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Schwebende Blutlachen: Von einer OP im Weltraum ist abzuraten!

von Adam Rogers
Es ist noch nie ein Mensch im Weltall operiert worden. Irgendwann aber wird das nötig werden. Wie gelingt diese Herausforderung in der Schwerelosigkeit? Blut spritzt dort deutlich mehr, was noch zu den kleineren Problemen gehört. Es gibt Lösungsansätze, es gilt aber auch: Wer Sicherheit braucht, sollte auf der Erde bleiben.

Matthieu Komorowski wollte schon als Kind Astronaut werden. Will er immer noch. Obwohl er wusste, dass seine Chancen gering sein würden, bewarb sich der französische Anästhesist und Doktorand am Imperial College London 2008 bei der Europäischen Weltraumorganisation ESA. „Als einfacher Assistenzarzt bin ich im Auswahlverfahren leider nicht sehr weit gekommen“, sagt Komorowski. „Aber ich arbeite an den notwendigen Qualifikationen, entwickle mein Können und Wissen weiter.“

Spezialist ist Komorowski im Feld der Anästhesie. Und als Komorowski seine Lektüre über Medizin in der Raumfahrt vertiefte, erkannte er, dass genau diese Expertise ihn vielleicht seinem Ziel näher bringen könnte. Denn bei all den Bedenken, die Wissenschaftler rund um die Gesundheit und Sicherheit von Astronauten haben, bereiten ihnen traumatische oder körperliche Verletzungen am meisten Sorge. Denn diese können die größtmögliche Auswirkung auf eine Mission haben – und man weiß so gut wie nichts darüber, wie sie sich im All verhalten oder wie man sie dort am besten heilt.  

Das liegt zum Teil daran, dass sich bisher noch kein Astronaut im All schwer verletzt hat. Während der vergangenen Jahrzehnte im Weltraum und den verschiedenen Missionen wie Apollo, Mir, Skylab oder Einsätzen auf der ISS haben zwar Astronauten immer wieder medizinische sowie gesundheitliche Probleme gehabt – und es gab auch tödliche Katastrophen – aber bisher hat sich kein Astronaut so schwer dort oben verletzt, dass eine Operation notwendig gewesen wäre.

Man stelle sich dieses Horrorszenario vor: Einer der Astronauten verlässt das Schiff, um außen am Raumfahrzeug ein größeres Teil zu reparieren. Er verliert die Kontrolle, ein Arm oder ein Bein wird zerquetscht.

Sollte die Menschheit erneut versuchen, in die unendlichen Weiten des Alls vorzudringen, raus aus der Erdumlaufbahn mit Kurs etwa auf den Mars, wird sich zwangsweise irgendwann jemand verletzen. Denn die Chance, dass es zu einem schwerwiegenden medizinischen Problem bei einer Weltraummission kommen könnte, bezifferte die ESA in einem Bericht aus dem Jahr 2002 mit 0,06 Prozent pro Person und pro Jahr. So ist bei einer Crew von sechs Personen auf einer 900-tägigen Marsmission ein medizinischer Notfall fast programmiert, wie Komorowski im vergangenen Jahr in einer Fachzeitschrift erläuterte.    

Man stelle sich dieses Horrorszenario vor: Einer der Astronauten verlässt das Schiff, um außen am Raumfahrzeug ein größeres Teil zu reparieren. Er verliert die Kontrolle, ein Arm oder ein Bein wird zerquetscht. Der Astronaut wird dem Vakuum ausgesetzt, schafft es aber dennoch zurück ins Fahrzeug – dehydriert, teilweise mit Erfrierungen, schwer blutend und unter Schock. Was nun als nächstes passiert, hängt davon ab, ob die Crew noch in der Erdumlaufbahn oder schon im interplanetaren Raum ist – und was für eine Art von medizinischer Ausrüstung zur Verfügung steht.

Es sieht zwar nicht so aus, als ob die NASA irgendwann in naher Zukunft zum Mars fliegen würde, aber Leute wie Elon Musk unterbieten sich gegenseitig mit Deadlines für erste Marsmissionen. Angeblich soll bereits Ende des Jahrzehnts Kurs auf den roten Planeten genommen werden. Eine Mission, die Musk ziemlich genau bei der International Astronomical Conference in Guadalajara beschrieb, scheint erst einmal aufgeschoben zu sein. Doch SpaceX werde trotzdem zum Mars reisen, sagt Musk. Bei der ISS Research and Development Conference in Washington DC meinte Musk: „Wenn Sicherheit das höchste Ziel ist, dann würde ich nicht zum Mars fliegen.“

Hormone spielen verrückt, das Immunsystem sowie die Wundheilung wird träge, Knochen brechen schneller und wenn sie überhaupt wieder zusammenwachsen, dann nur sehr langsam.

