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Das Projekt Nextstrain jagt gefährliche Viren „in Echtzeit“

von Anna Schughart
Ebola, Zika und Influenza: Nextstrain trägt die Forschungsarbeit von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt zusammen. So kann man ganz genau verfolgen, wie sich ein Virus entwickelt und verbreitet. WIRED hat mit einem der Entwickler gesprochen.

2016 wird Zika zu einem großen Problem. Eigentlich kennen Forscher das Virus seit Jahren, schon früher haben sich Menschen damit angesteckt. Doch Ende 2015 häufen sich die Erkrankungen in Lateinamerika. Gleichzeitig entsteht ein schlimmer Verdacht: Das Virus, bisher als relativ harmlos eingestuft, kann ungeborenen Kinder erheblichen Schaden zufügen. Die WHO ruft 2016 für mehrere Monate den Gesundheitsnotstand aus und Wissenschaftler beginnen die Suche nach einem Impfstoff. Bis er gefunden ist, kann einige Zeit vergehen.

Bis dahin muss man so viel wie möglich über das Virus herausfinden und seine Ausbreitung verhindern. Das gilt für jede Epidemie, ob Zika-, Ebola- oder das nächste noch unbekannte Virus. Um angemessen reagieren zu können, ist es besonders wichtig zu verstehen, wie sich das Virus ausbreitet. Angenommen, in einem Land gibt es hundert Zika-Fälle. Wenn die hundert betroffenen Menschen sich alle untereinander angesteckt haben, müssen die Behörden versuchen, weitere Übertragungen zu unterbinden. Wenn das Virus aber immer wieder neu ins Land eingeschleppt wird, müssen sie das verhindern.

Richard Neher fährt deshalb mit der Maus über eine verzweigte Grafik und klickt auf einen Knotenpunkt: „Die Viren, die jenseits von diesem Ast vorkommen, haben die Mutation von A nach G an der Position 3517“, sagt er.  Auf dem Bildschirm ist eine bunte Grafik zu sehen, auf der sich eine dicke Linie in immer weitere, farbige kleine Linien verzweigt. Es sieht aus wie ein bunter Stammbaum und im Prinzip ist es das auch.

Mit Nextstrain sieht man, wie sich ein Virus verändert und ausbreitet

Richard Neher, Universität Basel

Daneben steht eine Weltkarte, auf der bunte Pfeile die Staaten Mittelamerikas miteinander verbinden, einige Striche gehen in die Vereinigten Staaten, andere nach Europa. „Mit Nextstrain sieht man, wie sich ein Virus verändert und ausbreitet,“ sagt Neher, der an der Universität Basel arbeitet. „Zika-Viren in den USA kamen zum Beispiel vor allem aus der Dominikanischen Republik, wahrscheinlich wurden sie von Touristen auf Kreuzfahrtschiffen nach Florida eingeschleppt.“

Nextstrain ist eine Plattform, die Neher zusammen mit Trevor Bedford vom Fred Hutch-Forschungszentrum, entwickelt hat. Sie soll dabei helfen, Epidemien zu bekämpfen, in dem sie in  Echtzeit Informationen über deren Verlauf bereitstellt. Wobei „in Echtzeit“ nicht bedeutet, dass man dem Virus quasi live bei seiner Verbreitung zusieht. Nextstrain bündelt die Forschungsarbeit, die Wissenschaftler rund um den Globus leisten und aktualisiert die Plattform, sobald es neue Daten gibt. Bei Grippe kann Nextstrain zum Beispiel auf internationale Datenbanken zurückgreifen, bei Zika dagegen kommen die Daten direkt von den Forschungsgruppen.

„Es gibt sonst keine Plattform, auf der die Daten von verschiedenen Gruppen immer aktuell analysiert werden“, sagt Neher. Wenn aber niemand von der Arbeit des anderen weiß, kann das zum Problem werden: „Eine Gruppe sequenziert vielleicht ein Virus-Genom in Florida, eine andere in der Dominikanischen Republik – nur wenn man sich die Daten zusammenlegt, sieht man, wie das Virus sich verändert und verbreitet.“ Natürlich veröffentlichen auch Gesundheitsbehörden oder die WHO Daten zu großen Epidemien wie Zika oder der jährlichen Influenza, doch „bei neuen oder lange nicht mehr gesehen Viren ist oft die Expertise diverser Forschungsgruppen nötig“, sagt Neher. Dann ist es nämlich wichtig, das Genom des Virus zu sequenzieren.

Sequenzierungen zeigen, wie sich das Virus entwickelt. Dabei bestimmt man die Abfolge der Basenpaare im Virus-Genom. Daraus lassen sich der Stammbaum und die Historie des Ausbruchs rekonstruieren. Denn Viren mutieren immer wieder, das heißt die Abfolge der Basenpaare ändert sich regelmäßig. Wenn man verschiedene Virus-Genome miteinander vergleicht, kann man also herausfinden, welche Virustypen, wann entstanden sind. Wenn die Forscher in Florida zum Beispiel Viren mit den gleichen Mutationen wie karibische Viren finden, ist es naheliegend, dass die Viren von dort stammen.

Bei Ebola, so erzählt Neher, warteten die Forschungsgruppen teilweise, bis sie ihre Daten in einem prestigeträchtigen Journal publiziert hatten, bevor sie darüber sprachen. „Wenn die Daten drei, vier Monate später veröffentlicht werden, sind sie in einem Fall wie Ebola aber lange nicht mehr so nützlich“, sagt Neher.

Nextstrain profitiert daher von der allgemeinen Bewegung hin zu „open science“, einer offeneren Wissenschaft. „Viele Gruppen stellen uns ihre Daten schon vor der Veröffentlichung zur Verfügung“, sagt Neher. So entwickelt sich die Plattform zu einer wichtigen Quelle. Das wiederum motiviert andere Forschungsgruppen dazu, ihre Ergebnisse bereitzustellen. Dementsprechend passt es gut, dass Nextstrain Ende Februar den ersten Platz des Open Science Prizes gewonnen hat. Der Preis, dotiert mit 230.000 Dollar, ermöglicht es dem Team, die Plattform – deren Code auch „open source“ ist – weiter auszubauen.

Wenn also die nächste Epidemie ausbricht, kann Nextstrain dazu beitragen, dass sie besser gemanagt wird? „Das hoffen wir stark“, sagt Neher. „Wenn ein neues Virus auftaucht, können wir innerhalb von zwei Tagen darauf reagieren.“ Wenn das Virus dann erfolgreich bekämpft wurde oder wieder abklingt, archivierten die Forscher die Daten. Aktuell kann man auf Nextstrain Zika, Ebola und Influenza verfolgen. Das Norovirus soll auch bald dazu kommen und vielleicht auch irgendwann Bakterien wie zum Beispiel der Erreger von Tuberkulose.

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