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Twitter auf 10.000 Zeichen: gut oder blöd? Ein Pro & Contra

von Elisabeth Rank
Kurznachrichtendienst? Nicht mehr lange: Twitter will offenbar das 140-Zeichen-Limit aufheben und Nutzern erlauben, Tweets mit bis zu 10.000 Zeichen abzusetzen. Ein schlauer Schachzug — oder ein falscher Schritt in die Belanglosigkeit? Zwei Meinungen aus dem WIRED-Team.

Contra – von Karsten Lemm

Es war immer schon diese eingebaute Begrenzung, die Twitter zu etwas Besonderem gemacht hat.

Der Chef hat es schonmal vorgemacht: Auf zehn Absätzen erklärte Jack Dorsey seinen 3,33 Millionen Followern, warum Twitter vorhat, die 140-Zeichen-Schranke aufzuheben. Und weil die Technik noch nicht so weit ist, musste der Chef dafür einen Trick nutzen: Der Text ist in Wahrheit ein Bild, nur so kommt @jack um die künstliche Begrenzung herum — genau wie jeder andere, der länglich tweeten will.

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Die große Freiheit, sich künftig auf bis zu 10.000 Zeichen auszubreiten, soll XXL-Tweets bequemer und Twitter nützlicher machen: Text lässt sich durchsuchen und mit Highlights markieren. „Das bedeutet mehr Nutzen und Power“, argumentiert Dorsey.

Nur: Es war immer schon diese eingebaute Begrenzung, die Twitter zu etwas Besonderem gemacht hat. Der Zwang zur Kürze zwingt auch zu Kreativität, zum Neue-Wege-Finden, um Gedanken auf den Punkt zu bringen. Das hält Twitter schlank und drückt aufs Tempo. Gerade weil man keine Romane tweeten kann (ohne sich zu verbiegen), schaut alle Welt auf Twitter, wenn irgendwo etwas Weltbewegendes passiert: Twitter ist der beste Live-Nachrichtendienst, der je erfunden wurde. Nahe am Geschehen, sekundenschnell, authentisch.

Doch das reicht offenbar nicht. Twitter kämpft mit mauen Wachstumsraten und wird an der Wall Street als ewiger Möchtegern-Durchstarter gehänselt, der reichlich Potenzial hat, aber es einfach nicht auf die Reihe kriegt. Ein Einserkandidat, der immer nur Vieren schreibt.

Jetzt also lange Debatten als neues Killerfeature? Sorry, @jack, aber ich glaube, das geht nach hinten los. Die Herausforderung liegt ja nicht darin, dass Twitter-Nutzer keinen Weg haben, sich zu unterhalten oder ihre Meinung zu verbreiten. Das Problem ist zu viel Information: ein endloser Strom an Tweets, aus dem Botschaften oft nur noch herausstechen, wenn sie in Begleitung von Fotos oder animierten GIFs daherkommen.

Was Twitter wirklich braucht, sind bessere Möglichkeiten, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen — individuell, je nach Nutzer, Situation und aktuellem Interesse. Dynamische Filter und endlich eine Suchfunktion, die es schafft, das Hintergrundrauschen auszublenden. Denn bisher ist die Twitter-Suche erbärmlich, daran haben auch #hashtags (erfunden von den Twitter-Fans selbst) und viele Verbesserungsbemühungen der Firma kaum etwas geändert. Zu bestimmten Themen die besten Tweets zu finden erinnert an das Herumstochern im WWW, ehe Google kam.

So, das waren jetzt etwas mehr als 2300 Zeichen. Wäre dies ein Tweet von morgen, könnte ich noch dreimal so viel schreiben, ehe Twitter sagt: „Halt, stopp!“ Ist das dann wirklich noch Twitter? Oder einer von tausend anderen Web-Diensten, bei denen jeder sich ausführlich ausquaken kann, ganz nach Belieben? Deshalb: 

@jack: #Twitter10 – denk noch mal drüber nach. Das Limit ist eure Stärke.

 

Pro – von Elisabeth Rank

Ich darf wählen? Super!

So ist der Mensch nun einmal: Er mag Begrenzungen und Vorgaben. Obwohl er sich selbst in dieser Rolle nicht gefällt. Doch nimmt ihm jemand das Geländer ab, an das er sich gewöhnt hat, dann empört er sich. Das kann er gut. Denn klare Vorgaben wie „Das darfst du“ und „Das darfst du nicht“ nehmen ihm eine Anstrengung ab: die eigene bedachte Entscheidung. Twitter kann nur 140 Zeichen? Knaller. Doch wie wäre es, Dienste nicht anhand ihrer Begrenzungen, sondern anhand ihrer Möglichkeiten zu messen? Ich darf wählen? Super! 

„Es ist zuviel!“, ruft der bequeme Twitterer, der sich in seinen 140 Zeichen flauschig eingerichtet hat. Und vergisst dabei, dass er sich auf Twitter wie auch auf anderen linearen, sozialen Netzwerken die eigene Timeline selbst kuratiert. Der Nutzer bestimmt auf Twitter immer noch, wer im eigenen Stream landet und wer eben nicht. Zu viel? Dann miste aus. Hinterfrage deine Quellen. Bewerte die Accounts, denen du folgst. Triff eine Entscheidung.

Zu anstrengend? Entschuldigung. Erst neulich beschwerten sich noch so viele über die immer geringer werdende Aufmerksamkeitsspanne und das achso flüchtige Internet. Aber längere Stücke lesen will dann doch niemand. (Kann der Mensch auch gut: Vorwürfe machen, die immer nur für die anderen, aber doch bitte nie für einen selbst gelten).

Manche Dinge ändern sich ja zum Glück nie

Denn aus Business-Perspektive macht Twitter einen logischen Schritt: Zum einen muss der Dienst die Absprungrate begrenzen und die Klickraten erhöhen. Das macht man (genau wie Facebook), indem man Strukturen schafft, welche die Nutzer auf der Plattform halten und nicht durch Links woandershin schieben. Muss man als Unternehmen wachsen, trifft man diese Entscheidung. 

Und Twitter hat keine Wahl.  Denn sie sind spät dran mit der Umsetzung von Refinanzierungsmodellen. Der Nutzer kann sich nun entscheiden (oh Gott, schon wieder Anstrengung): Möchte er weiterhin über einen linearen Twitter-Stream kommunizieren, in dem neben Bildern auch mal längere Texte auftauchen, die vermutlich manche Diskussion verbessern werden? Oder war die Vorschrift von 140 Zeichen wirklich so elementar, dass man dem Dienst den Rücken kehrt?

Manche Dinge ändern sich ja zum Glück nie: So sehr der online publizierende Mensch klare Vorgaben schätzt, so sehr hasst er Veränderung. Auch wenn er sich nach einer Woche vermutlich dran gewöhnt hat. Beispiele für diese Gewöhnung nach erster, reflexartiger Empörung sehen wir nach jedem beliebigen Udpate. Schaffen wir es also durch die erste Woche nach Einführung der neuen Tweetlänge, twittern alle wieder wie eh und je – schnell, linear und hochgradig emotional. Cause: It’s your twitter and you can cry if you want to. Und dafür wird dann genug Platz sein. 

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