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Wie künstliche Plazentas Frühgeborenen helfen könnten

von Anna Schughart
Kommt ein Baby viel zu früh zur Welt, sind seine Organe noch nicht ausgereift. Wissenschaftler arbeiten daran, dass diese Kinder sich außerhalb des Mutterleibs weiterentwickeln können: in Beuteln und mit der Hilfe von künstlichen Plazentas.

Die Matrix-Filme zeichnen das Bild einer Zukunft, in der Menschen in großen Beuteln mit Flüssigkeit schwimmen, angeschlossen an Versorgungskabel und von Maschinen bewacht. Auch Aldous Huxley beschreibt in Schöne neue Welt die Ektogenese – die Entwicklung des Menschen außerhalb des Mutterleibs. Ist das alles reine Science-Fiction?

Anfang April berichteten Wissenschaftler aus Philadelphia, dass es ihnen gelungen sei, Lämmer über mehrere Wochen in einem sogenannten Biobag aufzuziehen. Die Tiere schwammen in einem Plastikbeutel, wurden im Laufe der Zeit größer und bekamen sogar ein Fell. Doch während in Matrix mörderische Maschinen die Menschheit versklavt haben, verfolgen die Forscher ein ganz anderes Ziel: Sie wollen Kindern helfen, die zu früh geboren werden.

„Diese Technologie richtet sich an extrem Frühgeborene, die zwischen der 23. und 27. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen“, sagt George Mychaliska, der an der University of Michigan an der Entwicklung einer künstlichen Plazenta arbeitet. In diesem Zeitraum, sagt Mychaliska, seien die Organe noch nicht voll ausgereift: „Je früher Kinder zur Welt kommen, desto geringer ist die Chance, dass sie überleben. Und wenn sie überleben, haben sie oft langfristige Gesundheitsprobleme“, so Mychaliska. „Die Techniken, die wir momentan haben, können Kinder retten, aber sie verursachen auch Schaden.“

Was wäre, wenn die Schwangerschaft nach der Geburt einfach außerhalb des Mutterleibs weitergehen würde?

Die größten Sorgen bereitet die Lunge: Sie ist bei einem 24 Wochen alten Baby noch nicht bereit, Sauerstoff aufzunehmen. Sehr früh geborene Kinder werden deshalb mit Beatmungsgeräten versorgt, doch das kann Schäden anrichten. „Die Kinder entwickeln zum Beispiel oft durch den Druck der Beatmung und die Tatsache, dass der Sauerstoff für sie toxisch wirkt, eine Entzündung“, erklärt Mark Schoberer, Neonatologe am Universitätsklinikum Aachen. Wenn man eine Beatmung vermeiden könne, die Lunge sechs oder acht Wochen gar nicht genutzt würde und trotzdem sichergestellt wäre, dass das Kind mit Sauerstoff versorgt und das CO2 entsorgt wird, dann wäre das „ein toller Fortschritt“, sagt Christoph Fusch vom Klinikum Nürnberg und der McMaster University (Hamilton, Kanada).

Anders ausgedrückt: Was wäre, wenn die Schwangerschaft nach der Geburt einfach außerhalb des Mutterleibs weitergehen würde? Genau das ist die Idee hinter einer einer künstlichen Plazenta. „Die Umgebung des Mutterleibs wird nachgestellt“, sagt Mychaliska. Die Plazenta ist ein komplexes Organ, alle ihre Aufgaben kann die künstliche Version nicht übernehmen – aber ein paar wichtige, wie die Versorgung mit Nährstoffen und den Gasaustausch, schon. Experten sind sich einig, dass die Technologie, die derzeit beispielsweise an Lämmern und Ferkeln getestet wird, grundsätzlich auch auf den Menschen übertragbar ist.

Die Idee hinter der künstlichen Plazenta ist schon einige Jahre alt, „aber wir haben in den vergangenen zehn Jahren enorme Fortschritte gemacht“, sagt Mychaliska. „Wir haben an Lamm-Modellen gezeigt, dass diese Technik über mehrere Wochen funktioniert.“ Er glaubt: In drei bis fünf Jahren könnte die künstliche Plazenta schon an menschlichen Babys getestet werden.

In drei bis fünf Jahren könnte die künstliche Plazenta an menschlichen Babys getestet werden

Eine der größten Herausforderungen ist derzeit noch die Gefahr von Hirnblutungen. Das Kind muss in der künstlichen Plazenta (wie auch im Mutterleib) nicht essen und nicht atmen, sondern bekommt die nötigen Stoffe von außen zugeführt. „Damit muss aber ein Teil des Blutes den Körperkreislauf verlassen“, erklärt Fusch. Dabei fängt das Blut an, sich zu verändern, gerinnt zum Beispiel. Um das zu verhindern, muss man es verdünnen, was wiederum das Risiko von Gehirnblutungen erhöht. Es ist also wichtig, die richtige Balance zu finden. Oder man entwickelt neue Technologien, wie zum Beispiel besondere Schlauchoberflächen, die die Blutgerinnung verhindern.