Natürlich ist der Weltraum kein sicherer Ort. Selbst wenn man sich irgendwie der mörderischen Strahlung entziehen könnte, müsste man sich immer noch Sorgen über Muskelatrophie und immer brüchiger werdende Knochen in der Schwerelosigkeit machen. Als ob das nicht schon genug wäre, gibt es da auch noch die sogenannte „psychiatrische Dekompensation“ – vielen Dank auch dafür, Langzeit-Isolation in engen Räumen. Das ist NASA-Lingo für „katastrophaler Wahnsinn“.     

Nach langer Zeit im Weltall verändert sich also der Körper – und so werden traumatische Verletzungen noch gefährlicher. Blut und rote Zellen reduzieren sich, Blutgefäße dehnen sich weder, noch ziehen sie sich besonders gut zusammen. Diese Art von kardiovaskulären Problemen würde auf der Erde auf einen signifikanten Blutverlust hindeuten – und diese Diagnose entstünde ohne eine offene Wunde. Hormone spielen verrückt, das Immunsystem sowie die Wundheilung wird träge, Knochen brechen schneller und wenn sie überhaupt wieder zusammenwachsen, dann nur sehr langsam. Währenddessen werden infektiöse Bakterien immer resistenter gegenüber Antibiotika.    

Dank VICE weiß die Öffentlichkeit auch, was für eine medizinische Versorgung sich an Bord der ISS befindet: In einer professionellen Apotheke finden Astronauten starke Medikamente, sogenannte EpiPens – Epinephrin-Autoinjektoren, die etwa verwendet werden, um eine allergische Reaktion zu behandeln, Notfall-Defibrillatoren und Ausrüstung für Infusionen sowie diagnostische Geräte wie etwa ein Blutdruckmessgerät.      

Im Wesentlichen lernen ISS-Astronauten also, wie man einen Verletzten stabilisiert. Wenn das geschehen ist, wird ein Arzt auf der Erde kontaktiert.

Auf der ISS gibt es außerdem ein Ultraschallgerät – ein Gerät, das nicht nur innere Blutungen lokalisieren kann, sondern mit dem man auch die Flüssigkeit um den Sehnerv messen und so den Hirndruck ermitteln kann. Für Astronauten ein wichtiges Kontrollverfahren, denn lange Zeit im All und der Schwerelosigkeit kann sich negativ auf das Sehvermögen auswirken, sogar zur Erblindung führen. Bei Zahnschmerzen soll eine zahnärztliche Ausrüstung weiterhelfen. „Ein paar Dinge lernen wir, um sie direkt in Notfallsituationen anzuwenden“, sagt Steve Swanson, Kommandeur der ISS im Jahr 2014. „Bei allem anderen nehmen wir Kontakt mit der Bodenstation auf und fragen nach.“

Während seiner Ausbildung musste Swanson nicht nur in der Notfallaufnahme arbeiten, sondern lernte auch an einer Ziege, wie man eine Thoraxdrainage oder einen Luftröhrenschnitt setzt. Trotz all dieser Erfahrungen machen er und seine Kollegen sich Gedanken darüber, wie ein wirklicher Notfall im All ablaufen würde. „Wir malen uns immer die schlimmsten Szenarien aus und sprechen dann darüber. Was würde man machen, wenn da ein kleines Loch wäre? Was, wenn das Loch größer wäre? Was würdest du wirklich machen?“, sagt er. „Wenn es jemandem extrem schlecht gehen würde, dann würden wir ihn in einer Sojus-Rakete zurück zur Erde schicken, auch wenn das sicher keine bequeme Reise werden würde.“

Im Wesentlichen lernen ISS-Astronauten also, wie man einen Verletzten stabilisiert. Wenn das geschehen ist, wird ein Arzt auf der Erde kontaktiert. Anil Menon, einer von etwa 20 NASA-Medizinern, wollte keine Details preisgeben, denn ärztliche Schweigepflicht gilt auch im Weltraum. Was er aber berichtete war, dass er in den vergangenen Jahren so ziemlich alles von dem Beantworten von leicht besorgten E-Mails aus dem All bis hin zu großen Team-Meetings mit Spezialisten, die via Telefonkonferenz zugeschaltet waren, erlebt hat. 

