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„Ein Superorganismus aus Menschen und Maschinen entsteht“

von Karsten Lemm
Der Mensch ist nur eine intelligente Spezies unter vielen, unser Alltag eine Mischung aus Sinnsuche und Wettlauf mit der Technik: Das ist die Zukunft, die Kevin Kelly in seinem neuen Buch The Inevitable beschreibt. Im Gespräch mit WIRED erklärt der Autor, warum wir uns darauf freuen sollten, in dieser Welt zu leben.

Schuhe waren bisher einfach Schuhe. Künftig, da gibt es für Kevin Kelly keinen Zweifel, werden sie „kein fertiges Produkt mehr sein, sondern ein Prozess“ – eine Abfolge immer neuer Konzepte zur Fortbewegung auf zwei Beinen, „vielleicht mit Sandalen, die beim Umherlaufen ihre Form verändern, oder auf Fußboden, der sich wie Schuhwerk verhält“. Sogar ein Verb – „verschuhen“ – könnte daraus entstehen, spekuliert Kelly in seinem neuen Buch The Inevitable.

Das mag kurios klingen, doch Kevin Kelly, Mitgründer von WIRED, hat sich als langjähriger Chronist der Digitalrevolution einen Namen gemacht. Er ist geübt darin, Zeichen der Veränderung früh zu erkennen und konsequent zu Ende zu denken. Schuhe, die ihr Aussehen verändern können etwa, gibt es bereits, und sie sind nur ein Hinweis von vielen, dass die Welt von morgen nur eine Konstante kennt: permanenten Wandel. „Wir alle werden im Bestreben, mit der Zukunft Schritt zu halten, endlos Neulinge bleiben“, schreibt Kelly. Denn „viele der wichtigen Technologien, die unser Leben in 30 Jahren dominieren werden, sind noch gar nicht erfunden worden“.

Bequem ist das nicht unbedingt, ein Gefühl „konstanter Unbehaglichkeit“ werde uns künftig begleiten, vermutet Kelly. Er sieht Berufe verschwinden und etablierte Geschäftsmodelle scheitern, plädiert aber trotzdem dafür, sich nicht gegen das Unvermeidliche zu stemmen, sondern den Wandel „wachsam und mit offenen Augen umarmen“.

Bei aller Verunsicherung, die ständige Veränderung mit sich bringt, haben wir in Wahrheit das große Los gezogen, glaubt Kelly: „Dies ist der Augenblick, auf den Menschen einmal zurückblicken und sagen werden: ,Oh, wenn wir das damals doch nur hätten miterleben können!‘“ Im Gespräch mit WIRED erklärt der Kalifornier, warum er das so sieht; wie aus dem Miteinander von Mensch und Maschinen eine neue Form von Intelligenz entstehen könnte – und weshalb wir die Sorge vor Killer-Robotern lieber Hollywood überlassen sollten.

WIRED: Herr Kelly, Sie sagen, kommende Generationen werden uns beneiden, weil wir gerade jetzt leben. Was ist das Besondere am Jetzt?
Kevin Kelly: Wir sind dabei, ein planetenweites Netzwerk aufzubauen, das uns selbst genauso einschließt wie Geräte und Maschinen. Man kann das, was gerade entsteht, als eine Art Superorganismus sehen, der viele Eigenschaften haben wird, die uns bisher fehlen – als Individuen, aber auch als Staaten. Wir verwandeln uns in eine vernetzte Spezies und sind dabei, herauszufinden, was das bedeutet. Wer wir wirklich sind. Es gleicht einer Geburt, und wir haben die historische Möglichkeit, an dieser Geburt teilzunehmen.

WIRED: Wie wird dieser Superorganismus aussehen? Was wird er können?
Kelly: Das ist sehr schwer vorherzusagen. Aber ich denke, wir sehen bereits, dass er aus einer Vielzahl von Intelligenzen bestehen wird: uns Menschen plus Maschinen, plus KI-Systemen, plus dem Internet der Dinge.

Wir werden ebenso Erfinder sein wie Objekte unserer Erfindungen: Herrscher, aber auch Sklaven

WIRED: Und wir sind nur ein Teil davon – nicht mehr die Herrscher über solch ein System?
Kelly: Wir werden ebenso Erfinder sein wie Objekte unserer Erfindungen; Herrscher, aber auch Sklaven. Diese innere Zerrissenheit wird uns über Jahrhunderte in einem Spannungsfeld mit unserer Technologie leben lassen: Wir werden permanent damit ringen, in dieser Kreation aufzugehen, die wir ursprünglich selbst geschaffen haben.

