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Streaming-Special / Wie Christian Ulmen an der Zukunft des Fernsehens schraubt

von Dirk Peitz
Deutsches Fernsehen? Bitte nicht! Außer vielleicht, wenn es von Christian Ulmen kommt. Im WIRED-Interview erklärt der Serienmacher, warum er seine Formate zuerst fürs Netz produziert — und wie er dem klassischen TV so neues Leben einhauchen will.

WIRED: Sie produzieren seit einigen Jahren für verschiedene Fernsehsender Formate, die in erster Linie fürs Netz entwickelt wurden. Ihre aktuellste Serie ist „MANN/FRAU“, deren zweite Staffel im September auf YouTube zu sehen sein wird und später beim BR, der sie in Auftrag gegeben hat. Wie verändert es die Produzententätigkeit, wenn man eine Serie zunächst mal fürs Netz macht?
Christian Ulmen: Als ich das zum ersten Mal gemacht habe, war ich ja kein Produzent. Ich wollte bloß nicht mehr mit Fernsehredakteuren über Pointen diskutieren. Der Weg war darum: im Netz fertigstellen, dann das fertige Produkt ans Free-TV lizenzieren. Das hat eine Weile sehr gut geklappt. Fernsehredakteure haben im Übrigen eine undankbare Aufgabe: Wenn dir alle Drehbücher gefallen und das einzige Feedback, das du gibst, „Finde ich alles toll“ lautet — dann wirst du dich wahrscheinlich selbst irgendwann fragen, was genau eigentlich deine Aufgabe ist. Deshalb muss ein Fernsehredakteur mitreden, einfach, weil er dafür bezahlt wird. Das kann anstrengend sein, das kann aber auch mal erhellend und produktiv sein. Vor allem, wenn wir für klassische TV-Sender wie den BR fiktionale Stoffe herstellen, ist das ein ganz produktiver Austausch unserer beiden Erfahrungswelten.

Ich wollte nicht mehr mit Redakteuren über Pointen diskutieren.

WIRED: Gibt es inhaltliche Unterschiede zwischen einer Serie, die fürs Internet konzipiert ist, und einer, die nur im Fernsehen laufen soll?
Ulmen: Nein. Du musst im Netz einfach ein bisschen schneller auf den Punkt kommen, da muss es in drei Minuten funktionieren. Das ist eine Formsache, die mit der Sehgewohnheit im Netz zu tun hat.

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WIRED: Deutsche TV-Kritiker träumen gern von der großen deutschen Dramaserie, die bitte endlich mal erfunden werden soll. Nun gibt es zwei Versuche: Tom Tykwer dreht demnächst für ARD und Sky „Babylon Berlin“, und Nico Hofmann hat für RTL die Serie „Deutschland 83“ produziert. Träumen Sie auch von der großen deutschen Serie?
Ulmen: Ich würde mich gar nicht auf Drama als Genre festlegen. Es kann sein, dass das Publikum Drama irgendwann satt hat. Es sind großartige Dramenserien aus den USA gekommen in den vergangenen Jahren, aber man sollte sich vor dem Sat1-Effekt in Acht nehmen: Immer wenn bei allen Sendern boomende Genres, zum Beispiel Quizshows, schon durch waren, hat Sat1 den Hype auch erkannt — ist dann aber leider mit dem hundertsten Quiz-Format nach allen anderen gefloppt. Vielleicht ist es schlau, mit einer neuen deutschen Serie das Genre zu wechseln, um eventuell den neuen Trend zu setzen statt den aktuellen zu verdödeln. Die Messlatte ist sehr hoch: Kann man „Breaking Bad“ und „House of Cards“mit etwas ähnlichem toppen? Das ist ja nicht nur in Deutschland ein sehr hoher Anspruch.

Nehmt euch in Acht vor dem Sat1-Effekt!

WIRED: Die Kritik an den heutigen deutschen Fernsehserien ist immer wieder, dass sie furchtbar gleichförmig seien, plump und durchgetaktet: Scheinbar wird mit der Stoppuhr abgezählt, was in welcher Minute wie erzählt sein muss. Diese Serien sind schon irre vorhersehbar, nicht?
Ulmen: Diese Serienlogik ist oft gebrochen worden, aber eher nicht im deutschen Fernsehen. Vor „Breaking Bad“ und „House of Cards“ galt ja , dass eine Serie positiv besetzte Helden brauche, die gegen das Böse kämpfen und mit dem wir mitfiebern. Plötzlich haben Serien Erfolg, deren Protagonist abgrundtief böse ist — und wir Zuschauer gehen trotzdem mit. Das war der Bruch einer Regel, die in Stein gemeißelt schien. Ich finde es beruhigend, wenn so etwas passiert.

Das ist alles keine Zukunftsdebatte mehr, sondern längst Gegenwart.

WIRED: Während in den USA schon 40 Prozent der US-Haushalte mindestens ein Streaming-Abo haben, ist in Deutschland bislang kaum jeder Hundertste bei Netflix. Und doch: Kann man heute schon vorhersehen, wie sich das Zuschauerverhalten verändert, wenn zukünftig mutmaßlich auch in Deutschland immer weniger Menschen linear fernsehen werden und immer mehr nonlinear streamen?
Ulmen: Für mich ist das gar keine Zukunftsdebatte mehr, sondern längst Gegenwart. Ich selbst konsumiere Fernsehen ebenfalls längst über verschiedene Streaming-Dienste. Und ich kenne fast nur Leute, die das auch tun. Ich kann mich kaum noch erinnern, wann zum letzten Mal sonntagsabends jemand zu mir gesagt hat: „Tut mir leid, ich muss jetzt weg, um 20:15 Uhr fängt der ,Tatort‘ an.“ Den schaut man in der Mediathek an. Die Abrufzahlen bestätigen den Trend.

WIRED: Sie selbst bilden mit Nora Tschirner ja ein „Tatort“-Ermittlerduo. Laut ARD schauen durchschnittlich 9,5 Millionen Menschen sonntagsabends „Tatort“ linear im Fernsehen und nur 200.000 später in der Mediathek. Hätten Sie auch gedacht, dass schon mehr gestreamt wird?
Ulmen: Ich kenne andere Zahlen, die in die Million gehen. Unser „Tatort“ zum Beispiel. 200.000 wundert mich. Vielleicht ist das ein Durchschnittswert, der bedeutet, dass manche „Tatorte“ kaum in der Mediathek abgerufen werden, andere mehr. Das könnte eine Generationenfrage sein. Vielleicht sind Menschen, die sich einen „Tatort“ mit Nora Tschirner und mir angucken, in einem Alter, in dem man weiß, wie man den auch noch ein, zwei Tage nach der Fernsehausstrahlung im Netz schauen kann. Ich hätte gedacht, dass die Zugriffe in der Mediathek immer um eine Million liegen, und ich weiß zumindest, dass es bei den Til-Schweiger-„Tatorten“ und denen aus Münster ebenfalls so ist. Wenn die Durchschnittszahl jedoch um so vieles niedriger ist, dann wäre es tatsächlich immer noch ein Zukunftsthema. 

Wie es mit dem Fernsehen weitergeht, und warum Netflix-CEO Reed Hastings als nächstes die Kinos erobern will, lest ihr in der Titel-Story der neuen WIRED. Alles Wichtige zum Thema Streaming erfahrt ihr außerdem in unserem Streaming-Special

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