Das ist alles möglich – wenn man sich in einer erdnahen Umlaufbahn befindet, dort wo auch die ISS liegt. Die Verzögerung bei der Kommunikation zwischen dem Johnson Space Center und dem Laboratorium im All ist gleich null. Sollte ein Astronaut so schwer verletzt werden, dass er besondere medizinische Betreuung bräuchte, könnte man ihn tatsächlich mit einer Sojus-Kapsel, die an der ISS angedockt ist, nach Hause senden. Doch die letztendliche Entscheidung, ob der Verletzte zurückgeschickt werden soll, wird ganz oben in der NASA getroffen – und dann gibt es noch nicht einmal eine Garantie dafür, dass der Rücktransport auch wirklich funktioniert.

Blut kann im Weltraum sogar noch mehr spritzen als auf der Erde, wenn es noch von der Schwerkraft gehalten wird. 

„Angenommen jemand bricht sich ein Bein, wie bekommt man ihn dann überhaupt in den Raumanzug?“, fragt Swanson. Der Raum in der Sojus-Kapsel sei extrem begrenzt. „Man muss sich da regelrecht reinquetschen.“ Sollte der Patient intubiert und an ein Beatmungsgerät mit Sauerstofflaschen angeschlossen sein, dann würde er gar nicht erst in die Sojus-Kapsel passen, geschweige denn in einen Druckanzug. 

Also investiert die NASA in zahlreiche Forschungen, um diese und ähnliche Probleme lösen zu können. Wissenschaftler haben während Parabelflügen mit sogenannten „Kotzbombern“ (durch eine bestimmte Flugtechnik wird bei diesen Flügen für mehrere kurze Perioden Schwerelosigkeit simuliert) inturbiert, Wunden geöffnet und geschlossen, Adern geflickt und noch etliche andere medizinische Eingriffe an Tieren absolviert. Ein Team hat sogar einen gutartigen Tumor am Arm eines Menschen entfernt.    

Sogar schon das Einnehmen von Medikamenten im Weltraum stellt die Wissenschaft vor ganz neue Probleme. „Sobald man eine Pille aus der Sichtverpackung drückt und sie mit Luft in Berührung kommt, oxidiert sie, soll heißen, sie wird unbrauchbar“, erklärt Menon. Infusionen durch einen Tropf funktionieren nur mit Schwerkraft, im All braucht man eine besondere Pumpe dafür. Auch Luftbläschen, die auf der Erde in einem Tropf einfach nach oben steigen, bleiben in der Schwerelosigkeit in der Flüssigkeit. Diese können schwere Embolien auslösen.

Peggy Whitson forscht aktuell auf der ISS zu diesem Thema. „Dort oben bräuchte man viel mehr Flüssigkeit für derartige Verfahren, das bedeutet mehr Masse und Volumen – und diesen Platz haben wir dort einfach nicht“, sagt Menon. „Und die Luftbläschen, sie schweben wohl überall. Mit ihnen hatte sie große Schwierigkeiten. “  

Ein ziemlich beeindruckender Lösungsvorschlag zur spritzenden Blut-Misere in der Schwerelosigkeit sieht eine Art Blase vor, gefüllt mit Flüssigkeit wie etwa Salzlösung, die die Wunde umschließt.

Zu den größten Herausforderungen zählen auch die blutigsten: Blut kann im Weltraum sogar noch mehr spritzen, als auf der Erde, wenn es noch von der Schwerkraft gehalten wird. Oder es bündelt sich und baut sich um eine offene Wunde zu einer Art Dom auf, so dass man die Verletzung nur noch schwer sehen kann. (Wenn man mehr als 100 Milliliter Blut pro Minute verlieren sollte, dann kommt wahrscheinlich jede Rettung zu spät. Das Fachmagazin Journal of Trauma Management & Outcomes veröffentlichte im Jahr 2009 eine Studie mit dem Titel Schwere Verletzungen während eines Langzeitflugs im Weltall, die vorschlägt, einen Onboard-Computer zu installieren, der den Blutverlust überwacht und letztlich dem medizinisch Zuständigen etwa zum Sparen teurer Medikamente raten könnte, wenn der Patient eh schon dem Tode geweiht scheint.) 