WIRED: Ist das nicht alles sehr spekulativ?
Kelly: Die Vision von dem Superorganismus reicht sicher Jahrzehnte in die Zukunft, aber Dinge schlauer zu machen wird sehr schnell gehen. Und das Potenzial für Veränderungen ist hundert, wenn nicht tausend Mal so groß wie bei der Industriellen Revolution. Wahrscheinlich wird man irgendwann zurückblicken und feststellen, dass die ursprüngliche Industrielle Revolution nur ein erster Schritt war, den es brauchte, um den Grundstein für die wahre Revolution zu legen, an der wir nun arbeiten.

WIRED: Worin genau sehen Sie dieses revolutionäre Potenzial?
Kelly: In der Kombination aus Künstlicher Intelligenz und dem Internet der Dinge. Wir sind dabei, Gegenstände zum Leben zu erwecken und lernfähig zu machen, damit sie auf uns und ihre Umgebung reagieren können. Was dabei entsteht, gleicht einem biologischen Ökosystem, in das wir eingebettet sind. Wir reichern die atomare Welt mit digitalen Informationen an, und erschaffen eine künstliche Intelligenz, die allgegenwärtig sein wird. Wir wandern damit quasi ins Innere des Computers, statt ihn nur von außen zu bedienen.

WIRED: Was bedeutet das im Alltag?
Kelly: Ständiger Wandel wird zur Normalität. Ökosysteme sind immer in Bewegung, die Natur kennt keinen Ruhepunkt der Harmonie. Und dahin bewegen wir uns mit dem Internet der Dinge. Jeder Tag wird Neues bringen, alles wird permanent aktualisiert und angepasst – und wir müssen mithalten, immer dazulernen. Bleiben aber trotzdem ewige Neulinge, weil alles im Fluss ist.

WIRED:Das klingt anstrengend.
Kelly: Einige Menschen werden das mühsam finden, andere aufregend. Doch es ändert nichts daran, dass lebenslanges Lernen zur neuen Realität wird.

WIRED: Welche Rolle spielt der Mensch in dieser Zukunft?
Kelly: Das ist eine Frage, die wir uns auf absehbare Zeit jeden Tag stellen werden: Wenn wir nicht mehr gebraucht werden, um Autos zu fahren oder Krankheiten zu diagnostizieren, wenn künstliche Intelligenzen sogar Musik komponieren und Bilder malen können – wozu sind wir noch gut? Und ich glaube, die Antwort auf diese Frage ist völlig offen. Wir wissen es einfach nicht. Das ist beängstigend. Aber auch aufregend und befreiend. Und wahrscheinlich werden wir die Hilfe intelligenter Systeme brauchen, die anders denken als wir, um herauszufinden, wo unsere Bestimmung künftig liegt.

WIRED: Könnte der Mensch aus Sicht der Technik auch überflüssig werden? Dulden uns die intelligenten Systeme womöglich irgendwann gar nicht mehr?
Kelly: Der Gedanke, dass Roboter die Kontrolle übernehmen und uns eliminieren werden, ist ein weit verbreitetes Hollywood-Klischee. Es ist einfach, sich so etwas auszumalen, schön dramatisch und perfekt fürs Kino – aber aus meiner Sicht ein sehr unwahrscheinliches Szenario.

Wir bringen eine andere Perspektive mit, deshalb werden uns die Maschinen wertschätzen

WIRED: Warum?
Kelly: Weil die Evolutionsgeschichte zeigt, dass das Leben Artenvielfalt fördert. Die gegenseitige Abhängigkeit ist so ausgeprägt, dass es allen zugute kommt, wenn die Zahl verschiedener Spezies wächst. Und genauso, wie wir Künstliche Intelligenzen erfinden, weil sie anders denken als wir, so werden KIs uns mit uns kooperieren wollen, weil wir eine andere Sicht der Dinge haben als sie. Es ist ein seltsamer, beinahe mittelalterlicher Gedanke, dass es hier um ein Entweder-Oder gehen muss: Entweder die Roboter gewinnen oder wir. Unser Wert für Maschinen wird darin liegen, dass wir eine andere Perspektive mitbringen, und deshalb werden sie uns wertschätzen.

WIRED: Also kein Grund zur Sorge?
Kelly: Wenn Sie fragen, ob wir auf lange Sicht aussterben werden – das ist so gut wie sicher, denke ich. Denn wir werden uns weiterentwickeln, in etwas völlig Anderes verwandeln, in dem wir uns mit heutigen Augen vielleicht gar nicht wiedererkennen würden. Aber so verschwinden die meisten Arten: indem sie sich fortentwickeln, bis vom Original nichts mehr übrig ist.

