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Wie der Profi-Browser Vivaldi Chrome, Firefox und Co. angreifen soll

von Karsten Lemm
Er will es noch mal wissen: Jón von Tetzchner, Mitgründer und langjähriger Chef von Opera, tritt mit einem neuen, von ihm selbst finanzierten Browser-Projekt gegen die etablierten Konkurrenten an. Vivaldi ist heute erschienen und soll Chrome, Safari & Co. alt aussehen lassen. Was der Newcomer besser machen will – und warum er überhaupt gebraucht wird –, hat von Tetzchner WIRED schon im Dezember 2015 erklärt.

Die Herzen der Mehrheit zu gewinnen war noch nie sein oberstes Ziel: Mit dem norwegischen Browser-Hersteller Opera spezialisierte Jón von Tetzchner sich auf Erfolg in der Nische. 15 Jahre lang, von der Gründung der Firma 1995 bis zu seinem Ausscheiden im Januar 2010, zeigte der gebürtige Isländer, dass man auch als Kleiner unter Großen gut leben kann, wenn man bescheiden bleibt. Opera-Investoren allerdings drängten auf schnelleres Wachstum: Nach von Tetzchners Abgang wurde aus Opera, dem Browser-Entwickler, der stets eigene Wege ging, ein Anbieter von mobilen Internetdiensten — der unter anderem auch einen Browser besitzt. Der Umsatz verfünffachte sich, und Opera näherte sich immer mehr dem Mainstream an. Genau darin sieht der ehemalige Chef nun seine Chance.

Mit Vivaldi will von Tetzchner all jenen entgegenkommen, die sich vom alten Opera im Stich gelassen fühlen. Menschen, die sich als Web-Profis sehen und ihren Browser bis zum letzten Menüpunkt ausreizen wollen — so wie er selbst. „Ich hätte mir nie vorstellen können, einen anderen Browser zu benutzen“, erzählt von Tetzchner. Doch als seine Nachfolger 2013 beschlossen, Opera ein neues Gesicht zu geben, „sind viele frustriert gewesen“, sagt er, „und mir ging es genauso“. Also wagt der 48-Jährige auf eigene Faust einen Neuanfang: Seit gut einem Jahr finanziert er aus eigener Tasche die Entwicklung eines Browsers, der vieles anders, vieles besser machen soll als die angestammten Konkurrenten. Vor allem Power-User, die mit Dutzenden von Tabs jonglieren und hingebungsvoll ihre Bookmark-Sammlung pflegen, will von Tetzchner für sich gewinnen. Vivaldi protzt mit diversen Funktionen zum Organisieren, Navigieren und Personalisieren, gedacht für Menschen, die ihr Online-Leben vorwiegend zwischen http:// und www verbringen, statt gemütlich durch das Tagesgeschehen bei Facebook und Pinterest zu scrollen.

E-Mail soll Vivaldi ebenfalls beherrschen – später mal. Den Button für die Funktion gibt es schon, doch vorerst sind Vivaldis 30 Mitarbeiter – teils auf Island, teils in Norwegen – damit beschäftigt, unter Hochdruck Version 1.0 fertigzustellen. Wann es so weit sein wird? „Wir sind noch mit dem Finetuning beschäftigt“, antwortet von Tetzchner ausweichend. „Aber allzu lange sollte es nicht mehr dauern.“ Neugierige können jetzt schon die Beta-Version herunterladen und Feedback geben. Kommentare stoßen immer auf offene Ohren, verspricht das Startup – schließlich soll Vivaldi „der Browser für unsere Freunde“ sein.

WIRED: Herr von Tetzchner, es gibt reichlich Browser – wozu jetzt noch ein neuer?
Jón von Tetzchner: Milliarden Menschen gehen online, und die Auswahl beschränkt sich im Grunde auf fünf Browser, die sich nicht groß unterscheiden. Sie arbeiten nach einem ähnlichen Prinzip und verfolgen ein ähnliches Ziel: Sie wollen es allen so einfach machen wie möglich, um eine große Zahl von Nutzern anzusprechen. Wer mehr will, bleibt zurück. Power-User bekommen nicht den Browser, den sie sich wünschen. So gesehen, ist das Angebot eher beschränkt, und ich glaube, es gibt Bedarf für einen Browser, der einiges anders macht und Alternativen bietet.

WIRED: Wieso starten Sie auf dem Desktop, nicht mobil?
Von Tetzchner: Aus unserer Sicht gibt es den größten Bedarf bei Desktopgeräten. Gerade weil sich im Augenblick alle Welt auf Mobilgeräte konzentriert, fehlt es da besonders an Innovationen. Wir planen zwar auch eine Mobilversion, aber alles zu seiner Zeit. Erstmal muss Vivaldi 1.0 fertig werden.

