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Pech spielte keine Rolle bei der EM-Niederlage Deutschlands

von Cindy Michel
Irgendwie war es wie verhext gestern Abend. So sehr sich die DFB-Elf auch anstrengte, der Ball wollte einfach nicht ins Tor. „Pech gehabt“, damit lässt sich das Aus der Deutschen bei der EM 2016 einigermaßen ertragen. Aber hatten die Franzosen wirklich mehr Glück? Kann man unglücklich verlieren? Das wollten wir genauer wissen und haben beim Fußballexperten Constantin Eckner sowie dem Sportpsychologen Markus Raab nachgefragt.

Bis zur letzten Sekunde hat das deutsche Team geackert und die deutschen Fans haben gespannt die Daumen gedrückt. Doch es hat nicht sollen sein. Deutschland verliert 0:2 gegen Frankreich und scheidet im Halbfinale der EM aus. Bundestrainer Joachim Löw ist am Boden zerstört und findet direkt nach dem Spiel keine richtige Erklärung für das Debakel. Nur diese eine: „Wir hatten heute nicht das Glück auf unserer Seite. Ich kann keinem einen Vorwurf machen.“

Auch Medien und Social-Media-Portale sind voll von glücklichen wie unglücklichen Phrasen, die das Spielergebnis begründen wollen. Elf Freunde titelt „Die Hand Schrottes – Deutschland fliegt raus, obwohl die Mannschaft besser war“. N24 meint: „Besser gespielt, trotzdem ausgeschieden.“ Der unglückliche Bastian Schweinsteiger schreibt auf Facebook, dass er die Qualität des französischen Teams klar anerkenne und das seiner Mannschaft etwas Entscheidendes gefehlt habe und zwar: „das nötige Quäntchen Glück“.

Dieses kleine Quäntchen Glück könnte also dafür verantwortlich sein, dass Frankreich und nicht Deutschland am Sonntag gegen Portugal antritt. Es kommt oft im Fußball vor – und ist auch Grund dafür, dass Frankreich das erste Mal seit 58 Jahren Deutschland bei einem großen Turnier bezwingt? Oder machen wir es uns vielleicht zu einfach, wenn wir die Niederlage der DFB-Elf mit einem mitleidigen „Pech gehabt“ abtun? 

Schaut man sich die Spielstatistik im Magazin Kicker an, liegt Deutschland klar vorne. Schweini und Co. schießen 18 mal auf das gegenerische Tor, Frankreich nur 16 mal, die deutsche Passquote liegt bei 88 Prozent, die französische bei 78. Vor allem im Ballbesitz brilliert die DFB-Elf mit 68 Prozent und auch die Zweikampfquote dominiert sie mit 53 Prozent. Nicht zu vergessen, werden die deutschen Jungs auch öfter gefoult als Les Bleus. Also eigentlich alles ziemlich schick, wenn da nicht die Spalte „Tore“ wäre. Denn da steht eine dicke fette 0, bei Frankreich eine 2. Wie kann das sein, wenn die deutsche Mannschaft statistisch gesehen so viel besser kickte als ihr Gegner?

„Nur weil ich öfter am Ball bin, als die anderen, heißt das nicht, das ich automatisch besser spiele“, meint der Fußballexperte und Sportjournalist Constantin Eckner. Seine Analyse des gestrigen Spiels für das Fußball-Online-Portal Spielverlagerung.de betietelte er „Überlegen, aber doch verloren“. „Wenn eine Mannschaft in einem Low-Scoring-Sport wie Fußball aufgrund seiner Spielanlagen überlegen ist, bedeutet das noch gar nichts“, erklärt Eckner. „Gerade bei diesen Sportarten, bei denen wenig bis gar keine Punkte erzielt werden, wird der vermeintliche Glücksfaktor immer interessanter.“

„Der ist übrigens genau deswegen ein heiß diskutiertes Thema im Fußball“, so Eckner. Bei High-Scoring-Sportarten wie etwa Basketball oder Handball hätten Teams Chancen, verpatzte Momente wieder gutzumachen, im Fußball eben nicht. „Es gibt auch noch eine statistische Methode zu eruieren, welches Team, wie gut performt und wie viele Tore es eigentlich schießen sollte, aber dazu müsste man über einen längeren Zeitraum Daten sammeln. Expected Goals nennt sich das“, erklärt Constantin Eckner.