WIRED: Wie sieht diese Weiterentwicklung aus? Werden wir alle zu Cyborgs?
Kelly: Das hat ja bereits begonnen, wenn Sie an Chip-Implantate denken und solche Dinge. Auch mit der Änderung unserer Gene experimentieren wir bereits, und das wird sicher weitergehen. Die entscheidende Frage wird wohl sein, ob wir eine einzelne Spezies bleiben oder uns aufspalten in unterschiedliche Arten – etwa solche, die sich an der Fortentwicklung beteiligen, und andere, die sich grundsätzlich dem Cyborg-Hybrid-Gedanken verweigern.

WIRED: Wenn Sensoren immer und überall Informationen sammeln, die mit intelligenten Systemen ausgewertet werden, was bleibt dann vom Schutz der Privatsphäre?
Kelly: Ich bin davon überzeugt, dass wir in 50 oder 100 Jahren mit weit mehr Überwachung leben werden als heute, und das wird für uns als Gesellschaft nur dann erträglich sein, wenn wir ein Gleichgewicht des Wissens schaffen. Das heißt: Wenn jemand meiner Datenspur folgt, will ich wissen, wer mir folgt – und ich will genauso viel über diese Leute wissen, wie sie über mich wissen. Ich will sie zur Rechenschaft ziehen können, ich will sicherstellen, dass die Informationen korrekt sind, und ich will selbst daraus einen Nutzen ziehen.

WIRED: Ist es realistisch anzunehmen, dass die Regierung oder Großkonzerne wie Google und Facebook sich so offen von uns allen in die Karten schauen lassen werden, wie Sie es fordern?
Kelly: Es gibt nur einen Grund dafür, dass sie es erlauben werden: Weil wir es verlangen. Und ich glaube, wir sehen an der Popularität von Werbeblockern bereits, dass Leute anfangen, sich zu wehren. Vielen geht es dabei gar nicht so sehr um die Anzeigen selbst, sondern um das Tracking – die Tatsache, dass sie verfolgt und ausspioniert werden. Wenn es uns aber gelingt, mehr Symmetrie in dieses System zu bringen, wird das Tracking uns weniger ausmachen. Ich behaupte sogar: Wir haben uns über Jahrtausende in einer Umgebung entwickelt, in der ständige Überwachung normal war.

Statistisch gesehen ist es wahrscheinlicher, dass das Leben in Zukunft besser wird

WIRED: Sie denken an Stammesgemeinschaften und das Leben in Dörfern?
Kelly: Ja. Dies ist alles andere als ein neues, fremdartiges Konzept. Den größten Teil der Menschheitsgeschichte über wurde alles, was wir getan haben, von anderen registriert, die wir wiederum selbst fortwährend beobachtet haben.

WIRED: Vieles, was Sie in Ihrem Buch beschreiben, hängt entscheidend davon ab, dass Frieden herrscht, dass die Weltwirtschaft stabil bleibt und Technik sich weiterhin so rasant entwickeln kann, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg der Fall war.
Kelly: Ich bin da sicher durch meinen kalifornischen Optimismus geprägt, aber ich denke, er hat begründete Wurzeln in der Geschichte. Trotz aller Kriege, allen Leidens, aller entsetzlichen Verluste von Menschenleben und Vergeudung an Ressourcen – trotz all dieser Dinge haben wir spürbaren Fortschritt gesehen, zumindest in den vergangenen 500 Jahren, seit Beginn des wissenschaftlichen Zeitalters.

WIRED: Und der geht unaufhaltsam weiter, selbst wenn sich politische Krisen oder der Klimawandel verschärfen sollten?
Kelly: In meinem Buch spreche ich vom Technium, einem interaktiven System aller Dinge, die wir erfunden haben und die voneinander abhängen. Ich argumentiere, dass dieses System eine Art Selbsterhaltungstrieb entwickelt. Schon jetzt ist dieses System so umfassend, und der Nutzen für alle Beteiligten ist so groß, dass es eine Neigung zum Weitermachen gäbe, auch wenn Teile davon ausfielen. Es wäre nicht hundertprozentig sicher, dass es so käme – aber statistisch gesehen ist es wahrscheinlicher, dass das Leben in Zukunft besser wird – dass wir künftig weniger Kriege sehen, mehr Bildung genießen und dass Menschen länger leben werden. All das geht bereits in die richtige Richtung, und deshalb sollten wir optimistisch sein.

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