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Streaming-Special / Was Paare auf Porno-Streaming-Portalen tun, wenn sie gerade keinen Sex haben

von Sonja Peteranderl
Blick ins Schlafzimmer: Der Videokünstler und Filmemacher Steffen Köhn hat Erotik-Performer auf Streaming-Seiten dabei beobachtet, wie sie auf Aufträge warten — und die Szenen in seinem Videoprojekt „Always Here“ (2015) festgehalten.

WIRED: Wie kommt man auf die Idee, sich Porno-Streaming-Seiten als künstlerisches Sujet herauszusuchen?
Köhn: Erotische Videolivechats sind mittlerweile ein ganz großes Ding. Eine Seite, die das schon seit über 10 Jahren anbietet, gehört zu den 50 meistbesuchten Webseiten der Welt.

WIRED: Musstest du bei deiner Recherche Tausende Dollar investieren?
Köhn: Auch schon ohne dich zu registrieren, kannst du auf den meisten Seiten den Live-Webcam-Feed der Performer — Frauen, Männer oder Paare — ansehen und anonym mit ihnen chatten. Registriert man sich auf der Seite, kann man die Darsteller dann auch für eine private erotische Darstellung bezahlen. Dann fällt der Vorhang für alle, die nichts zahlen. Das ist gar nicht mal so billig und kostet oft um die 2 Dollar pro Minute.

 

WIRED: Wie viele Stunden oder Nächte hast du die Performer beobachtet?
Köhn: Viele Nächte über viele Monate — aber immer nur im Free-Chat-Modus.

WIRED: Was passiert denn Spannendes beim Warten auf Sex?
Köhn: Da die Darsteller in der Regel sehr lange vor der Webcam sitzen und auf Kundschaft warten, wird ihre Performance immer wieder von Alltäglichem unterbrochen: von Langeweile, Beziehungsstreits oder gar politischen Diskussionen. Genau diese Momente haben mich interessiert. Es ist ja ein alter Traum eines jeden Dokumentarfilmers, derartig eine „Fly on the wall“ zu sein.

Mein Material zeigt ein sehr warmherziges und positives Bild meiner Protagonisten als komplexe Persönlichkeiten.

WIRED: Streaming-Webseiten eröffnen Künstlern einerseits einen leichten Zugang zu unendlich viel, auch sehr intimem Material — andererseits ist den Darstellern auch in deinem Fall sicher nicht bewusst, vielleicht auch nicht recht, dass sie Teil eines Kunstwerks werden. Für wie problematisch hältst du das?
Köhn: Ich habe mich in meinem Fall dafür entschieden, künstlerisch mit diesem Material zu arbeiten, weil ich die Hoffnung habe, dass mein Material ein sehr warmherziges und positives Bild meiner Protagonisten als komplexe Persönlichkeiten zeichnet. Vielleicht auch ein anderes Bild, als das, was User bekommen, die diese Webseiten nur zur Bedürfnisbefriedigung nutzen — es gibt ja schon so abschätzige Begriffe wie „Camwhore“.

WIRED: Wie hat es sich angefühlt, zum Voyeur zu werden?
Köhn: Das ist wirklich ein extrem spannendes Format und ich glaube, viele Menschen nutzen das gar nicht unbedingt nur für ihre sexuellen Bedürfnisse. Eine der Seiten hat ihr Angebot folgerichtig auch erweitert und bietet jetzt auch Experten, Berater und „Soulmates“ an, mit denen man chatten kann.

 

WIRED: Was sind das für Menschen, die du bei einem Teil ihres Arbeitsalltags beobachtet hast?
Köhn: Ich weiß nicht, ob ich da wirklich eine Aussage treffen kann. Auch wenn einige Cam-Paare auch in Wirklichkeit Paare sind und von Zuhause aus arbeiten, habe ich sie ja nur in ihrer Rolle erlebt. Und in diesen kleinen Momenten des Aus-der-Rolle-Fallens. Aber auch das passiert ja in dem Bewusstsein, dass eine Kamera läuft. Zunächst sind die ja keine Angestellten, sondern Unternehmer ihrer Selbst. Deswegen sitzen die meisten ihre Zeit vor der Webcam auch nicht ab, sondern versuchen aktiv zahlende Kunden zu akquirieren. Die kleinen hereinbrechenden Momente des Alltags passieren also eher beiläufig, gerade bei den Darstellern, die von Zuhause aus Arbeiten.

WIRED: Siehst du deine Arbeit auch als eine Parabel auf den Überwachungsstaat?
Köhn: Vielleicht eher als eine Parabel darauf, wie Überwachung und Unterhaltung mehr und mehr eins werden. Die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, zwischen Konsumverhalten und neuen Formen gesellschaftlicher Steuerung und Überwachung, zwischen Voyeurismus und Exhibitionismus verschwimmen ja immer mehr im Zeitalter permanenter Konnektivität. Die neuen kommunikativen Räume, die das Internet geschaffen hat, haben unsere althergebrachten Vorstellungen von Privatheit und Intimität ziemlich über den Haufen geworfen. Das Mantra völliger Transparenz, welches von Big-Data-Konzernen wie Google und Facebook gepredigt wird, wurde auch durch die Enthüllungen Edward Snowdens nicht wirklich aus dem Takt gebracht. Obwohl wir wissen, dass alles, was wir online tun und von uns Preis geben, gespeichert und analysiert wird, entweder um uns zu überwachen oder um uns etwas zu verkaufen, genießen wir eben doch auch die neue radikaldemokratische Freiheit, alles, was uns bewegt, mit der Welt teilen zu können. Das alles sind Fragen die einen starken Bezug haben zu dem Entertainment-Angebot mit dem ich mich in diesem Film beschäftigt habe, und die mich im Moment sehr interessieren. 

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