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CrimeWatch / Wie man Folterverbrechen mit Open-Source-Tools aufdeckt

von Sonja Peteranderl
Digitale Tools und Beweise aus dem Internet helfen auch NGOs dabei, Verbrechen zu rekonstruieren — wie das Schicksal syrischer Gefangener. Eine neue Folge unserer Cybercrime-Kolumne.

Sie haben Brandwunden, zerschmetterte Schädel oder gebrochene Rippen: Die Fotos von Folteropfern, die ein desertierter Militärfotograf im Herbst 2013 aus Syrien herausgeschmuggelt hat, sind Zeugen der brutalen Gewalt, die in den Militärgefängnissen zum Alltag gehört. Zehntausende wurden im Krieg weggesperrt, von den meisten von ihnen fehlt jede Spur. In dem jetzt veröffentlichten Bericht If the Dead Could Speak: Mass Deaths and Torture in Syria’s Detention Facilities hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch nach einer neun Monate langen Recherche die Schicksale von 27 Menschen rekonstruiert, die zu Tode gefoltert wurden.

Neben Interviews mit Angehörigen, ehemaligen Inhaftierten und Mitarbeitern der syrischen Regierung kamen dabei auch Tools wie Metadatenanalyse, Geolokalisierungstechniken oder der Abgleich der Fotos mit Satellitenbildern zum Einsatz, um Aussagen zu verifizieren, die Toten und die Orte, an denen sie gestorben sind, zu identifizieren und aufzuklären, was mit den Leichen geschehen ist.

Mit digitalen Tools und Internet steht auch nicht-staatlichen Organisationen eine riesige Menge von Open Source Intelligence (OSINT), also Informationen aus frei verfügbaren Quellen, zur Auswertung zur Verfügung. Tools zur Analyse von Bild- und Videomaterial oder Kartendienste wie Google Maps oder Google Earth, aber auch Hinweise aus sozialen Netzwerken helfen, das Geschehen zu rekonstruieren und die Plausibilität von Thesen zu prüfen.

Grassroots-Recherchen von Privatpersonen, Journalisten oder NGOs konnten Ermittlungen anstoßen

So gelingt es zum Teil auch Privatpersonen und NGOs, Verbrechen aufzuklären. „Wir haben dutzende Geschichten akribisch verifiziert und gehen davon aus, dass die „Caesar”-Fotos authentische — und stark belastende — Beweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien sind”, so Nadim Houry, stellvertretender Leiter der Abteilung Naher Osten von Human Rights Watch.

„OSINT-Ermittlungen ermöglicht es jedem, sich von einem Nachrichtenempfänger in jemanden zu verwandeln, der zu den Nachrichten beiträgt“, schreibt das britische Recherchenetzwerk Bellingcat. Nicht immer sind die Ergebnisse eindeutig und unumstritten — doch zahlreiche Grassroots-Recherchen von Privatpersonen, Journalisten oder NGOs konnten schon wichtige Fragen aufwerfen, zum Teil Ermittlungen anstoßen, oder auch die Versionen der staatlichen Ermittlungsbehörden in Frage stellen, so dass Ermittlungen neu aufgerollt werden mussten. In Mexiko haben etwa Journalisten, unabhängige Experten und NGOs nach der Entführung von 43 Studenten den offiziellen Untersuchungsbericht angezweifelt und die Beteiligung des mexikanischen Militärs aufgedeckt. Sie hatten unter anderem Handydaten und Videos vom Tattag ausgewertet.

In sozialen Netzwerken sind Millionen von Hinweisen öffentlich zugänglich. Durch seine Twitter-Standortdaten verriet ein Neuseeländer, der sich Daesh (ISIS) angeschlossen hatte, etwa seinen Standort — Jeff Wyers vom privaten Open Source-Intelligence-Unternehmen iBrabo konnte ihn so in al-Taqbah in Syrien verorten. „Social Media bedeutet in etwa das, was DNA vor 30 Jahren bedeutete“, sagt Wyers, der Ex-Polizist ist. „In den letzten zehn bis zwölf Jahren sind zwar zahlreiche Polizei-Datenbanken entstanden, aber es gibt soviel mehr Informationen über Personen auf Social Media.“ Und: Jetzt hat eben nicht mehr nur die Polizei Zugang dazu.

Im Fall der syrischen Folteropfer erfuhren viele Angehörige erst auf Facebook vom Tod ihrer Familienmitglieder. Der Militärfotograf hatte Fotos an die syrische Organisation SAFMCD übergeben, die nach Verschwundenen sucht. Sie veröffentlichte im März 2015 mehrere tausend Fotos online, die Familienmitglieder durchsuchen konnten. Zahlreiche Facebookgruppen, die nach Verschwundenen suchen, verbreiteten die Bilder weiter. Manche der Familienangehörigen hatten während ihrer monate- oder jahrelangen Suche Schmiergeld an Beamte und Militärs gezahlt, damit ihre Angehörigen freigelassen werden — obwohl die schon längst ermordet worden waren.

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