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Wie der „Vater des Internets“ heute auf sein Kind blickt

von Kai Schächtele
Vinton Cerf ist der „Chief Internet Evangelist“ von Google. Weil er das Verbindungsprotokoll TCP/IP mitentwickelt hat, gilt der 73-Jährige außerdem als einer der Väter des Internets. WIRED traf den Informatiker in Berlin zum Gespräch über den Zustand seiner Schöpfung in Zeiten von Social Media, Hate Speech und Fake News.

WIRED: Herr Cerf, Sie gelten als einer der Väter des Internets. Sind Sie zufrieden, wie sich Ihr Kind entwickelt hat?
Vinton Cerf: Mit dem Internet selbst: ja. Etwas weniger mit den Menschen und damit, was sie mit dieser an sich neutralen Plattform machen. Eine Plattform weiß nicht, was Menschen mit ihr anfangen, sie leitet nur Bytes durch die Welt. Vom Standpunkt der Infrastruktur ist das Netz also ein großer Erfolg. Vom Standpunkt des Umgangs damit ist die Bandbreite jedoch dramatisch groß zwischen nützlichen Inhalten und Dingen, von denen man sich wünscht, dass die Leute sie nicht tun würden. Ich habe keine einfache Lösung für dieses Problem. Ich kann nur Strategien vorschlagen, um den schlechten Teil des Internets zu bekämpfen.

WIRED: Was ist denn verkehrt mit den Menschen?
Cerf: Wir sind anfällige Wesen und wir haben Schwächen. Wer eine neutrale Infrastruktur errichtet, muss also damit rechnen, dass sie missbraucht wird, das ist nicht neu. Als der Telegraph erfunden wurde, dauerte es nicht lange, bis Menschen anfingen, mit seiner Hilfe zu betrügen. Dasselbe passierte beim Telefon. Die Öffentlichkeit besteht auf der einen Seite aus Menschen, die sich für andere einsetzen und im Netz Gutes tun, und auf der anderen Seite aus solchen, die sich die Verletzlichkeit anderer zunutze machen wollen. Wir hatten lange Jahre das Glück, dass wir, die hauptsächlich am Internet arbeiteten, alle „Geeks“, also Ingenieurs-Freaks waren. Wir sahen unsere Leidenschaft nicht darin, das System zu korrumpieren, sondern wollten, dass es funktioniert. Es kam uns gar nicht in den Sinn, dass Leute auf Ideen wie Denial-of-Service-Angriffe kommen würden. Doch irgendwann kamen Motive ins Spiel, die sich von unseren sehr unterschieden.

Wenn es Technologien gibt, mit denen wir Missbrauch verhindern können, müssen wir sie anwenden

Vinton G. Cerf

WIRED: Hacking, Hate Speech, sogenannte Fake News – was schlagen Sie vor, damit diese Phänomene nicht überhandnehmen?
Cerf: Wenn es Technologien gibt, mit denen wir Missbrauch verhindern können, müssen wir sie anwenden. Ein Beispiel ist die Verschlüsselung unserer Kommunikation. Wir haben bei Google Vertraulichkeits-Mechanismen eingeführt, als klar wurde, dass jemand in unser Kommunikationssystem eindringen wollte, um Informationen abzugreifen. Und wir haben einen Zwei-Schritt-Verifizierungs-Mechanismus eingerichtet, um es unwahrscheinlicher zu machen, dass ein Passwort geknackt wird. Bei YouTube haben wir Technologien entwickelt, die illegale Inhalte wie Kinderpornographie oder urheberrechtlich geschütztes Material aufspüren und von unseren Servern löschen. Und wir können zu den Menschen natürlich auch einfach sagen: Tu das nicht, denn es ist falsch! Das hilft manchmal auch.