WIRED: Was macht Vivaldi anders?
Von Tetzchner: Die übrigen Browser versuchen, vom Start weg so simpel zu sein wie möglich, und es geht einzig darum, im Netz herumzusurfen – idealerweise mit Hilfe einer Suchmaschine: Man tippt ein, was man finden möchte, klickt auf Links, und fertig. Wer gar nicht mehr will, als Facebook, YouTube und ein paar andere Seiten zu besuchen, kann damit sicher glücklich werden. Für diese Menschen ist Vivaldi auch gar nicht gedacht.

WIRED: Sondern für wen?
Von Tetzchner: Wir wenden uns an Nutzer, die mehr wollen. Deshalb ist Vivaldi zum Beispiel auf den Umgang mit Tabs optimiert: Sie können problemlos Dutzende von Tabs offen haben, Sie können sie sammeln, stapeln, organisieren. Ähnlich leistungsstark sind unsere Bookmark-Funktionen mit der Seitenleiste sowie dem Speed Dial für die Lieblings-Websites. Und fürs leichte Sammeln von Informationen gibt es den Notizblock, in dem Sie auch die Web-Adresse festhalten können, damit Sie später noch wissen, wo das Zitat herkam. Samt Screenshot, wenn Sie möchten. Und nicht zuletzt geben wir Nutzern etliche Wege, Vivaldi an ihre eigenen Wünsche anzupassen. Soll die Adresszeile lieber unten stehen? Die Tabs an der Seite? Sie können Tastaturkürzel wählen und praktisch jedes Detail selbst festlegen, damit sich am Ende alles anfühlt wie für Sie gemacht.

WIRED: Zunächst bedeutet es Umgewöhnung. Wie wollen Sie Menschen dazu bewegen, Vivaldi auszuprobieren?
Von Tetzchner: Wir wissen, dass es eine wachsende Zahl von Opera- und Firefox-Nutzern gibt, die unglücklich darüber sind, wie sich diese Browser weiterentwickeln. Diese Menschen warten auf eine Alternative. Dass Google mit Chrome mehr als 60 Prozent Marktanteil hat, ist völlig in Ordnung. Ich beschäftige mich seit 1994 damit, Browser zu entwickeln, und dabei habe ich gelernt, dass es immer jemanden gibt, der deutlich in Führung liegt. Microsofts Internet Explorer hatte mal 90 Prozent Marktanteil. Heute verteilt sich das etwas stärker. Aber selbst wenn wir nur wenige Prozent gewinnen, kann das immer noch eine stattliche Zahl an Nutzern bedeuten.

WIRED: Und in der Nische lässt sich Geld verdienen?
Von Tetzchner: Das Prinzip ist das gleiche wie immer schon. Man schließt Partnerverträge ab und wird dafür bezahlt, die Besucherzahlen zu erhöhen. Die wichtigsten Verträge dieser Art kommen von Suchmaschinen, aber wir versuchen auch, Partner für Bookmarks und das Speed Dial zu gewinnen. Bei Opera gab es die Faustregel: Jeder Nutzer bringt etwa einen Dollar im Jahr an Umsatz, vielleicht auch anderthalb – das mag nicht üppig klingen, aber uns würden drei bis vier Millionen Nutzer reichen, um bei unserer derzeitigen Größe von etwa 30 Mitarbeitern auf plusminus Null zu kommen.

WIRED: Was sind die ersten Reaktionen auf Vivaldi?
Von Tetzchner: Wir stellen fest, dass Vivaldi ganz allgemein sehr viele Menschen anspricht, nicht nur unzufriedene Opera-Fans. Wir sind bei fast drei Millionen Downloads und zählen mehrere Hunderttausend aktive Nutzer im Monat – weit mehr, als wir zu diesem Punkt erwartet hatten. Zum Teil liegt das sicher daran, dass die anderen Browser sich so ähnlich sind. Die Leute entdecken Vivaldi und freuen sich: Hey, mal was anderes! Wer hätte gedacht, dass man das auch so machen kann?

WIRED: Sie sind jetzt 48 und entwickeln seit fast 22 Jahren Browser. Was fasziniert Sie so an dieser Art von Software?
Von Tetzchner: Das Web verändert unser ganzes Leben, und wer ins Internet will, braucht einen Browser. Es ist das eine Tool, das wir alle nutzen. Der Einfluss, den man haben kann, ist enorm.

WIRED: Wenn man Erfolg hat.
Von Tetzchner: Über die Jahre habe ich immer wieder zu hören bekommen, dass es keine gute Idee ist, gegen vermeintlich übermächtige Gegner anzutreten: Netscape, Microsoft, Google, Apple – irgendwelche großen Namen gab es immer, gegen die wir angeblich keine Chance hatten. So gesehen, war es ohnehin verrückt, einen Browser zu entwickeln. Aber ich war schon immer jemand, der gern gegen den Strom geschwommen ist.;

Vivaldi Version 1.0 steht ab sofort hier zum Download bereit. 

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