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Zukunft der Musik / So funktionieren die Musikvorschläge von Spotify

von Jan Wehn
Wer einen Streamingdienst wie Spotify nutzt, bekommt auf Grundlage seiner Hörgewohnheiten ständig neue Musikempfehlungen — von ähnlich klingenden Künstlern über Songs, die sich in etwa so anhören wie die eigenen Lieblingslieder, bis hin zum neuen heißen Scheiß aus dem bevorzugten Genre. Aber wie funktioniert diese Vorschlagsmaschine eigentlich genau?

Bis vor ein paar Jahren war das Entdecken von neuer Musik harte Arbeit. Man musste sich entweder auf das eigene Gespür verlassen, den Geheimtipps von geschmackssicheren Freunden folgen oder den Auskennerschnack mit dem Plattendealer des Vertrauens suchen. Dann eröffneten die Online-Versandhäuser und erlaubten einen Blick in die virtuellen Warenkörbe der anderen Kunden. Wer ein bestimmtest Album kaufte, dem wurde empfohlen, doch gleich noch ein bestimmtes anderes dazu zu nehmen. Schließlich hatten das ja schon viele andere getan – und die konnten doch gar nicht so falsch liegen.

Konnten sie natürlich. Und genau das war Brian Whitman immer ein Dorn im Auge. Um die Jahrtausendwende war der heute 38-Jährige selbst Musiker. Doch es fiel ihm schwer, mit seiner experimentellen Electronica mehr als nur den eigenen Freundeskreis zu erreichen. Whitman wollte herausfinden, wie man als Musiker schnell viel Aufmerksamkeit bekommt. Deshalb gründete er 2005 nach seiner Zeit am MIT das Unternehmen The Echo Nest. Eine Firma, die sich mit der Analyse von Musik beschäftigt und mit Partnern wie der BBC, VEVO, Nokia, iHeartRadio, SiriusXM oder MTV zusammenarbeitete, bevor sie im März 2014 von Spotify gekauft wurde. Seitdem sammeln Whitman und sein Team Daten über Musik und verbessern basierend darauf die Musikempfehlungen für die Nutzer des Streamingdienstes.

Mithilfe von signalverarbeitenden Algorithmen erfassen sie zum Beispiel, welches Tempo ein Song hat oder in welcher Tonart er geschrieben ist. „Wir wollen herauszufinden, wie komplex oder regelmäßig der Takt ist. Danach schauen wir uns die Stringenz und die Melodieführung an“, erklärt Whitman. Eine Musikrichtung wie Techno folge zum Beispiel einer sehr klaren Linie, während Jazz sehr viel freier klingt. Texte werden hingegen bisher noch nicht analysiert. „Das liegt daran, dass ein Text viele Informationen enthält, die ein Computer noch nicht gut genug verstehen kann.“

Die bestmöglichen Musikempfehlungen basieren auf Audiodaten, Äußerungen über Musik und kollaborativem Filtern.

Brian Whitman

Alle Informationen, die The Echo Nest erfasst, fließen in einen größeren Algorithmus ein, der auch mit menschlichen Aussagen über die Musik gefüttert wird. „Wir sind ständig im Internet unterwegs und schauen, was die Leute über Musik sagen“, erklärt Whitman diesen zweiten Schwerpunkt der Musikanalyse. „Nehmen wir an, es gibt einen neuen Künstler und über ihn ist in Blogs oder News zu lesen, dass er Pop-Punk macht. Wenn wir also eine Korrelation zwischen der Häufung eines Künstlernamen und einem spezifischen Genre erkennen, können wir auch andere Musik damit verknüpfen, die so ähnlich klingt und sie wiederum diesem Genre zuordnen.“

Dazu hat The Echo Nest ein Redaktionsteam aufgestellt, das auch dabei helfen soll, das Problem der Uneindeutigkeit von heutiger Popmusik zu lösen. Was in den letzten Jahren die Charts anführt, ist immer mehr ein Mix aus allen erdenklichen Einflüssen und lässt sich nicht mehr eindeutig einem Genre zuordnen. So klingt ein von Usher aus dem Jahr 2014 nicht mehr nach dem gefühlvollem R&B der späten 90er Jahre, sondern erinnert eher an den Sound aus der nächsten Großraumdisko. „Wir sehen Künstler nicht als eine Einheit, die sich nie verändert“, sagt Whitmann. Die Musik von Usher werde deswegen nicht mehr nur als R&B getaggt.