Auf die Frage, wie sich die Zeit im Biobag auf die weitere Entwicklung des Kindes auswirken wird, gibt es dagegen noch keine Antworten. „Ich weiß nicht, was es bedeutet, wenn ein Kind völlig körperlich getrennt von der Mutter heranreift“, sagt Schoberer. „Das kann Auswirkungen auf die neurologische Entwicklung oder auch die Bindung zu den Eltern haben.“ Denn schon im Mutterleib erhält das Kind viele Reize, es hört zum Beispiel die Stimmen der Eltern oder erlebt die Bewegungen der Mutter mit.

Von Frühgeborenen weiß man, dass es einen positiven Effekt hat, wenn die Eltern mit dem Kind reden, die Mutter oder Vater mit ihm kuscheln können. Wie ist das, wenn das Kind in einem Biobag aufwächst? Genau wissen kann man es nicht: „Bis jetzt ist noch kein Kind mit einer künstliche Plazenta groß geworden“, sagt Fusch.

Mark Schoberer glaubt, dass das größte Hindernis für eine künstliche Schwangerschaft allerdings nicht die Technologie ist, sondern unsere Kultur. „Es ist für uns eine ganz ungewöhnliche Vorstellung, dass ein Organismus in einer Kunststoffblase heranreifen soll.“ Für die Eltern sei es ein großer Unterschied, ob sie ihr Kind nur durch eine Blase sehen oder ob sie mit ihm Kontakt treten  und es sich beispielsweise auf den eigenen Bauch legen können. „Ich weiß nicht, ob wir als Ärzte auf Eltern zugehen und sie fragen würden, ob sie eine künstliche Schwangerschaft mittragen würden.“

Unter anderem aus diesem Grund arbeitet George Mychaliska auch an Methoden, mit denen sich die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Frühgeborenen in den ersten sechs Stunden besser abschätzen lässt. „Wenn man in den ersten sechs Stunden eine Sicherheit von 80 Prozent hätte, dass das Baby nicht überleben wird, wäre das eine sehr nützliche Information für eine klinische Studie“, sagt Mychaliska. Denn dann wäre es, seiner Meinung nach, ethisch vertretbar, einer Familie die noch nicht getestete Therapie für ihr Kind anzubieten.

Könnte die künstliche Plazenta auch Kindern helfen, die vor der 23. Woche zur Welt kommen – also zum Beispiel in der 17. oder 18. Schwangerschaftswoche – und die heute eigentlich keine Chancen haben, zu überleben? Grundsätzlich möglich sei das, sagt Schoberer. „Man könnte damit auch für Kinder eine Lebensperspektive schaffen, die heutzutage nicht intensivmedizinisch behandelt werden können.“ Und andererseits könnte man auch ältere Kinder, die krank sind, deren Lunge zum Beispiel nicht voll entwickelt ist, so helfen. „Man muss nicht bei 28 Wochen aufhören,“ so Fusch.

Würde die komplett künstliche Schwangerschaft die Gleichberechtigung vorantreiben oder Frauen obsolet machen?

Mychaliska hält dagegen an der Grenze von 23 Wochen – vielleicht 22 Wochen – fest, davor seien die Kinder einfach zu unterentwickelt. Es gehe bei seiner Forschung auch nicht darum, die Grenze für die Lebensfähigkeit herabzusetzen, sagt Mychaliska. Und: „Unsere Gruppe hat nie vorgehabt, die Fortpflanzung nachzuahmen“, sagt Mychaliska „Das ist keine Science-Fiction wie in Matrix oder Schöne neue Welt.“

Außerhalb der Medizin wird unterdessen schon darüber diskutiert, welche gesellschaftlichen Auswirkungen eine komplett künstliche Schwangerschaft haben könnte. Was würde das für gleichgeschlechtliche Paare oder Leihmutterschaft bedeuten? Würde sie schlussendlich die Gleichberechtigung vorantreiben oder Frauen obsolet machen?

Währenddessen kann bisher niemand mit absoluter Sicherheit sagen, ob die künstliche Plazenta sich schlussendlich durchsetzen kann. „Es könnte sein, dass die künstliche Plazenta ähnlich bahnbrechend ist, wie die In-vitro-Fertilisation und – wenn einmal das Tabu gefallen ist – eine sehr weite Verbreitung findet und die Frühgeborenenmedizin revolutioniert“, sagt Schoberer. „Aber der Schritt über diese Schwelle ist groß.“

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