WIRED: In ihrer Keynote auf dem Princeton-Fung Global Forum am Montag in Berlin sagten Sie: Wie wir mit dem Netz umgehen, ist eine Frage der Eigenverantwortung. Sie haben vorgeschlagen, schon Kinder darin zu erziehen, seriöse von unseriösen Quellen zu unterscheiden und Inhalte kritisch zu hinterfragen. Machen Sie es Unternehmen wie Google und Facebook damit nicht zu einfach, sich ihrer Verantwortung zu entziehen?
Cerf: Da haben Sie mich nicht richtig verstanden. Natürlich müssen Facebook, Google, Microsoft und viele andere Verantwortung übernehmen. Das bedeutet aber nicht, dass der Rest der Gesellschaft sich seiner Verantwortung entziehen kann. Ich habe in den vergangenen Monaten immer wieder von „geteilter Verantwortung“ gesprochen: Jeder muss sich auch um seine eigene Sicherheit kümmern. Das gilt auch für mich als jemanden, der bei Google arbeitet. Meine Aufgabe ist es, Sie mit Instrumenten zu versorgen, mit denen Sie ihre Sicherheit gewährleisten können. Aber wenn Sie diese nicht nutzen und Ihr Account geknackt wird, dürfen Sie nicht Google dafür verantwortlich machen.

WIRED: Aber wieviel Verantwortung können wir dann von Unternehmen wie Google oder Facebook einfordern? Wo verläuft die Grenze zwischen staatlicher Regulierung auf der einen und Meinungsfreiheit und unternehmerischer Freiheit auf der anderen?
Cerf: Google und Facebook sind besondere Organisationen im Vergleich zu allem, was wir in der Vergangenheit gesehen haben. Wir sind keine Medienunternehmen, wir haben keine redaktionelle Kontrolle über Inhalte, die User auf unsere Plattformen setzen. Was wir tun: Für Inhalte, die nicht raus in die Welt gehen sollen, wie etwa Kinderpornographie, betreiben wir viel Aufwand, technologisch wie personell, um Menschen vor ihnen abzuschirmen. Dasselbe gilt für urheberrechtlich geschützte Inhalte. Aber es gibt keine einfachen Algorithmen, mit denen man Inhalte identifizieren kann, die gefälscht oder illegal sind. Das zu erkennen, ist ein besonders kniffliges Problem.

WIRED: Aber nehmen Sie den Fall der mazedonischen Jugendlichen, die gefälschte Inhalte von Pro-Trump-Websites kopierten. Der einzige Grund, warum ihr Business-Modell so erfolgreich war, war, dass sie mit Google-Ads viel Geld verdienen konnten. Damit wird Google automatisch Teil des medialen Ökosystems.
Cerf: Und unsere Reaktion war, dass wir die Monetarisierung solcher Inhalte unterbunden haben. Das Problem bei politischen Inhalten ist aber, dass es nicht offensichtlich ist, ob sie nach vernünftigen Maßstäben inakzeptabel sind oder nicht. Und es ist noch schwieriger, einen Algorithmus zu entwickeln, der solche inakzeptablen Inhalte identifiziert. Wir sind ständig damit konfrontiert, dass Menschen das System austricksen wollen. Bei politischen Inhalten haben wir es jetzt etwa mit Bots zu tun, die die Sichtbarkeit der Botschaften erhöhen, zum Beispiel auf Facebook. Sie können eine Population aus Bots erschaffen, die die gesamte Menschheit zahlenmäßig übertrifft und mit ihr die Statistiken zu beeinflussen. Dann kann der Algorithmus nicht mehr so arbeiten, wie es gedacht war. Das ist der Kampf, in dem wir jeden Tag stecken.

