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Warum setzt sich das „Wundermaterial“ Graphen nicht durch?

von Anna Schughart
Seit 2004 zum ersten Mal Graphen hergestellt wurde, gibt es ständig neue Ideen, was man mit dem angeblichen Wundermaterial so alles machen könnte. Doch Wirklichkeit sind all diese Fantasien noch nicht geworden. Warum eigentlich?

Graphen ist nicht wahnsinnig kompliziert, das Material ist ein reines Kohlenstoffprodukt. Doch anstatt dass die Atome wie zum Beispiel in einem Diamanten dreidimensional angeordnet sind, ist Graphen zweidimensional – es besteht aus einer einzigen Atomlage Kohlenstoff. „Alles, mit dem wir in der Umwelt zu tun haben, ist dreidimensional. Graphen ist das erste Material, das es in der zweidimensionalen Form gibt“, sagt Daniel Neumaier von der AMO GmbH, die sich auf Nanofabrikation spezialisiert hat. „Durch diese Kristallstruktur bekommt Graphen ganz nette Eigenschaften.“

„Ganz nett“ wirkt wie eine totale Untertreibung, wenn man sich die Schlagzeilen anschaut, die das Material in den vergangenen Jahren produziert hat. Die Anwendungsmöglichkeiten für Graphen kennen keine Grenzen, wenn man den Berichten glaubt. Es könnte die Batterietechnologie revolutionieren und Raumschiffe mit Sonnenenergie antreiben, hieß es, Graphen-Spinnenweben könnten fallende Flugzeuge auffangen und das Material könnte faltbare Smartphones möglich machen.

Graphen hat eine Reihe von Eigenschaften, die nahezu unvergleichlich sind

Max Lemme, RTWH Aachen

„Graphen hat eine Reihe von Eigenschaften, die nahezu unvergleichlich sind“, sagt auch Max Lemme, von der RWTH Aachen. Dazu gehören seine extreme Festigkeit, seine hohe elektrische Leitfähigkeit und die Tatsache, dass es zu allem Überfluss auch noch transparent ist. „Das kann man sonst nicht in einem Material vereint finden“, sagt Lemme.

Doch irgendwie scheint die Graphen-Technologie über das könnte nicht hinauszukommen: Man könnte damit Flugzeuge auffangen, man könnte damit Raumschiffe bauen. Und während oft der Eindruck entsteht, faltbare Bildschirme und Super-Batterien stünden kurz vor der Markteinführung, sind die einzigen wirklichen Alltagsgegenstände, die bisher Graphen enthalten: Tennisschläger und Skier. Woran liegt das?

Jedenfalls nicht daran, dass Graphen nicht ausreichend erforscht wäre. Es ist, wie gesagt, nicht wahnsinnig kompliziert: ein Atom, eine einfache Kristallstruktur. „Das kann man alles relativ einfach berechnen und vorhersagen“, sagt Neumaier. Aber: „Bei der Nutzbarmachung des Materials, sieht es ganz anders aus. Da stehen wir noch am Anfang.“ Während die Wissenschaft Graphen also mittlerweile gut versteht, ist der Übergang vom Labor in die industrielle Herstellung noch ein Problem.

Bei der Nutzbarmachung des Materials stehen wir noch am Anfang

Daniel Neumaier, AMO GmbH

Für Neumaier ist es daher gar kein Wunder, dass es Sportartikelhersteller sind, die sich das Graphen als erste zunutze machen: „Sportgeräte stehen häufig am Anfang einer technologischen Entwicklung, weil man mit einer kleinen Leistungssteigerung einen großen Mehrwert erhält.“ Heißt: Die Menschen sind bereit, viel auszugeben, auch wenn der Vorteil erst mal nur minimal ist. Das sei schon bei anderen Materialien so gewesen, sagt Neumaier. Kohlefaserverbundstoffe, zum Beispiel hätten zwanzig Jahre gebraucht, um vom Sport zur Anwendung im Auto zu kommen. Und selbst heute bestehen die meisten Autos noch aus Stahl. „Es dauert einfach seine Zeit, bis ein neues Material sich von den ersten Anwendungen komplett durchsetzt, um dann den Massenmarkt zu betreten“, sagt Neumaier.

