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The Syrian Archive rekonstruiert Luftangriffe auf Krankenhäuser

von Sonja Peteranderl
Mit Open-Source-Beweisen und Augenzeugenberichten hat The Syrian Archive Attacken auf Krankenhäuser in Syrien rekonstruiert. Die Beweise sollen dabei helfen, Kriegsverbrechen aufzuarbeiten.

Im zehnminütigen Rhythmus schlugen Raketen in das Krankenhaus ein, rissen Krater in Dächer und Wände, Patienten flohen in den Keller, Babys in der Inkubatorstation wurden verletzt. Vor den drei Luftangriffen Anfang April 2017 war das Maaret al-Numan-Krankenhaus eine der größten medizinischen Einrichtungen in der von Oppositionskräften besetzten Provinz Idlib in Syrien – danach lagen viele Gebäudeteile in Schutt und Asche, auch Operationsraum und Intensivstation waren zerstört.

Die Attacke auf das Maaret al-Numan-Krankenhaus war der Auftakt einer Serie von Luftangriffen auf medizinische Einrichtungen in Idlib, die der Bericht Medical Facilities Under Fire dokumentiert. Mit Open-Source-Material wie Videos, Satellitenbildern, Flugdaten, aber auch Augenzeugenberichten hat die Initiative The Syrian Archive zusammen mit den Menschenrechtsorganisationen Syrians for Truth and Justice und Justice for Life sowie dem Recherchenetzwerk BellingCat Attacken auf Krankenhäuser rekonstruiert.

Die acht untersuchten Fälle zeigen, wie Kampfflieger der syrischen Regierung und Russlands gezielt medizinische Einrichtungen zerstören. Ohne Vorwarnung, in der Regel folgten mehrere Luftschläge hintereinander, so dass auch Helfer überrascht wurden, die Verletzte der vorigen Attacken versorgen wollten. Die Angriffe in dem von Rebellen kontrollierten Gebiet, das unterstreichen die erhobenen Daten, sind kein Kollateralschaden, sondern Teil der militärischen Strategie. „Die Intensität der Attacken war sehr hoch in diesem Monat: Acht Krankenhäuser wurden allein in Idlib eines nach dem anderen angegriffen, manchmal zwei pro Tag“, sagt Hadi Al Khatib, Gründer von The Syrian Archive. In ganz Syrien wurden im April 2017 mindestens 25 medizinische Einrichtungen bombardiert — eine Attacke alle 29 Stunden.

Die von Rebellen kontrollierte Provinz Idlib nahe Aleppo haben die Angreifer besonders im Visier: Als die Regierungstruppen 2016 Aleppo einnahmen, strömten immer mehr Oppositionskräfte, aber auch Flüchtlinge nach Idlib. „Idlib ist das größte von der Opposition kontrollierte Gebiet, sie attackieren diese Region, um die Zivilbevölkerung dazu zu zwingen, zu fliehen“, erklärt Al Khatib. „Die Leute müssen entweder zurück in die von der Regierung kontrollierte Region oder in die Türkei fliehen.“

Das humanitäre Völkerrecht sieht vor, dass Krankenhäuser, Sanitätsfahrzeuge, medizinisches Personal, Zivilpersonen und Verletzte in Konflikten verschont werden – die Realität sieht anders aus. Im Syrien-Konflikt wurden Krankenhäuser von Anfang an angegriffen oder als Basen missbraucht. Scharfschützen schossen etwa von Krankenhausdächern auf Demonstranten, Krankenhäuser gelten als Zielscheibe. „Wer in Syrien in einem Krankenhaus Hilfe sucht, begibt sich in Lebensgefahr“, so Ärzte ohne Grenzen. Die Organisation unterstützt Hilfseinrichtungen in Syrien, teilt der Regierung aber keine GPS-Koordinaten von Einrichtungen mehr mit, weil die Standortdaten für Angriffe missbraucht werden könnten. 

