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„Wir brauchen eine Debatte über den Umgang mit Hirndaten“

von Anna Schughart
Mit Brain-Computer-Interfaces lassen sich Computer, Roboter und Prothesen bald durch „Gedankenkraft“ steuern. Das hat auch das Interesse von großen Techfirmen geweckt. Müssen wir unsere Hirndaten vor ihnen schützen?

Menschen, die mit ihrer Hirnaktivität Drohnen lenken; eine Prothese, die sich durch ein Gehirnimplantat steuern lässt – ein paar Beispiele für das, was unsere Gedanken in Zukunft alles anstellen können, gibt es schon. Bisher beschränken sie sich vor allem auf den medizinischen Bereich. Doch das könnte sich bald ändern, sagt Philipp Kellmeyer, Neurologe an der Uniklinik Freiburg.

Kellmeyer erforscht, wie man Gehirnaktivität nutzen kann, um Computersysteme zu steuern. Er sagt: Große Techfirmen arbeiten bereits daran, diese Technologie zu Geld zu machen. Aber was bedeutet das für unsere Privatsphäre? Sind unsere Hirnaktivitäten die nächsten Daten, die wir Facebook und Co. überlassen? Zusammen mit Kollegen hat Kellmeyer aufgeschrieben, welche ethischen Herausforderungen sich aus der Brain-Computer-Technologie ergeben. Im WIRED-Interview spricht er darüber, warum jetzt ein guter Zeitpunkt zum Handeln ist, was unsere Hirnaktivität über uns verrät und ob Implantate unsere Fähigkeiten verbessern könnten.

WIRED: Wie funktionieren Computer-Brain-Interfaces?
Philipp Kellmeyer: Die Grundidee ist, dass man Hirnaktivität in Steuerungsbefehle für Computer übersetzt. Eine Möglichkeit, um die Hirnaktivität zu messen, ist, sie durch Elektroden außen vom Schädel abzuleiten. Das nennt man EEG und es ist für Neurologen und Psychiater eine wichtige Methode zur Diagnose von Krankheiten wie Epilepsie. Weil das Signal dabei aber durch den Schädel hindurch muss, wird es abgeschwächt und ist dann schwierig zu interpretieren. Neuere Ansätze wollen es deshalb direkt vom Gehirn ableiten.

WIRED: Mit Hilfe von Implantaten?
Kellmeyer: Ja, in den USA arbeiten zum Beispiel einige Gruppen an sogenannten Nadelelektroden-Implantaten. Dabei werden mehrere kleine Nadelelektroden direkt in die Hirnoberfläche gedrückt. So kann man sehr informative Signale direkt von den Neuronen ableiten. Gleichzeitig ist das natürlich auch ein invasiver Eingriff, der kleinere Blutungen auslösen kann. Ich und meine Kollegen arbeiten daher daran, Elektrodengitterchen – also mehrere Elektroden, die in ein flexibles Silikongemisch eingebettet sind – direkt auf die Hirnoberfläche zu legen. Das sollte zu weniger Verletzungen führen und gleichzeitig ein besseres Signal ergeben als das traditionelle EEG außerhalb des Schädels. Das alles sind aber noch keine lizenzierten Systeme, die man kaufen kann.

WIRED: Das könnte sich bald ändern, oder?
Kellmeyer: Noch liegt der Hauptanwendungsbereich für Technologien wie das EEG oder die Implantate in der Medizin. Aber in letzter Zeit hat sich hier viel verändert: Die Qualität der Signale ist besser geworden. Dazu kommt, dass man diese riesigen Datenmengen heutzutage viel besser in Echtzeit auswerten kann. Intelligente, selbstlernende Algorithmen machen es möglich, Computer- und Robotersysteme genauer als je zuvor mit Hirnaktivität zu steuern. Große Technologiefirmen wie Google, Facebook oder auch Tesla setzten deshalb stark auf sogenannte „consumer-directed neurotechnology“.

WIRED: Wie genau sieht das aus?
Kellmeyer: Facebook hat beispielsweise angekündigt, innerhalb von drei Jahren ein EEG-System zu entwickeln, das es möglich machen soll, mit Gedanken zu schreiben. Was genau die großen Techfirmen planen, darüber geben sie aber nur wenig Auskunft.

WIRED: Und darauf gibt es auch keine Hinweise?
Kellmeyer: Firmen wollen in erster Linie Geld verdienen. Momentan machen Google oder Facebook das vor allem über Werbung, sogenanntes „targeted advertising“. Die Vermutung liegt also recht nahe, dass sie diese Technologie auch dafür einsetzten wollen.

WIRED: Was verraten meine Gehirnaktivitäten denn über mich?
Kellmeyer: Zuerst einmal sind diese Daten hoch charakteristisch. In Zukunft wäre es in nur wenigen Sekunden möglich, Sie mit einer hundertprozentigen Genauigkeit zu identifizieren – wie bei einem genetischen Fingerabdruck. Das heißt alles, was Sie in der Zeit machen, in der Sie über Ihre Hirnaktivität eingeloggt sind, kann Ihnen unzweifelhaft zugewiesen werden. Man kann dann auch feststellen, in welchem Wachheitszustand Sie sich befinden. Sind Sie eher müder oder konzentriert? Welche Inhalte erzeugen bei Ihnen Aufmerksamkeit? Das kann man dann „wunderbar“ nutzen, um zu optimieren, was Ihnen gezeigt wird – und noch besser Umsätze zu machen.

