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Virtual Psychology: Was in unserem Kopf passiert, wenn wir VR erleben

von Max Biederbeck
Was macht Virtual Reality eigentlich mit unserem Gehirn? Wissenschaftler haben etwa herausgefunden: Wer in der VR einer Minderheit angehört, wird toleranter. Zudem: Wer im Spiel die Rolle eines Super­helden einnimmt, verhält sich danach sozialer. Und umgekehrt. Warum? Experten haben den Begriff Immersion dafür gefunden.

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im Juni 2016. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

Cyrill Etter ist bereit zu springen, doch sein Unterbewusstsein ist stärker. Der 32-Jährige tastet sich an die Kante des ros­tigen Gerüsts heran, späht vorsichtig in die Tiefe. Unten rauschen Autos und Züge zwischen den Wolkenkratzerschluchten hindurch, Scheinwerfer entfernter Clubs strahlen durch den Nachthimmel. Etter steht ohne Sicherung über diesem Abgrund und versucht, sich zu überwinden. Der Schwindel aber gibt ihm keine Chance. Dabei würde er keine 20 Zentimeter fallen.

Denn tatsächlich steht der Berliner nicht hoch oben über den Schluchten von Metropolis, sondern auf einem Podest aus Pressspan im Werkraum seines Game Science Center in Kreuzberg. Seit drei Jahren bauen Etter und sein Team hier eine Spielhölle der Zeitgeschichte auf. Sie sammeln dafür interaktive Ausstellungsexponate aus der ganzen Welt. Der neueste Zugang in der Sammlung schickt Etter in eine andere Welt, eine virtuelle: Er trägt die Consumer-Version der Oculus Rift.

Ein Tracking-System erfasst jede seiner Bewegungen. Die Stadt ist eine Projektion mit 233 Millionen Pixeln pro Sekunde. Das ferne Autohupen und der Wind pfeifen aus integrierten 3D-Binaural-Sound-Kopfhörern. Die Demo soll beweisen, wozu die lange erwartete Virtual-Reality-Brille in der Lage ist, die Oculus im Juli in die Wohnzimmer in Deutschland und im Rest der Welt liefern wird.

Mit ihr und den Konkurrenzprodukten von HTC, Microsoft und Sony betreten bald Millionen von Menschen regelmäßig neue Spielformen der Realität. Anbieter mit sehr unterschiedlichen Interessen arbeiten bereits an passenden Angeboten für die Virtual Reality (VR). Die von der Youpornisierung gebeutelte Erotikindustrie setzt auf die intime Überzeugungskraft der Technologie. Computerspielehersteller hoffen auf die gefühlsmäßige Verschmelzung zwischen Spieler und Avatar.

Doch es gibt auch Ideen für Anwendungen ernsterer Natur. Verbrennungspatienten finden in eisigen Welten Ablenkung von ihren Schmerzen, und Kriegsveteranen werden mit Traumata konfrontiert, die sie im Kampf­einsatz erlebt haben. Doch wo die Folgen von Verletzungen gelindert und Phobien behandelt werden können, könnten körperliche und seelische Schmerzen auch ausgelöst werden.

Der Mensch begann damit, Werkzeuge statt seiner Arme zu benutzen. Dann verbesserten Brillen seine Augen. Jetzt ersetzt er sein bewusstes Realitätsmodell

Thomas Metzinger

Deshalb beschäftigen sich auch Forscher mit den Auswirkungen von VR. „Der Mensch begann damit, Werkzeuge statt seiner Arme zu benutzen. Dann verbesserten Brillen seine Augen. Jetzt ersetzt er sein bewusstes Realitätsmodell“, sagt Thomas Metzinger, Neuroethiker an der Universität Mainz. Es geht Wissenschaftlern wie ihm um die Folgen für unser Bewusstsein. Wie sollen wir noch unterscheiden, was echt ist und was nicht? Wird VR unser soziales Zusammenleben stärker umkrempeln, als Fernsehen und Internet es je vermochten? Schon bald wird es völlig selbstverständlich sein, unseren Verstand hinters Licht zu führen. Und deshalb taucht auch immer öfter die Frage auf: Was passiert, wenn dunkle Mächte solche Technologien missbrauchen – für die Neuprogrammierung von Gedanken, für militärischen Drill oder gar Folter?

Es ist ein beeindruckendes Schauspiel, Cyrill Etter mit einer Illusion kämpfen zu sehen. Als er die Kante des realen Holzpodests erreicht, verliert er kurz sein Gleichgewicht und zuckt zurück. Zur virtuellen Höhenangst kommt der haptische Schock einer realen Tiefe.

Der hält auch dann noch weiter an, als er die Brille abgenommen hat. Sein Gehirn hat sich an die künstliche Umgebung gewöhnt und fühlt die virtuelle Bedrohung noch immer. Der Kick ist echt. „Wer virtuell unter Stress steht, etwa bei einem Horrorspiel, der bleibt auch in der echten Welt noch eine Weile im Alarmzustand“, erklärt Thomas Metzinger.

Diese sogenannten Priors entstehen auch beim Fernsehen, im Kino oder bei Computerspielen. Sie halten für gewöhnlich nur kurz an, VR-Brillen aber steigern deren Intensität. Bildschirme bilden künstliche Welten in der Regel nur zwei­dimensional ab. Und auch bei 3D-Erlebnissen reicht eine Hand- oder Kopfbewegung, um die Illusion zu brechen. „Die Technik konnte bisher nie das Gefühl vermitteln, dass sich wirklich der ganze Körper im virtuellen Raum bewegt. Das ändert sich jetzt“, sagt Betty Mohler Tesch vom Max-Planck-Institut in Tübingen.