Für welchen Industriezweig Graphen den größte Vorteil verheißt, kann Neumaier gar nicht genau sagen: „Aber großes Potential haben zum Beispiel Kompositmaterialien.“ Also Stoffe, die aus zwei Materialien bestehen, die dem Stoff dann neue Eigenschaften verleihen, wie zum Beispiel faserverstärkte Kunststoffe.

„Das Potenzial von Graphen ist unheimlich groß“, sagt auch Lemme. „Und wenn es gelingt, einige Dinge davon umzusetzen, dann hat man hinterher einfach bessere Produkte.“ Das könnten Flugzeuge oder Autos sein, die plötzlich viel leichter sind und deshalb weniger Treibstoff brauchen, „oder elektronische Bauteile, die Computern neue Eigenschaften verleihen, die Smartphone-Produktion günstiger machen oder das Internet of Things beflügeln“. Doch bisher kann man das alles noch nicht wie bei anderen, lange bekannten Materialien umsetzen. „Wir sind gerade an dem Punkt, an dem man einfach noch viele technische Probleme zu lösen hat“, sagt Lemme

„Die Herstellung ist ein Problem – nicht nur in genügend großen Mengen, sondern auch zu einem vernünftigen Preis“, benennt Neumaier eine der Baustellen. „Die entsprechenden Anlagen existieren noch nicht, sondern müssen noch entwickelt werden. Aber solange die Nachfrage nicht groß genug ist, wird kaum in dieser Richtung investiert.“ Die Nachfrage wird allerdings auch nicht größer, solange das Material nicht günstiger ist. „Es dauert einfach, bis eine gewisse Produktionskapazität aufgebaut ist, das kann man nicht von heute auf morgen herstellen“, sagt Neumaier.

Wir sind an einem Punkt, wo wir von der Grundlagenforschung zur Innovation übergehen, und brauchen deshalb die Kooperation mit der Industrie

Max Lemme, RTWH Aachen

2013 rief die Europäische Union eine große Graphen-Initiative ins Leben, an der sowohl Neumaier als auch Lemme beteiligt sind. Die Erforschung von Graphen wird zehn Jahre lang mit viel Geld unterstützt, insgesamt sollen eine Milliarde Euro zusammenkommen. Das hat die Graphen-Forschungsgemeinde zusammenwachsen lassen. Doch Lemme findet, dass jetzt ein neuer Schritt nötig ist: „Wir sind an einem Punkt angekommen, wo wir von der Grundlagenforschung zur Innovation übergehen, und brauchen deshalb Programme, die die Kooperation mit der Industrie ermöglichen.“

Obwohl Lemme die langfristige Förderung eines Forschungsthemas wie Graphen sehr begrüßt, gibt es aus seiner Sicht für die industrielle Umsetzung ein Problem: Die Flagship-Initiative ist mit 140 Partnern zu groß: „Unternehmen arbeiten ab einem bestimmten Reifegrad der Technologie lieber mit nur drei, vier Partnern zusammen. Das Konsortium ist für sie zu groß, um wirklich in eine intensive Kooperation, in der es um entscheidendes Intellectual Property geht und die dann auch in einem Produkt mündet, einzusteigen.“

Wo also steht Graphen in den nächsten Jahren? War die Aufregung um das Material nur ein Hype? Oder ist Graphen wirklich das Wundermaterial, als das es so gerne betitelt wird? „Beides“, sagt Neumaier. „Graphen ist überhypt. Die Erwartung, dass man Graphen in zwei Jahren überall finden wird, ist nicht realistisch.“ Und doch: „Es ist auch ein Wundermaterial, eine neue Materialklasse, die komplett andere Möglichkeiten bietet, als sämtliche anderen Materialien, die wir bisher kennen. Jetzt geht es darum herauszufinden, wo man es mit Mehrwert einsetzen kann.“

„Man merkt, nachdem der Hype vorüber ist, dass es in der technischen Umsetzung sehr, sehr schwierig wird“, sagt Lemme. „Ich habe da mit nichts anderem gerechnet.“ Trotzdem glaubt er, dass wir einiges von dem, was Graphen verspricht, auch irgendwann sehen werden. „Aber nicht im nächsten Jahr, sondern in fünf oder zehn Jahren.“

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