Wir dürfen den Kampf um die personenbezogenen Hirndaten nicht verlieren, weil zu viele Menschen bereits einen Service nutzen.

WIRED: Sind unsere Gehirnaktivitäten also die nächsten Daten, die wir an Facebook und Co. abgeben?
Kellmeyer: Noch sind Hirndaten nicht massenhaft verfügbar. Jetzt wäre es also an der Zeit, sich Gedanken zu machen, wie man das regeln will. Hirndaten könnten zum Beispiel einen ähnlichen rechtlichen Status bekommen wie Organe. Mit denen darf man auch nicht handeln, weil sonst für Menschen der Anreiz bestehen könnten, Teile ihres Körpers zu verkaufen.

WIRED: Computer-Brain-Interfaces zu verbieten, wäre aber keine Option, oder?
Kellmeyer: Im Gegenteil! Für sie sind sehr viele extrem nützliche Anwendungen denkbar. Es kann aber nicht sein, dass in fünf Jahren eine Firma mit einem Prototyp herauskommt, der sich dann ähnlich wie das iPhone wie ein Lauffeuer verbreitet und wir – wie bei den Smartphones – den Kampf um die personenbezogenen Hirndaten verlieren, weil zu viele Menschen den Service bereits nutzen.

WIRED: Welche Anwendung für Brain-Computer-Interfaces finden Sie denn am Lohnendsten?
Kellmeyer: Ich hoffe, dass wir den Menschen, die es am dringendsten brauchen, helfen können: Schwerstgelähmte, die sich nicht mehr bewegen oder sprechen können, aber geistig noch rege sind. Ihnen könnte ein Brain-Computer-Interface, das in Echtzeit-Daten analysiert, und mit dem sich dann ein Roboter oder ein Sprachprogramm bedienen lässt, eine echte verbesserte Lebensqualität bieten. Alle Anwendungen, die sich an Konsumenten richten, finde ich dagegen eher zweitrangig.

WIRED: Facebook und andere Firmen entwickeln wahrscheinlich erst einmal Brain-Computer-Interfaces für die man ein Headset aufsetzten muss. Mit Gehirnimplantaten dagegen könnten sich Computer und Gehirn gegenseitig beeinflussen.
Kellmeyer: Ja, das wird in der Zukunft ein wichtiger Aspekt sein: Sogenannte „closed loop“-Systeme, die nicht nur die Hirnaktivität messen, sondern auch beeinflussen. Die Messung beeinflusst dann die Stimulation und umgekehrt.

WIRED: Kann man so die Fähigkeiten von Menschen verbessern?
Kellmeyer: Durch die gezielte Stimulation von Hirnregionen lassen sich zukünftig möglicherweise zum Beispiel Konzentration und Aufmerksamkeit verbessern. Ich sehe das vor dem Hintergrund des zunehmenden Optimierungszwangs in unserer Gesellschaft jedoch eher kritisch. Auch in der militärischen Forschung, insbesondere in den USA, gibt es daran ein großes Interesse, zum Beispiel für die Behandlung von posttraumatischen Belastungstörungen. Auch hier ließe sich kritisch fragen, ob und inwieweit neurotechnologische Forschung in die Hände militärischer Einrichtungen gehört oder nicht doch eher in öffentlichen Forschungseinrichtungen entwickelt werden sollte.

WIRED: Wie sicher sind Gehirnimplantate denn überhaupt?
Kellmeyer: Bei der Behandlung von Krankheiten wie Parkinson, Depression oder Zwangsstörung wird die Hirnstimulation schon eingesetzt, oft mit gutem Erfolg. Durch die Befragung von Patienten weiß man aber auch, dass so ein Implantat die Persönlichkeit negativ beeinflussen kann. Die Patienten sagen, sie fühlten sich nicht mehr wie sie selbst, ihre Identität habe sich verändert. Sie zeigen vielleicht Verhaltensweisen, wie Spielsucht oder einen verstärkten sexuellen Drang, die ihnen sonst fremd waren. Bevor man diese Technologie also jetzt in allen möglichen Situationen einsetzt, muss man ihre Auswirkungen erst im Detail verstehen.

WIRED: Welchen Einfluss haben wir darauf, dass die positiven Anwendungen für Brain-Computer-Interfaces überwiegen?
Kellmeyer: Die großen Technologiefirmen werben derzeit viele Wissenschaftler von Universitäten und Forschungsinstituten ab. Eine Möglichkeit wäre deshalb, dass man die öffentliche Forschung und Entwicklung stärkt, indem man entsprechende Institute gründet und Forschungsmittel bereitstellt. Der andere Weg geht über die politische Steuerung und Regulierung. Wie dieser Prozess ausgeht, kann ich noch nicht sagen. Aber sicher ist: Wir brauchen eine breite öffentliche Debatte über den Umgang mit Hirndaten.

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