„Jemandem, der gerne Usher hört, empfehlen wir nicht einfach seinen beliebtesten Song, sondern berücksichtigen es auch, wenn dieser Nutzer nicht gerne elektronische Musik hört.“ Das sei besonders auch bei Künstlern wie Led Zeppelin oder Pink Floyd wichtig, deren Sound sich über die Jahrzehnte stark verändert hat. „Es gibt Menschen, die die neue Musik von Pink Floyd nicht mögen, und das berücksichtigen wir, indem wir die unterschiedlichen Sounds der Künstler verstehen.“

Manche User bewerten jeden Song, weil sie denken, dass sie der Maschine etwas schuldig sind.

Brian Whitman

Die dritte große Komponente neben der Analyse von Audiodaten und der Auswertung von Äußerungen über Musik ist das sogenannte kollaborative Filtern. Eine Methode, die Spotify schon nutzte, bevor The Echo Nest ein Teil des Unternehmens wurde. „Sie hören zehn Künstler und ihr Freund kennt nur neun von denen — der zehnte wird ihm dann von Spotify empfohlen“, erklärt Whitman das Prinzip. Das Nutzerverhalten auf diese Weise auszuwerten, sei besonders dann hilfreich, wenn es um neue Musik gehe, die Leute zwar oft hören, aber über die sie noch nicht sonderlich viel reden. „Die bestmöglichen Musikempfehlungen basieren heute auf Audiodaten, Äußerungen über Musik im Internet und dem kollaborativen Filtern von Nutzerdaten“, sagt Whitman.

All diese Dinge fließen ein, wenn Nutzer über die „Entdecken“-Funktion bei Spotify nach neuer interessanter Musik suchen oder mithilfe der „Radio“-Funktion eine geshuffelte Playlist starten, die auf einem gerade gehörten Song, Album oder Künstler basiert. Gefällt einem das Lied oder schießt die Empfehlung komplett am Ziel vorbei, gibt es die Möglichkeit, Spotify das per Daumen hoch oder runter mitteilen. „Es gibt User, die jeden Song bewerten, weil sie denken, dass sie der Maschine etwas schuldig sind, und das System personalisieren wollen“, erzählt Whitmann. „Das ist großartig für uns. Je mehr wir über den Geschmack der Nutzer wissen, desto besser ist es für die Genauigkeit unserer Vorschläge. Ich würde mir aber wünschen, dass die Bewertungsfunktion irgendwann obsolet wird, weil die Vorschläge von Spotify perfekt sind.“

Perfekte Musikvorschläge bedeuten aber auch, nicht nur gut aufeinander abgestimmte Songs abzuspielen, sondern auch die richtige Musik zu einer spezifischen Tageszeit oder Stimmung anzubieten. Besucht man die „Browse“-Page von Spotify, bekommt man morgens etwa Playlists mit Kaffeehaus-Jazz angezeigt, während am Freitagabend Listen für die anstehende Partynacht auf den vorderen Plätzen stehen. Die Recherche für diese stimmungs- und themenabhängigen Playlisten findet im sogenannten Data Warehouse von Spotify statt. Hier versuchen Redakteure herauszufinden, was die Leute gerne in welcher Situation hören möchten, und stellen gleichzeitig fest, ob Spotify schon eine Playlist für diese Stimmung oder diesen Anlass hat. „Sie haben zum Beispiel herausgefunden, dass manche Nutzer Spotify benutzen, um besser einschlafen zu können. Mit ihrer Expertise haben sie dann eine Schlaf-Playlist mit Ambient-Instrumentalmusik und geringer Geschwindigkeit zusammengestellt“, erklärt Spotify-Produktmanager Miles Lennon.

