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Mac OS X El Capitan im Test: Die Zukunft des Mac — oder Apples Vergangenheit?

von Michael Rundle
Bessere Performance, Fenster-Management, bessere Spotlight-Suche, App-Updates und mehr verspricht OS X El Capitan. WIRED-Autor Michael Rundle hat gründlich getestet, was Apples neueste Mac-Betriebssystem-Generation wirklich drauf hat.

Als Apple Anfang des Jahres das iPad Pro mit 12,9-Zoll-Display ankündigte, war das ein klares Zeichen: Der Konzern bekennt sich nach außen weiter zu seinen stationären Mac-Rechnern, weiß aber auch, dass das Mobil-Betriebssystem iOS über Smartphones, Smartwatches und kleine Tablets hinaus eine Zukunft hat.

Für eine kleine, aber wachsende Gruppe von Usern hat iOS das Mac-Betriebssystem OS X in Sachen Einfachheit, Sicherheit und Leistungsfähigkeit längst überholt. Die PC-Verkaufszahlen sind im vergangenen Jahrzehnt nicht ohne Grund abgestürzt. Und auch wenn Apple auf diesem Gebiet immer besser dastand als die Konkurrenz: Es wird immer schwerer, sich vorzustellen, dass man in Zukunft neben einem iPad (oder iPhone) als „Konsumgerät“ auf Reisen auch noch ein „Arbeits-Laptop“ mitnimmt. Alle Mobilgeräte eignen sich mittlerweile für Netflix, E-Mail-Verwaltung, Web-Surfen und Games, und iOS bietet beinahe alle wichtigen Apps. Wer sein Laptop stehen lassen und stattdessen auf dem iPad arbeiten kann, wird es also sehr wahrscheinlich tun.

Das heißt nicht, dass iOS wirklich besser ist, was die Aufgaben angeht, die man normalerweise am Schreibtsich erledigt. Ganz und gar nicht. Versucht mal, ein modernes Content Management System — zum Beispiel das, in dem dieser Text angelegt wurde — auf einem iPad zu benutzen. Glaubt mir, es funktioniert nicht.

Aber auch wenn iOS fürs Büro noch nicht ausgereift genug ist, hat es jede Menge Potenzial. Die Multitasking-Funktionen der neuesten Version sind allein schon ein riesiger Schritt nach vorne, zusammen mit den ständigen Sicherheits- und Akkulaufzeit-Verbesserung. Auf größeren Bildschirmen und mit schnelleren Prozessoren im Rücken wird iOS für immer mehr Menschen immer nützlicher.

OS X hat nur eingeschränkt die Möglichkeit, sich tiefgreifend zu verändern.

Heute ist OS X auf dem Desktop nach wie vor viel sinnvoller — aber schaut fünf oder zehn Jahre in die Zukunft und die Sache könnte schon ganz anders aussehen. Apple wird ohne Zweifel weiterhin exzellente — wenn nicht die besten — Desktop-Computer und Laptops herstellen. Aber wegen der (verständlichen) Weigerung, dem MacBook einen Touchscreen zu verpassen oder an anderen Formfaktoren des klassischen Laptops zu rütteln, hat OS X nur eingeschränkt die Möglichkeit, sich tiefgreifend zu verändern.

Sowohl OS X Yosemite (2014) als auch das neue El Capitan versuch(t)en, das Desktop-Betriebssystem parallel iOS weiterzuentwickeln, ohne dabei die Funktionen zu verlieren, die es in den letzten mehr als zehn Jahren so beliebt gemacht haben. Im vergangenen Jahr wurde zum Beispiel Handoff eingeführt, die Möglichkeit, auf iOS gestartete Tasks auf dem Desktop weiter zu bearbeiten. Neu hinzu kamen auch SMS Messaging, iCloud Drive und Airdrop — allesamt Features, mit denen sich rechtfertigen lässt, warum man sowohl einen Mac als auch ein iPhone oder iPad besitzt.

Mit El Capitan war die Aufgabe eine leicht andere: die Kernelemente von OS X verbessern und vereinfachen sowie seine Alleinstellungsmerkmale gegenüber iOS herausstellen. Und im Großen und Ganzen ist das gelungen: Wie alle jüngeren OS-X-Updates ist El Capitan kostenlos, die Installation ist ein Kinderspiel. Noch nicht klar ist allerdings, inwiefern es die Relevanz von OS X bis zum Jahr 2020 sichern soll. Die großen Features von El Capitan klingen alles andere als aufregend, wenn man sie auflistet — in der Praxis sind sie hingegen ziemlich beeindruckend.

Das Fenster-Management ist eine große Verbesserung — natürlich stark inspiriert von Microsoft Windows. Es ist jetzt einfacher, Apps in den Vollbildmodus zu schalten oder die Ansicht aufzusplitten, sodass etwa eine App die linke und die andere die rechte Seite des Bildschirms einnimmt. Das geht sowohl vom Desktop aus (mit dem grünen Fullscreen-Button) oder aus der Mission Control, die neuerdings ein cleaneres Design und einfachere Wege bietet, neue Spaces zu erstellen — einfach ein Fenster an den oberen Bildschirmrand ziehen. Kein revolutionäres Feature, aber eines, das vor allem das Arbeiten an kleinen Laptop-Bildschirmen erleichtert.