Würde man das in der physischen Welt versuchen, müsste man bei den Leuten zu Hause einbrechen und das Buch aus dem Regal holen

Vinton G. Cerf

WIRED: Also lehnen Sie es kategorisch ab, Firmen wie Google oder Facebook als Medienunternehmen einzustufen?
Cerf: Ich habe Sorge, was die Implikationen wären, wenn man sie als Medienunternehmen labeln würde. Das ist eine Frage der Größe: Wir operieren auf einem Maßstab, den es in der Geschichte der Menschheit nie zuvor gab. Es gibt sieben Milliarden Bürger und damit potenzielle Quellen von Content. Sie alle können Dinge veröffentlichen, auf die theoretisch jeder andere Mensch auf dem Planeten zugreifen kann. Wenn wir uns also fragen, was wir gegen die Dinge tun können, die wir als missbräuchlich betrachten, müssen wir diese Frage im Kontext dieses Maßstabs stellen. Das einzige Werkzeug, das wir haben, um auf dieser Größenordnung zu operieren, ist das Ding, das wir Computer nennen. Und wir wissen, dass die Software, die wir aktuell schreiben können, ihre Grenzen hat. Wie beurteilt man die Qualität von Information, die potenziell von sieben Milliarden Menschen kommen kann? Kann man ein gigantisches neuronales Netz bauen, das dabei hilft? Ich kenne die Antwort nicht, ich weiß nicht, ob wir Qualität auf konkretem numerischem Wege berechnen können. Und solange wir das aber nicht können, sind auch neuartige Computertechnologien wie neuronale Netze bei der Lösung dieses Problems wahrscheinlich nutzlos.

WIRED: In einer Diskussion nach Ihrer Keynote sagten Sie: Wir sollten nicht alle Maßnahmen anwenden, die technologisch möglich sind. Eine „Because we can“-Begründung allein reiche nicht aus. Was meinten Sie damit?
Cerf: Erinnern Sie sich, was Amazon mit dem Kindle-Reader passiert ist? Sie haben ein Buch vertrieben, von dem sie zu spät erkannten, dass sie gar nicht das Recht hatten, es auf elektronischem Wege zu verbreiten. Und nur weil sie es konnten, haben sie es wieder von allen Kindles entfernt. Wissen Sie, welches Buch das war? George Orwells 1984 – das schlimmstmögliche Werk für die Demonstration einer solchen Möglichkeit. Würde man das in der physischen Welt versuchen, müsste man bei den Leuten zu Hause einbrechen und das Buch aus dem Regal holen. Eine Idee, auf die niemand kommen würde. Aber warum halten es Menschen dann für akzeptabel, elektronische Regale leerzuräumen oder Inhalte zu filtern, nur weil es möglich ist?

WIRED: Man kann es auch anders herum sehen: Es geht nicht darum, dass jemand in die Häuser von Usern eindringt, sondern Unternehmen wie Facebook laden Menschen in ihr Haus ein und legen eine Hausordnung fest. Sie können dann zum Beispiel bestimmte Äußerungen verbieten oder die Verbreitung bestimmter Inhalte.
Cerf: Alle New-Media-Unternehmen haben ihre Geschäftsbedingungen. Wir nutzen diese, um zu sagen: Wenn wir auf unseren Servern Inhalte finden, die gegen unsere Regeln verstoßen, behalten wir uns das Recht vor, sie zu entfernen oder den Account zu sperren. Das ist ganz normale Geschäftspraxis und Teil einer Vereinbarung zwischen dem Unternehmen und dem Kunden – aber nicht dasselbe wie Regulierung. Die ist eine staatliche Maßnahme.