2012 verabschiedete Syrien unter Präsident Bashar al-Assad ein Gesetz, das medizinische Einrichtungen für illegal erklärte, die nicht von der Regierung genehmigt werden. Da Hilfseinrichtungen in Oppositionsgebieten nicht zugelassen werden, operieren sie illegal. Medizinische Unterstützung für die Opposition wird zudem kriminalisiert. „Die syrische Regierung sieht es als okay an, medizinische Einrichtungen anzugreifen, sie tun nach ihrer Definition nichts Falsches“, sagt Hadi Al Khatib. „Aber internationalen Organisationen zufolge handelt es sich um Kriegsverbrechen.“

Der in Berlin lebende Syrier hat das Recherche-Kollektiv The Syrian Archive 2014 gegründet, um die Gewalt aller Kriegsparteien in Syrien zu dokumentieren: „Wir arbeiten mit Open Source Daten und sammeln und verifizieren täglich visuelle Beweise wie Videos aus sozialen Netzwerken.“

Wie andere nichtstaatliche Initiativen trägt The Syrian Archive so Puzzlestücke der Gewalt in Syrien zusammen, die andernfalls unsichtbar bleiben würden. Mit digitalen Tools und Open Source Intelligence (OSINT), frei verfügbaren Informationen, übernehmen NGOs zunehmend Ermittlerarbeit: Auch Amnesty International setzt auf Open-Source-Recherchen, Human Rights Watch hatte 2015 die Schicksale syrischer Gefangener in Militärgefängnissen nachvollzogen.

Bei The Syrian Archive fallen etwa 400 neue Videos täglich an, die das sechsköpfige Team prüft, kategorisiert und in einer Datenbank archiviert. Sie arbeiten auch mit einem Netzwerk von Journalisten und Bürgerjournalisten in Syrien zusammen. Al Khatib will als unabhängiger Beobachter agieren, auch wenn die meisten Videos Gewalttaten der syrischen Regierung und ihrer russischen Unterstützer zeigen: „Man könnte sagen, wir stellen uns auf eine Seite, aber die Mehrheit der Beweise zeigt einfach die Haupttäter, 80 Prozent der Videos beziehen sich auf Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung oder Russland.“

Um die acht Attacken im April 2017 in Idlib zu rekonstruieren, haben sie 75 Videos ausgewertet, etwa mit GoogleEarth und mithilfe von Referenzpunkten wie Bergen, Gebäudeumrissen oder Minaretten. Mit Satellitenbildern, die sie von einer Firma erhielten, die Aufnahmen für Google macht, konnten sie die Positionen verifizieren und Schäden an den Gebäuden kurz vor und nach den Attacken vergleichen. Bei der Spurensuche wurden digitale Beweise durch Offline-Recherchen ergänzt: Die syrischen Partnerorganisationen interviewten vor Ort Augenzeugen wie Ärzte, Patienten oder Angehörige und sahen sich die Schäden an. „Die Kommunikation mit den Leuten vor Ort war sehr schwierig“, so Al Khatib. „Wir haben drei Monate gebraucht, um die Infos zu bekommen und alles zu verifizieren, um sicherzustellen, dass die Aussagen korrekt sind.“

Auch Indizien aus der Luft kamen zum Einsatz: Von einer Organisation, die Flüge beobachtet, erhielt das Team mehr als 6000 Flugdaten, mit denen es nachvollziehen konnte, welche Flugzeuge vor den Angriffen in der Nähe der Ziele gesichtet wurden. Sie verglichen und visualisierten Flüge, die Zeiten, zu denen sie beobachtet wurden, und die Flugrichtung, und kombinierten sie mit anderen Geodaten. In der Luft kreisende Flugzeuge deuteten etwa auf einen bevorstehenden Angriff hin. Ob russische oder syrische Piloten die Angriffe verantworteten, ist aber nicht in jedem Fall eindeutig zuzuordnen, da die syrische Luftwaffe auch russische Flugzeuge benutzt. Auch die Herkunft und der Typ von Munition wurde anhand von Bildmaterial identifiziert.

„Vieles bleibt unsichtbar, was in Syrien passiert – es gibt zwar immer wieder Medienberichte, aber keine tiefe Analyse“, so Al Khatib. „Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass diese Angriffe einem Muster folgen und wir wollen mit unseren Recherchen Untersuchungen der Vorfälle voranbringen“. Den Bericht will The Syrian Archive auch UN-Organisationen zur Verfügung stellen. Die Beweise könnten bei der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen hilfreich sein.

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