Wir identifizieren Menschen, die ein Händchen dafür haben, gute Playlists zusammenzustellen.

Miles Lennon

Aber nicht nur Redakteure helfen beim Kuratieren der über 30 Millionen Songs, auch viele der 60 Millionen User stellen täglich Playlisten zusammen — seit dem Start von Spotify sind über 1,5 Milliarden Stück zusammengekommen. Für besonders geschmackssichere Listenmacher hat Spotify das Tastemaker-Programm ins Leben gerufen, bei dem Nutzer zu sogenannten Playlistern werden können. „Wir identifizieren Menschen, die offensichtlich ein Händchen dafür haben, eine gute Auswahl an Songs zusammenzustellen und lassen sie zu einem Teil unseres erweiterten redaktionellen Teams werden. Ihre Playlists werden dann prominent platziert“, erklärt Lennon.

Egal ob Empfehlungen von Freunden, Songvorschläge, die auf Lieblingsliedern basieren, oder von an Tageszeit, Stimmung oder Tätigkeit der User abgestimmte Playlisten — worum es Spotify letzten Endes geht, ist: den User verstehen. So gut, dass nach Möglichkeit irgendwann in Echtzeit vorhergesagt werden kann, welchen Song er als nächstes hören möchte. Du brauchst zehn Minuten im Bad? Dann bekommst du drei Wachmacher-Tracks mit hoher BPM-Zahl. Dein Tee zieht fünf Minuten und der Toast braucht zwei? In der Zeit haben wir ein bisschen Feel-Good-Gedudel für dich. Danach möchtest du dich beim News-Lesen gern konzentrieren? Spotify hat auch dafür die richtige Mood-Musik parat.

Ein Algorithmus soll dich anleiten, aber dir auch genug Raum lassen, um dir eigene Gedanken zu machen.

Brian Whitman

Allerdings: „Was bisher niemand geschafft hat und worauf ich sehr gespannt bin, ist es, die langfristige Entwicklung von Musikgeschmäckern auszuwerten“, sagt Brian Whitmann. „Die meisten Leute nutzen Spotify ja erst seit ein paar Jahren. Aber angenommen, Sie hätten schon Spotify benutzt, als Sie noch ein kleiner Junge waren, dann würde sich diese Phase ihrer musikalischen Sozialisation umgehend auf die Musikempfehlungen im Jetzt auswirken.“ Noch würden Musikempfehlung aber leider nur aktuelle Hörgewohnheiten berücksichtigen.

Bis zur perfekten musikalischen Mensch-Maschine-Interaktion, dem individuell abgestimmten Radio-Livestreams mit der Spieldauer eines ganzen Lebens, ist es also noch ein weiter Weg. Auch weil es noch an der subtilen Integration in den Alltag der Nutzer hapert. Immerhin sind die allzu aufdringlichen Versuche der Kontaktaufnahme mit den Usern („Du hast dir zuletzt Katy Perry angehört, vielleicht gefällt dir auch Charli XCX“) mittlerweile wieder von der Startseite der Spotify-App verschwunden. Der anbiedernde Coolness-Sprech ist unaufgeregteren Empfehlungen zu einzelnen Künstlern oder Songs gewichen. Brian Whitman hält diese Subtilität für sinnvoll: „Ein Algorithmus soll dich anleiten, aber dir auch genug Raum lassen, um dir deine eigenen Gedanken zu machen.“

Welche Sounds werden unsere Zukunft bestimmen? Wer wird sie für uns erschaffen? Und womit? Das erfahrt ihr den ganzen Februar lang in unserem Themen-Special „Zukunft der Musik“ auf WIRED.de. 

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