Ein ziemlich beeindruckender Lösungsvorschlag zur spritzenden Blut-Misere in der Schwerelosigkeit sieht eine Art Blase, gefüllt mit Flüssigkeit wie etwa Salzlösung vor, die die Wunde umschließt. Dann wird durch einen laparoskopischen Eingriff, wie bei einer Bauchspiegelung, mit winzigen Instrumenten und verlängerten Armen im Inneren der Blase operiert. Das Team um James Antaki, ein Biomedical Engineer an der Carnegie Mellon Universität, hat dieses Verfahren vor vier Jahren an einer simulierten Wunde in einem „Kotzbomber“ getestet. Er selbst habe gekniffen und sei beim Flug nicht dabei gewesen.

Seine erste Version der Blase ähnelte einer durchsichtigen Taucherglocke mit abgedichtetem und verstellbarem Kragen für die Instrumente. „Ich habe das Verfahren weiterentwickelt, die Glocke ist jetzt viel mehr eine Blase, elastisch und punktierbar“, sagt er. „Sie ist durchsichtig, damit man genau sehen kann, was blutet, die Adern und das Gefäßsystem, und man kann mit den Instrumenten einfach hindurchstechen und sie wieder herausziehen, die Wunde im Inneren der Blase nähen oder ausbrennen und Fremdkörper herausschneiden.“ Sie besteht aus einem dicken elastischen Kunststoff, verstärkt mit einer Art Fasernetz, der dicht bleibt, ähnlich einem selbst abdichtenden Reifen. Antaki hofft, die aktuelle Version mit einer SpaceX-Mission zu Forschungszwecken – an einem Simulator und nicht an Menschen – im Herbst auf die ISS senden zu können. 

Und der Anästhesist Komorowski, der Möchtegern-Astronaut? Es stellte sich heraus, dass die kardiovaskuläre Rekonditionierung – eine reduzierte Blutmenge und die damit verbundene allgemeine Verlangsamung der Köperfunktionen wie etwa bei Menschen, die lange Zeit im All waren – sich katastrophal auf eine Anästhesie auswirken kann. „Die Medikamente, die wir benutzen, um Menschen unter Narkose zu setzen, sind tatsächlich ziemlich gefährlich. Sie verlangsamen den Blutdruck und erweitern Blutgefäße“, sagt er. Schon auf der Erde bedürfe es eines ausgebildeten Experten, der die perfekte Dosis für die jeweilige Person individuell bestimmt. Abgesehen davon müsse man sich aber auch überlegen, wie man komplexe, meist leicht entzündbare Gase an Bord ein Raumschiffes bekommt. 

Komorowski empfiehlt Ketamin. „Es wird überall auf der Welt in lebensfeindlichen Umgebungen eingesetzt“, sagt er. „Es beeinträchtigt das hämodynamische System nicht, also den Blutfluss, und das Herz-Kreislauf-System wird geschützt. Daher kann es auch bei Menschen unter Schock, mit extrem hohem Blutverlust oder Dehydrierung angewandt werden.“ Also ist es sicher? „Selbst wenn man etwas falsch berechnet und die fünffache Dosis verabreichen sollte, wird wahrscheinlich nicht viel passieren.“ (Außer, dass vielleicht eine fröhliche Party losbricht...) 

Die NASA hat Dutzende von Stipendien an Forscher herausgegeben, um die Physiologie der Raumfahrt besser verstehen und mögliche medizinische Maßnahmen entwickeln zu können. Menon sagt, dass man die Verzögerung in der Kommunikationstechnik bei interplanetarer Telemedizin umgehen könne, indem man etwa multimediale Tutorials auf Langzeitmissionen mitschickt, oder dass man eine Art Verfahren entwickelt, das nach bestimmten medizinischen Schritten erst einmal einen automatischen Stopp verordnet. So könne der operierende Astronaut den Patienten nach einem bestimmten Abschnitt des Eingriffs erst einmal stabilisieren, während er auf die Ergebnisse der Evaluation sowie weitere Instruktionen von der Basisstation wartet.  

Wenn Menschen also die Erdumlaufbahn verlassen sollten, dann muss sich wohl auch die Forschung dem „Last Frontier“, der letzten Grenze annähern. „Ich denke, dass es ethisch vertretbar wäre, einen Menschen im Weltraum zu sedieren. Das Risiko ist im Vergleich dazu, was wir lernen könnten, sehr gering“, sagt Komorowski. „In diesem Anfangsstadium müsste das natürlich ein Anästhesist tun, also melde ich mich freiwillig.“  

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Dieser Artikel erschien zuerst bei WIRED.com
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