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Das New York Times Magazine will die wichtigste Geschichte unserer Zeit mit Virtual Reality erzählen

von Max Biederbeck
Reichen gute Artikel nicht mehr aus? WIRED hat mit dem Chefredakteur des New York Times Magazines über die neuen Virtual-Reality-Pläne seiner Redaktion gesprochen. Geht es nach den Machern eines der wichtigsten Magazine der Welt, funktionieren Geschichten bald völlig anders als heute.

Der Transporter donnert dicht über seinem Kopf hinweg. Innerhalb von Sekunden öffnet das schwere Flugzeug seinen Bauch, dutzende Pakete rutschen über Bord, krachen in Richtung Erde. Jake Silverstein sagt, er habe keine Angst gehabt, als er diesen Moment zum ersten Mal erlebte. „Ich war eher fasziniert davon, wie sich die Wucht der Situation anfühlte. Als wäre sie echt.“

Der Sound, die Nähe, der Druck. Silverstein hat sie in den Wochen nach seinem ersten Versuch noch oft erlebt. Immer wieder rannte er mit Flüchtlingen aus einem südsudanesischen Camp, um die überlebenswichtigen Lebensmittel aus dem Flieger als erster zu ergattern. Silverstein war vor Ort, obwohl er eigentlich in einem Büro in New York hockte. Er ist Chefredakteur des New York Times Magazine und bei seinem neuen Projekt sollen Anfang November rund 1,3 Millionen Menschen die Erfahrung machen, unter dem Flugzeug zu stehen.

Dann wird das NYT Magazine in Kooperation mit Google die faltbare Virtual Reality Brille Cardboard an all seine Abonnenten schicken. Dazu gibt es einen Code zum Pilotprojekt „The Displaced“ — eine Virtual Reality Reise an der Seite dreier Flüchtlingskinder aus Syrien, der Ukraine und dem Südsudan.

Im WIRED-Interview spricht Silverstein über die Zukunft des Magazin-Journalismus in der Virtual Reality, über die intensive Kooperation der New York Times mit den Internetkonzernen Facebook und Google und darüber, dass wir sowieso schon längst virtuell leben.

WIRED: Ihre erste VR-Erfahrung war offenbar ziemlich beeindruckend. Immerhin ist ein Mammut-Projekt für ihr Magazin daraus entstanden.
Silverstein: Ich habe mich Anfang 2015 zum ersten mal so richtig damit beschäftigt. Aber die ganze Redaktion der New York Times war fasziniert, also sprachen wir mit Fachleuten und und Entwicklerstudios. Wir schauten uns an, was andere machen und wollten es dann auch probieren.

WIRED: Aber was genau war denn nun Ihre erste VR-Erfahrung?
Silverstein: Ich erinnere mich an die Vorführungen von Chris Milk von Vrse, unserem Entwicklerstudio. Erst waren es nur Beispiele ohne journalistischen Mehrwert. Die Animation eines Zugs zum Beispiel und eine Waldszene. Aber es gab auch einen VR-Film, den das Studio für die Vereinten Nationen in einem Flüchtlingscamp gedreht hat. Den fand ich sehr beeindruckend. Darin wurden die Möglichkeiten für uns als Journalisten klar. Die Technologie ist einzigartig, um bestimmte Geschichten zu erzählen.

WIRED: Welche Geschichten?
Silverstein: Um zu funktionieren, brauchen manche Storys die Identifikation mit den Protagonisten. Vor allem in der Auslandsberichterstattung versuchen wir, eine solche Nähe herzustellen. Es geht nicht nur darum, über alles Buch zu führen, was passiert. Leser sollen anfangen, sich um ein Thema zu kümmern. Virtual Reality steht noch ganz am Anfang, aber so eine Brille wirft einen mitten rein ins Geschehen.

WIRED: Und könnte dazu führen, dass die gesunde Distanz zum Thema verloren geht. Sind Einordnung und Analyse noch gegeben, wenn es nur noch um die Szene geht?
Silverstein: Diese Punkte sind natürlich wahnsinnig wichtig, aber auch die Unmittelbarkeit und Nähe haben einen großen Wert.

Mit Virtual Reality bricht der Abstand zwischen Zuschauer und Bild völlig zusammen.

Jake Silverstein

WIRED: Klingt dennoch nach „Entertainment First“.
Silverstein: Überhaupt nicht. Es geht vor allem bei Auslandsthemen immer darum, dem Leser einen Eindruck vom Geschehen vor Ort zu vermitteln. Das macht guter Fotojournalismus schon seit Jahrzehnten so. Und jetzt wird VR interessant, denn es entwickelt dieses Konzept weiter. Egal wie gut ein Porträtfoto ist, der Leser hat immer einen Abstand zum Bild und zu dem Ereignis auf dem Bild. Aber mithilfe einer Virtual-Reality-Brille bricht dieser Abstand völlig zusammen. Man findet sich auf einmal mitten in einer Szene wieder.

