Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Twitters Ex-CEO Dick Costolo exklusiv bei WIRED: Wie wichtig der freie Informationszugang für unsere Gesellschaft ist

von Dick Costolo
Gestern hatte Dick Costolo seinen letzten Arbeitstag als CEO von Twitter. Schon Mitte Juni gab er seinen Rückzug von dem Posten bekannt. WIRED gibt sein Abschieds-Statement als Gastbeitrag exklusiv im deutschen Wortlaut wieder.

Die Idee des Zugangs zu Informationen bestimmt bei Twitter seit dem Start des Unternehmens das Denken. Beim Begriff „Zugang“ dachten die Gründer zunächst eher an eine Gruppe von Freunden, die jederzeit sofort in Erfahrung bringen können, was die anderen gerade machen: in eine neue Wohnung in San Francisco umziehen etwa oder ein Glas Wein trinken im kalifornischen Napa Valley. Für sie war Zugang damals definiert durch Unmittelbarkeit und persönlichen Kontakt zu Menschen, die sie auch offline kannten.

Diejenigen, die die Idee des freien Zugangs aufgreifen, werden letztlich gewinnen.

Als Twitter sich weiterentwickelte und zu einer weltweit genutzten Plattform wurde, bekam der Begriff „Zugang“ eine anspruchsvollere, wichtigere Bedeutung. Twitter fing an, das demokratische Ideal vom Zugang für alle zu verkörpern. Twitter wird von Menschen benutzt, die sich nicht unbedingt kennen, die möglicherweise nicht im gleichen Land sind, nicht dem gleichen politischen Spektrum angehören oder sich nicht in der gleichen sozio-ökonomischen Situation befinden.

Die Verbreitung des Internets und das Wachstum von Plattformen wie Twitter ermöglichten den Zugang in einem größeren Maßstab als jemals zuvor. Laut der UN-Menschenrechtscharta soll jeder Mensch auf der ganzen Welt „eine freie unabhängige Meinung haben können und Informationen ohne Rücksicht auf Grenzen einholen, erhalten und austauschen können“. Das mag wie eine selbstverständliche Aussage klingen, aber wenn man in der Geschichte zurückblickt, finden sich unzählige Zivilisationen, Länder und Gesellschaften, in denen genau das Gegenteil der Fall war und ist. Tatsächlich ist das Zurückhalten von Informationen, der mangelnde Zugang, genau das, wodurch die jeweiligen Machthaber die Kontrolle behalten.

Diktatoren entscheiden, was Menschen wissen sollen und was nicht. Sie nutzen Propaganda, um die Bevölkerung zu beeinflussen — sie halten Fakten zurück und teilen selektiv eine veränderte Version von tatsächlichen Ereignissen mit. Auf diese Weise gewährleisten sie, dass ihre Macht nicht in Frage gestellt wird. Sie können ihr Land auch vom Rest der Welt abschotten und so den Zufluss fremder Meinungen und Überzeugungen einschränken.

Was eine Nachricht ausmacht, wird von Individuen auf der ganzen Welt entschieden.

Heute können Menschen auf Informationen direkt aus der ursprünglichen Quelle zugreifen — und zwar unmittelbar. Das macht es viel schwieriger, Informationen als Werkzeug zur Machtausübung zu verwenden, einfach weil die Informationen sofort verfügbar sind. Zu einer Nachrichtenmeldung gibt es immer weitere Perspektiven — von den etablierten Medien, von Augenzeugen oder den Nachrichtenproduzenten selbst. Und das bedeutet auch, dass der konstatierte Sachverhalt klargestellt werden kann, wenn über etwas ungenau berichtet wird. Was eine Nachrichtenmeldung ausmacht, wird nicht mehr nur von Redakteuren entschieden, sondern von Individuen auf der ganzen Welt.

Das bedeutet, dass ein Land seine Regierung zur Verantwortung ziehen kann und dass es schwieriger ist, die wahre Version von Ereignissen zu vertuschen. Natürlich wird es der Propaganda kein absolutes Ende setzen, doch den Menschen direkten Zugang zu Informationen zu geben und die Möglichkeit, sie zu teilen und offen zu diskutieren, bietet ein außerordentlich starkes Gegengewicht. Heute fließen Informationen frei über geographische Grenzen hinweg, zwischen sozio-ökonomischen Gruppen und zwischen Menschen verschiedener Glaubensrichtungen.