„Wenn eine Mannschaft dominanter spielt und am Ende doch verliert, heißt das nicht, dass sie unverdient verloren hat. Wer aufs Tor schießt und nicht trifft, hat eben die Aufgabe nicht präzise genug erfüllt. Egal wie oft ich den Ball habe. Unverdient gibt es nur, wenn Mächte wirken, die ein Team nicht beeinflussen kann, zum Beispiel Fehlentscheidungen des Schiedsrichters.“

Frankreich etwa habe weniger Ballbesitz gehabt, weil das Team eine andere Taktik verfolgt habe, als die DFB-Elf: „Didier Deschamps will ja, dass sein Team defensiver spielt und auf Konter lauert, da hat man den Ball eben nicht so oft.“ Auch könne er Löw keinen Vorwurf machen, der Trainer habe seine Taktik und Aufstellung den Ausfällen im Team angepasst: „Das hat alles gepasst und ging ja auch teilweise auf.“

Auf praktisch taktischer Ebene scheint Glück wohl ein würdiges Diskussionsthema zu sein, aber nicht unbedingt der Grund für die Niederlage der Nationalelf. Auch wenn sie gestern den Franzosen zumindest statistisch überlegen waren, heißt das noch lange nicht, dass sie einfach Pech hatten – die Schüsse kamen einfach nicht präzise genug. Vielleicht lag es ja nicht an der Taktik, sondern an der psychologischen Verfassung der Spieler? Immerhin fehlten drei wichtige Teamkollegen von Beginn an: Mario Gómez als auch Sami Khedira mussten verletzungsbedingt auf der Bank bleiben, während Mats Hummels gesperrt war.

„Der Erwartungsdruck an den Weltmeister ist natürlich extrem hoch“, erläutert Markus Raab, Abteilungsleiter der Leistungspsychologie am Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule in Köln. „Aber das Wissen, dass Topspieler ausfallen, sollte die Leistungsfähigkeit der anderen nicht beeinflussen.“ Ein alter Fußballmythos besagt, dass der unglücklichste Moment, einen Treffer zu kassieren, unmittelbar vor der Halbzeitpause sei. Wenn dem so wäre, dann könnte Bastians Schweinsteigers Handspiel und der damit verbundene Elfmeter, der zum 1:0 für Frankreich führte, tatsächlich für die Niederlage verantwortlich gemacht werden. „Das stimmt nicht. Es gibt eine Studie von Peter Ayton, in der er diese und andere Phänomene rund um den Fußball widerlegt“, berichtet Raab.

Die Müdigkeit könne der Grund für den Fehler Schweinsteigers gewesen sein, überlegt Raab. „Er wollte ja eigentlich mit dem Kopf ran, wenn die Konzentration nachlässt, dann passieren schon solche Fehler. Er hat ja von Anfang an gespielt.“ Sein Handspiel könne die Moral des Teams unter Umständen schon beeinflusst haben, auch wenn der Psychologe dies nicht glaube: „Emotionen können ansteckend sein, wie etwa die Angst. Aber so sahen die Spieler nicht aus.“ Er könne sich aber eine so genannte kontinuierliche Entwicklung vorstellen bei den Spielern: „Das ist wie eine self-fulfilling prohpecy, die Spieler glauben, das heute ein schlechter Tag sei und nichts träfen, also wird er auch schlecht und sie erzielen keine Tore.“

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„Wenn man ständig auf das Tor schießt und der Ball einfach nicht rein will, dann spricht man von dem Cold-Hands-Phänomen“, erläutert Raab. Dies sei das Gegenteil zum Hot-Hands-Phänomen, das besagt, wenn ein Spieler öfters hintereinander einen Punkt erzielt, würde sich das kontinuierlich so fortsetzen. „Aber die Spieler wissen aus eigener Erfahrung, dass das nicht anhalten muss. Es gab schon so viele erfolgreiche und glückliche Aufholjagden im Fußball. Aber gekämpft haben sie bis zum Schluss.“ 

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