WIRED: Und das schafft Verständnis für etwas so kompliziertes wie die Flüchtlingskrise?
Silverstein: Man erlebt die Krise auf eine Weise, wie nie zuvor. Wir alle haben auf der ganzen Welt Zeitungsartikel gelesen, Magazinstücke, Fotos und Fernseh-Nachrichten. Seit Monaten ist das Thema konstanter Teil unseres Lebens. Aber was es wirklich bedeutet, auf der Flucht zu sein, das wissen die wenigsten. Ich bin gespannt, wie die Leute reagieren werden, wenn wir es ihnen zeigen.

WIRED: Gab es schon Tests?
Silverstein: Einige wenige, ja, mit dem Rohschnitt des Films. Jeder, der es ausprobiert hat, war überwältigt. Einer unserer Auslands-Redakteure hat schon hunderte Artikel zum Thema bearbeitet, aber so eine Erfahrung hatte er noch nie gemacht. Nach dem Film hatte er Tränen in den Augen. Da kommt ein Paradigmen-Wechsel auf uns zu. Leser werden fasziniert davon sein, wie anders die Erfahrung ist.

WIRED: Dennoch reden Sie noch immer von „Lesern“.
Silverstein: Natürlich werden Begriffe wie Leser und Zuschauer auswechselbar. Selbst Zuschauer stimmt ja nicht mehr richtig im Fall von VR. Der Film ist Teil eines ganzen Multimedia-Pakets. Dazu wird es Artikel geben, Fotostrecken und Interviews, alles um die Geschichte der Flüchtlinge im New York Times Magazine lebendig zu machen. Als Magazinmacher wollen wir jedes Tool aus der Werkzeugkiste nutzen.

Als Magazinmacher wollen wir jedes Tool aus der Werkzeugkiste nutzen.

Jake Silverstein

WIRED: Ich fasse zusammen: Die nächste Stufe des Magazin-Journalismus wird eine höchst emotionale Multiplattform-Erfahrung.
Silverstein: Das gilt auch für Zeitungen. Einer der wichtigsten Werte von Printprodukten 2015 ist doch, dass sie ein Ausgangspunkt für große Multimedia-Produktionen sein können. Und da kann alles dazugehören, auch die Virtual Reality. Dazu kommt ehrlich gesagt auch, dass die neuen Techniken auch neue Möglichkeiten für unsere Werbeleute bereithalten, Einnahmequellen zu erschließen.

WIRED: Aber können Sie sich wirklich vorstellen, dass Leute irgendwann auf dem Weg zur Arbeit Ihr Magazin auf einer VR-Brille lesen und schauen?
Silverstein: Warum nicht, wir starren doch jetzt schon die ganze Zeit aufs Smartphone. VR-Brillen rücken das nur näher ans Gesicht. Aber klar, noch sind wir nicht soweit.

WIRED: Aber werden es bald sein?
Silverstein: Deswegen ja die Idee mit Cartboard. In so einer frühen Phase der VR gibt uns die Google-Brille die Möglichkeit, die Experience in die Masse zu tragen. Es gibt bereits viele Headsets und sie alle machen einen guten Job, aber sie sind teuer und wenig verbreitet. Wir werden dagegen zusammen mit Google 1,3 Millionen Faltbrillen aus Pappe verteilen. Ein Smartphone hat im Grunde jeder. Das wird ein Wendepunkt für die Verbreitung von VR.

WIRED: Sie erwähnen Google, ein Privatunternehmen, das viele als journalismusfeindlich betrachten. Zur gleichen Zeit ist die New York Times einer der Vorreiter in der Verwendung von Facebooks Instant Articles. Auch dafür gab es Kritik. Ist das nicht zu viel Nähe?
Silverstein: Wir haben viele Kooperationen und das ist etwas Gutes. Ich muss das klar sagen, solche Partnerschaften werden nicht von redaktioneller Seite geplant. Unser Newsroom bleibt unabhängig — without fear and without favour.

WIRED: Aber was Sie gerade planen, geht nicht ohne Google.
Silverstein: Wie gesagt, wir sind an einem Punkt in der Beziehung zwischen Unternehmen und Medien, an dem Partnerschaften wichtig sind. Sie erlauben es uns, Menschen zu erreichen, die man sonst nicht erreichen würde und Content zu schaffen, den man sonst nicht schaffen könnte. In diesem Fall beschränkt sich die Kooperation mit Google nur auf die Cardboard-Brillen, Inhalte und Software kommen von uns. Bei Google geht es also nur um die Verteilung.

WIRED: Damit am Ende alle sagen: Wow, Virtual Reality im New York Times Magazine?
Silverstein: Auf keinen Fall. Es ist sehr wichtig für uns, zu betonen, dass es bei all dem nicht um VR als solches geht. Stattdessen wollten wir einen Film über die wichtigste Geschichte unserer Zeit machen. Virtual Reality ist ein Mittel, um die Leute direkt mitten hinein zu bringen. Sie sollen mit der Geschichte verschmelzen, Teil von ihr werden. 

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