Durch den freien Fluss von Informationen bekommt man außerdem Zugang zu ganz anderen Menschen. Noch vor ein paar Jahren hatten nur Eliten direkten Zugang zu Machthabern, Vordenkern oder Experten. Das Wissen, das sie hatten, wurde fast ausschließlich in ihrem unmittelbaren Umfeld oder vielleicht noch mit Studenten an ihren Universitäten geteilt. Heute kann ich direkt etwas von Menschen wie dem Premierminister von Indien erfahren, der regelmäßig Twitter-Nachrichten schreibt. Ich kann auf Twitter mit literarischen Größen wie Salman Rushdie und Margaret Atwood kommunizieren, oder mit den meisten Astronauten, die gerade im Orbit sind. Zuletzt hat der deutsche Astronaut Alexander Gerst eindrucksvoll bewiesen, welche Begeisterung das auslösen kann. Das sind Leute, die die Besten auf ihrem Gebiet geworden sind, und ihr Wissen ist jetzt für jedermann verfügbar.

Den Großteil unserer Geschichte haben wir in einer Welt mit künstlichen Barrieren gelebt.

Die Menschen haben heute auch mehr Zugang zu Institutionen jeder Art. Für Regierungen und Unternehmen kann das durchaus beängstigend sein. Aber wir sehen immer wieder, dass diejenigen, die die Idee des freien Zugangs aufgreifen, letztlich gegen diejenigen gewinnen, die den Informationsfluss zu stoppen versuchen. Die Stadt Jun in Südspanien hat diese Idee des offenen Zugangs konsequent umgesetzt. Unter der Führung ihres zukunftsgerichteten Bürgermeisters hat die Stadt Twitter in jeden Teil ihrer Administration integriert. Die Polizei hat Twitter-Handles auf ihren Uniformen und auf ihren Autos. Der Bürgermeister selbst beantwortet jeden Tag Dutzende von Fragen auf Twitter. Bürgerinnen und Bürger verknüpfen ihre Offline-Identität mit ihren Twitter-Accounts und können etwa Verbrechen oder kaputte Straßenlaternen per Tweet direkt an das Rathaus melden. Bürgermeister José Antonio Rodríguez ist ein leidenschaftlicher Anhänger dieses Konzepts der öffentlichen Regierung und begeistert davon, wie sehr es Bürokratie beseitigt und die Effektivität seiner Regierung erhöht hat.

Den Großteil unserer Geschichte haben wir in einer Welt mit künstlichen Barrieren gelebt. Barrieren für die Kommunikation und den Informationsfluss. Barrieren, die auf Status basierten — auf politischem, ethnischem oder sozio-ökonomischem Status. Diese zwischen Menschen gebauten künstlichen Mauern begrenzten unsere Fähigkeit, uns gegenseitig wirklich zu sehen. Sie machten es schwer, Mitgefühl für die Menschen zu empfinden, die ein ganz anderes Leben führen als unser eigenes. Aber diese Barrieren fallen. Zugang zu Informationen, zu Personen und zu Institutionen wird für immer mehr Menschen auf der ganzen Welt zur Realität.

Aber die Barrieren fallen. Zugang zu Informationen, Personen und Institutionen wird für immer mehr Menschen Realität.

Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir daran arbeiten, die Reichweite dieses Zugangs für noch mehr Menschen in noch mehr Teilen der Welt zu erweitern. Wir werden uns mit Fragen an der Schnittstelle von Ethik, Inhalten und Technologien befassen müssen, mit denen man sich vorher noch nicht auseinandergesetzt hat. Wir werden jeden Tag schwierige Entscheidungen treffen, um sicherzustellen, dass so viele Menschen wie möglich Zugang haben und dass auch die leisesten Stimmen in der Welt gehört werden.

Wir fordern Sie auf, diesen Zugang verantwortungsvoll und mit Einfühlungsvermögen zu nutzen. Nutzen Sie ihn, um ein Licht auf das Gute in der Welt zu werfen und auf das, was geändert werden muss. Nutzen Sie ihn, um sich für die Nicht-Privilegierten einzusetzen, um die Unterschiede zwischen Menschen anzunehmen und das Beste an der Menschheit zu stärken. 

GQ Empfiehlt