Es ist, als würde ich durch eine lebende Erinnerung laufen

Shahram Izadi

Seit Jahren forscht die Informatikerin an räumlicher Wahrnehmung in der VR. Sie ist überzeugt: Je mehr sich User an die neuen Brillen gewöhnen, desto stärker wird ihre Identifikation mit künstlichen Welten. Experten wie sie sprechen von Immersion, und die nimmt stetig zu.

Die Folgen erforscht das BeAnotherLab, ein internationales Netzwerk von Neurowissenschaftlern, Programmierern und Künstlern. In zahlreichen Ex­perimenten wechseln Phi­lippe Bertrand und seine Kollegen die Körper ihrer Versuchskandidaten per VR-Brille aus. Männer tauschen mit Frauen. Die Hautfarbe verändert sich. Wer gelähmt ist, erlebt es zu stehen. „Bei Embodiment-Versuchen tauchst du in den Körper eines anderen. Das kann die Sicht auf deine Umwelt wie auf dich selbst ändern“, erklärt Bertrand.

Forscher der University of London stellten fest: Wer in der VR einer Minderheit angehört, wird toleranter. An der Stanford University fand man heraus, wer im Spiel die Rolle eines Super­helden einnimmt, verhält sich danach sozialer. Auch Betty Mohler Tesch experimentiert mit der veränderten Selbstwahr­nehmung von Usern, die in der VR ein anderes Gewicht haben oder schneller laufen können. „Wer das eine Weile lang erfährt, erlebt seine Umwelt nach dem Absetzen der Brille erst einmal langsamer“, erklärt sie. Auch Bertrand hat die Erfahrung gemacht: „Implizierter Rassismus, den wir als Kinder unbewusst erlernen, verschwindet während unserer Versuche zunehmend.“

Seine Tochter ist nicht im Raum, aber Shahram Izadi kann trotzdem mit ihr spielen. „Papa, wann kommst du nach Hause?“, fragt das Mädchen. „Sehr bald. Zeig mir mal dein Spielzeug“, antwortet ihr Vater, der als Partner Research Manager bei Micro­soft arbeitet. Sie läuft auf ihn zu, er beugt sich zu ihr herunter. Als die Szene vorbei ist, spielt Izadi sie noch mal ab. Sie ist Teil eines Demovideos von Microsoft, das auch auf You­tube zu sehen ist.

„Es ist, als würde ich durch eine lebende Erinnerung laufen“, erklärt der Forscher. Er erlebt seine Tochter über die Microsoft Hololens und deren Holoportation-System. Die Technolgie lässt echte und virtuelle Realität zu einer Mixed Reality verschmelzen. Man könnte auch sagen: Niemand braucht ein Holodeck. Es reicht eine Brille. „Solche Versuche zeigen, wie VR unter bestimmten Umständen als real interpretiert werden kann“, sagt Mohler Tesch.

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Was ein Mensch erlebt, ist für Thomas Metzinger eine „biologische virtuelle Realität“. Mit Mixed- und Virtual-Reality-Anwendungen überschreiben wir diese, instrumentalisieren sie, um sie bestimmten Wunschvorstellungen anzupassen. Damit wird auch eine Art Virtual Psychology entstehen. „Seit hundert Jahren existiert die Psychologie als Wissenschaft“, sagte Albert Rizzo vom USC-Institut für kreative Technologien dem Guardian. „Wir brauchen noch einmal so lange, um die Auswirkungen der virtuellen Realitäten zu verstehen.“

Um Leitplanken zu errichten, an denen sich sowohl Entwickler und Forscher als auch Nutzer auf ihrem Weg durch die nächs­te Dimension orientieren können, hat Metzinger gemeinsam mit seinem Kollegen Michael Madary einen Code of Conduct entwickelt. Ihre Regeln folgen einem Do-no-Harm-Ansatz für Experimente mit VR und sollen eine Diskussion über die kritischen Seiten der Technologie in Gang bringen.

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„Es sollten keine Experimente durchgeführt werden, die dem Testsubjekt vorhersehbaren und lang anhaltenden Schaden zufügen“, heißt es zum Beispiel. Es müsse klar sein, dass „VR andauernden Einfluss auf das Verhalten von Personen hat und dass damit verbundene Risiken bisher noch nicht bekannt sind“.

An dieser Unsicherheit müssten Wissenschaftler, Entwickler, Wirtschaft und Militär ihr Verhalten ausrichten, schreiben Metzinger und Madary. Forschung müsse vorsichtig und transparent ablaufen. In virtuellen sozialen Netzwerken spielen etwa immer die Fragen eine Rolle: Geht etwas verloren in der sozialen Interaktion per VR-Avatar, und was könnte dieser Verlust für unser reales Selbstempfinden bedeuten?

In der Gegenwart des Berliner Realitäts-Checkpoints traut sich Cyrill Etter bis zum Schluss nicht, von seinem Podest zu hüpfen. Sein Unterbewusstsein hat sich durchgesetzt. Es ging zu tief hinunter zwischen den Wolkenkratzern. Jetzt braucht er erst einmal einen Schluck reale Luft.

„Die Geschwindigkeit der Entwicklung ist wahnsinnig“, sagt er vor der Tür. Für ihn sei die Oculus Rift vergleichbar mit dem ersten Fernseher. Dann blinzelt er in der Sonne, atmet tief ein. „Man bekommt auch ein neues Gefühl für die echte Welt da draußen. Sie kann so angenehm sein.“

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