre alt. Mit blonden, langen Haaren und einem engen Kleid sieht sie aus wie ein Busenstar der 50er-Jahre, auf der Web­site von Vogue inszeniert sie sich mit Designermode als Model, tritt aber auch mal in extremer SM-Ausstattung auf und schwingt die Peitsche. An diesem Vormittag trägt sie ein schwarzes T-Shirt mit schwarzer Jogginghose, sitzt im Schneidersitz auf dem Stuhl, hält ihren Teebecher mit beiden Händen. Manchmal lacht sie, als könne sie noch immer nicht glauben, dass dies jetzt ihr Beruf ist: über Sex zu schreiben. Auf eine Art, die im Zeitalter der mobilen Kommunikation offenbar direkt den Nerv des Publikums trifft. So wird es erst mal weitergehen.

Sexsucht, Unmöglichkeit der Monogamie, Sex im Alter (von über 30): Keines der Themen, die Slutever aufgreift, ist revolutionär. Auch das Format, in dem eine intelligente, attraktive Frau offenherzig über Sex schreibt, ist nicht neu. Wie gelingt es Sciortino im Zeitalter des totalen erotischen Overkills, im Internet mit einem im Grunde konventionellen Sexblog Erfolg zu haben? „Mein Blog soll Fremden den Eindruck verschaffen, mein Leben sei interessanter, als es eigentlich ist. Ich erfinde nichts, aber ich lasse die langweiligen Aspekte meines Lebens aus.“ Die Slut­ever-typische Leichtigkeit hinzukriegen, darin liegt der Schlüssel zum Erfolg.

Zum Beispiel eine Episode über den weiblichen Orgasmus. Sciortino besucht einen New Yorker Sexguru und lässt sich von ihm aufmalen, wie eine Frau hundertprozentig zum Orgasmus kommt: „Hmm, das sieht sexy aus“, sagt sie zu dem Gekrakel. Dann trifft sie einen Professor, den sie sofort mit privaten Einschätzungen vollquatscht: „Penetration fühlt sich meis­tens an, als würde man einen Tampon reinstecken und rausziehen.“ Der Mann bleibt gelassen und liefert einige sehr interessante Einsichten. So geht es immer bei Slutever: Gags und wertvolle Informationen halten sich die Waage, man fühlt sich unterhalten und lernt dabei. Wie bei einem guten Sexualkundelehrer.

Klassische Sexberatung liefert die Seite jedoch nicht. Man muss sich Slutever eher als Kurzgeschichtensammlung vorstellen, die davon handelt, was eine junge New Yorkerin und ihre schwulen, lesbischen, transsexuellen und heterosexuellen Freunde in den Betten der Stadt (oder sonst wo) erleben. Leserfragen zu beantworten, überlässt sie den wahren Experten. Bei Slutever heißt das dann: „Fragen Sie einen Pornostar!“

Karley Sciortino wuchs als Tochter streng katholischer Eltern in einem Dorf in Upstate New York auf. Mit 17 zog sie von zu Hause aus — Richtung London, wo sie Theater studieren wollte. Als sie 2007 anfing zu bloggen, lebte sie in einem besetzten Haus im East End. „Wir waren zehn Leute, manchmal auch mehr. Wir brauchten kein Geld und keine Jobs, lebten mit drei Drogendealern. Es war ekelhaft. Aber mit Anfang 20 machte das Spaß.“ Zunächst schrieb sie, um das Leben der Kommune zu dokumentieren, Sex kam nur am Rande vor. Doch 2010 hatte Sciortino Probleme mit dem Visum, kehrte nach New York zurück. „Was für mich zuerst wie eine Katastrophe schien, stellte sich schnell als Segen heraus. Ich hörte auf, ständig besoffen zu sein, und begann über sexuelle Fetische zu schreiben.“

Schnell machte sie sich einen Namen in der Szene, und irgendwann wurde das Magazin Vice auf sie aufmerksam. Die Videokolumnen-Version von Slutever wurde eines der meistgeklickten Features auf vice.com. Besonders die Serie People Who Just Had Sex hatte viele Fans. Sciortino interviewt hier Paare direkt vor und nach dem Sex: „Wie war’s? Was habt ihr so gemacht?“

Zuletzt beschäftigte sie sich aber auch mit Themen, die die politische und ge­sellschaftliche Dimension von Sex behandeln. Im klugen Essay „Art, Periods And Censorship On Social Media“ beschreibt sie ihre Erfahrungen mit den ultrapuri­tanischen Vorschriften bei Instagram, Facebook, Twitter. Das erste Bild, das In­stagram von ihrem Account löschte, war ein Gemälde von Gustave Courbet, das zwei schlafende nackte Frauen im Bett zeigt. „Wir haben ein Niveau der Kulturlosigkeit erreicht, in dem zwischen Kunst und Porno nicht mehr unterschieden wird. Zumindest bei Social-Media-Seiten nicht, die für uns unbeabsichtigt zur Autorität geworden sind. Was dürfen wir sehen? Offenbar nicht zwei nackte Frauen.“

Und genau das ist es, was Karley Scior­tino zu einer so unwahrscheinlichen wie logischen, glamourös schlampigen, versaut mütterlichen Sexikone der Social-Media-Ära macht. Dass sie eine Performerin ist, die dennoch an echte Kommunikation glaubt. Dass sie ihren Style, ihre Sprache ausgerechnet für das Thema gefunden hat, über das alle sprechen wollen. Das im Netz aber so viel schwerer verhandelbar ist als Bärlauch-Gnocchi oder das Marina-Keegan-Buch. Und daran wird sich wenig ändern. Es wird eine Lücke für Heldinnen bleiben.

Für Karley Sciortino ist es absolut vorstellbar, dass sie bis zur Rente weitermacht mit Slutever. Sie müsse zwar auch Drehbücher schreiben, Filme machen, um Geld ranzuschaffen, sagt sie. „Aber Slutever bleibt der Kern meiner Marke.“ Freunde fragen sie, ob sie mit 60 noch über Sex schreiben will. Natürlich will sie. „Sex ist immer spannend, auch mit 60. Granny-Gangbang mit Karley — welche Gleitcreme ist die beste?“ Es könnte eine gute Slutever-Geschichte werden. 

Karley Sciortino hat für WIRED einige Leserfragen zum Thema Sex beantwortet. Die Videos findet ihr hier.

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