El Capitan macht den besten Computer der Welt noch besser. 

Ein anderer Grund für die User-Liebe zu iOS: Es ist soviel einfacher, Dinge zu finden, als auf einem Desktopk-PC mit seinen endlosen Ordner- und Dokumentstrukturen. OS X El Capitan hilft auch hier, indem es die Spotlight-Suche verbessert und schlauere Resultate (gebt mal „documents I edited last week“ ein und ihr wisst, was ich meine) und Kontextinformationen aus dem Netz liefert — genauso wie Siri unter iOS.

Die letzte große Verbesserung gibt es auf dem Gebiet der Performance — also bei Stromverbrauch und Geschwindigkeit. Hier glänzt El Capitan. Das klingt vielleicht nicht besonders aufregend, aber Apple hat es zum Beispiel geschafft, das Öffnen von PDFs und vielen Apps um 40 bis 50 Prozent schneller zu machen, und bietet mit Metal eine Grafikplattform für deutlich mehr Performance bei Spielen und Pro-Apps. Im Test hatten wir allerdings nur wenig kompatible Software zur Verfügung, um das unter Realbedingungen zu testen. Dass der Prozessor nun nicht mehr so stark beim Grafik-Rendering aushelfen muss, soll außerdem zu längeren Akku-Laufzeiten führen. Wir bekamen El Capitan allerdings auf einem Review-Rechner, auf dem wir keine frühere OS-X-Version testen konnten, sodass uns hier kein Vergleich möglich war.

Die Performance-Verbesserungen scheinen beträchtlich zu sein, es dürfte aber eine Weile dauern, bis Entwickler sie auch in Gänze nutzen. Spiele waren beispielsweise lange ein Problem für Macs, vor allem weil die meisten Apple-Rechner Grafikkarten nutzen, die eher für Laptops als für Gaming-PCs gedacht sind. Wir werden sehen, ob Entwickler den Anreiz wahrnehmen und tatsächlich OS-X-Spiele entwickeln, wo iOS doch nach wie vor eine größere Nutzerbasis und den umfangreicheren AppStore bietet.

Viele Verbesserungen zeigen sich bei El Capitan auch in Apples Kern-Apps — ähnlich wie es schon bei iOS der Fall war. Notes bekommt ein großes Update, das es Usern erlaubt, Zeichnungen, PDFs, Fotos, URLs und Dateien direkt einzubetten, genauso wie Inhalte aus Maps oder Safari. Photos unterstützt jetzt Live Photos — ein Feature des neuen iPhone 6S (auch wenn ich das mit meinem mickrigen iPhone 6 in der Tasche nicht testen konnte). Maps bekommt ÖPNV-Infos und Safari erlaubt jetzt Pinned Sites, das Stummschalten von Tabs sowie neue Schriften und Themes für den Reader. Mail wurde ebenfalls überholt — mit swipebaren Nachrichten (wieder wie unter iOS) und einem besseren Fullscreen-Modus.

Optisch ist El Capitan nur ein vergleichsweise schlankes Update. Wobei Designer sich sicher über die Möglickkeit freuen, zu diskutieren, ob Apples neue System-Schriftart San Francisco eine Verbesserung darstellt oder nicht. (Unser Urteil? Passt schon. Nach ein, zwei Tagen sieht man keinen Unterschied mehr.)

Apple hätte gern, das OS X und iOS harmonieren. Aber sie kollidieren eher.

Wenn ihr OS X schon länger nutzt und mögt, ist es unmöglich, von El Capitan nicht beeindruckt zu sein. Es verbessert die Grundlagen des Mac mit besserer Performance und mehr Akkulaufzeit, zeigt zumindest eine mögliche Lösung fürs Fenster-Management und die Spotlight-Suche auf und macht viele Schlüsselapps merklich besser als vorher. Es ist kein „geringfügiges“ Update, auch wenn das viele behaupten werden. El Capitan macht den besten Computer der Welt noch besser. El Capitan ist in seinen besten Momenten Apple at its best: Schüttelt den Cursor und er wird sich aufblasen, damit ihr ihn leichter findet. Sucht auf dem Mac nach einer Wegbeschreibung, drückt einen Button und ihr habt sie auf der Apple Watch. Simples Zeug, aber eben auch großartig.

Aber auch wenn El Capitan im Grunde eine solide Sache ist: In Zeiten, in denen gerade das iPad Pro vorgestellt wurde, untergräbt sein Mangel an Einfallsreichtum Apples Argument, Macs und iPads seien für zwei unterschiedliche Zwecke gemacht, und zwei unterschiedliche Nutzergruppen. Das iPad Pro ist ein leistungsstarkes, mobiles Gerät mit großem Bildschirm viel Akku-Leistung, für Entwickler und produktivitätsorientierte User, die ein großes Ökosystem an Apps nutzen. Und das neue MacBook ist ein leistungsstarkes, mobiles Gerät mit... Ihr versteht schon.

Apple hätte gern, das OS X und iOS harmonieren. Aber El Capitans ständiger Versuch, die Schwachstellen des Desktops auszugleichen — zusammen mit dem Versuch, die Sprache von iOS zu sprechen —, lässt es eher so wirken, als würden die beiden miteinander kollidieren. Und iOS hat dabei eindeutig mehr Rückenwind.

OS X El Capitan erscheint heute für kompatible Mac-Systeme. 

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