WIRED: Das Verhältnis zwischen Facebook und seinen Kunden geht aber doch zum Beispiel weit über solche Geschäftsmodell-Kategorien hinaus. Was Facebook tut oder nicht, davon sind ganze Gesellschaften betroffen. Inwieweit müssen Geschäftsbedingungen an den Auftrag angepasst werden, der sich daraus ergibt?
Cerf: Abgesehen von Facebook, wozu ich mich nicht äußern kann, ist das die entscheidende Frage: Wie gehen wir mit Systemen um, die große gesellschaftliche Auswirkungen haben? Es gab in der Geschichte noch nie eine vergleichbare Situation, wir haben nichts, worauf wir uns beziehen könnten. In den Massenmedien gab es immer eine relativ überschaubare Anzahl von Kontrollinstanzen: Verleger, Chefredakteure, Reporter. Man konnte jeder Instanz eine Verantwortung zuweisen. Aber jetzt haben wir die historisch einmalige Situation, dass jeder eine Inhalte-Quelle sein kann. Jedes Unternehmen hat ein natürliches Interesse, Gesetze einzuhalten, sonst kann es nicht überleben. Individuen gehen mit rechtlichen Beschränkungen anders um. Mich amüsiert es in gewisser Weise, dass die Technologie unsere Fähigkeit, die sozialen Auswirkungen zu bewerten, längst überholt hat. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind in Ägypten und sehen sich die Pyramiden an. Eine Touristin bittet einen Fremden, ein Foto zu machen, und Sie sind zufällig darauf zu sehen. Zu Hause lädt sie das Bild bei Facebook hoch. Ihre Freundin sieht es, erkennt Sie und denkt sich: Moment mal, er hat doch erzählt, er sei in London. Sie werden zum Opfer von etwas, das niemand im Sinn hatte, als das Smartphone entwickelt wurde: die Kombination aus einem Telefon, einer Kamera und einem Massenmedium wie Facebook. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Welche Maßnahmen sollten wir ergreifen, welchen gesetzlichen Rahmen sollen wir uns geben, um Auswirkungen wie den Ärger zu vermeiden, den Sie bekommen, weil Sie auf einem Foto aus Ägypten zu sehen sind?

WIRED: Ihre Forderung lautet also nicht, keine Antworten zu formulieren, sondern uns mehr Zeit zu geben, um überhaupt erst einmal die richtigen Fragen zu stellen?
Cerf: Ich zumindest habe noch keine Idee für einen gesetzlichen Rahmen, der die negativen Effekte des Netzes ausschaltet, ohne den großen Wert der Meinungsfreiheit zu beschädigen.

Das Internet wird aus unserem Denken weitgehend verschwunden sein, es wird so selbstverständlich sein wie das Stromnetz

Vinton G. Cerf

WIRED: Vor 50 Jahren begann mit dem ARPANET das, was zum Internet wurde, wie wir es heute kennen. Wie wird das Netz in 50 Jahren aussehen?
Cerf: Das Internet wird aus unserem Denken weitgehend verschwunden sein, es wird so selbstverständlich sein wie das Stromnetz. Wir wachen heute auch nicht auf, haben Angst, dass der Strom ausfallen und das Vanilleeis im Gefrierschrank schmelzen könnte, und gehen in die Küche, um es schnell aufzuessen. Es kümmern sich andere darum, dass das Stromnetz stabil ist. So wird es mit dem Internet auch laufen: Es ist einfach da. Vielleicht nutzen wir dann Licht- statt Radiowellen zur Übertragung, was einige Vorteile hat. Und das Internet of Things wird in 50 Jahren überall sein.

WIRED: Und bezogen auf Regulierungsfragen?
Cerf: Ich hoffe, dass wir bis dahin bewusster mit Informationen und ihren Quellen umgehen und kritischer auf die Zuverlässigkeit von Informationen blicken. Wahrscheinlich haben wir in 50 Jahren einen gesetzlichen Rahmen dafür, wie wir mit dem Missbrauch des Kommunikationssystems umgehen. Entweder haben wir einen Weg gefunden, schlechtes Benehmen besser zu managen, oder wir haben Systeme entwickelt, es abzustellen. Das geht mit Bildung, aber auch mit verbesserten Technologien und Instrumenten, um Missbrauch zu unterbinden. Und ich hoffe, dass bis dahin einige der Ideen von Brad Smith (der Präsident von Microsoft, Anm. d. Red.) verwirklicht sein werden. Sein Credo ist es, die internationale Kooperationen auszubauen, und es ist keine Frage, dass dies notwendig ist, um dem Missbrauch Herr zu werden. Das kann kein Land allein schaffen.

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