„Sehen Sie, jetzt erwacht der schwarze Teil zum Leben! Und jetzt der graue!“ Glaucio Paulino zieht mit der Computermaus wilde Kreise auf dem Bildschirm. Es läuft ein Video, das Paulino definitiv schon häufiger gesehen hat. Trotzdem ist er immer wieder neu begeistert. Zu sehen ist ein Knäuel aus kleinen Plastikstäbchen und Kabeln, das in einem Becken mit Wasser liegt. Ein einziges Kuddelmuddel. Doch dann füllt sich das Becken mit immer wärmeren Wasser und Schritt für Schritt entwirrt sich das Durcheinander: Die Plastikstäbchen entfalten sich, die Kabel spannen sich. Plötzlich ist aus dem Kuddelmuddel eine Struktur geworden.
Das ist eine Tensegrity-Figur, um genau zu sein. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Stäbe nicht direkt, sondern durch Kabel miteinander verbunden sind. Was vielleicht wie eine wacklige Angelegenheit klingt, ist in Wirklichkeit sehr stabil – und leicht. „Sie sind wirklich außergewöhnlich“, sagt Paulino, der am Georgia Institute of Technology forscht. In der Architektur gibt es einige Beispiele für Tensegrity-Bauwerke, zum Beispiel die Olympic Gymnastics Arena in Seoul. Paulino aber glaubt, dass es viele weitere Anwendungsmöglichkeiten für Tensegrity-Strukturen gibt. Nicht zuletzt bei der Erforschung des Weltraums. Aus diesem Grund arbeiten er und seine Kollegen daran, 4D-Tensegrity-Figuren herzustellen.
Die vierte Dimension ist in dem Fall die Zeit. Mit einem 3D-Drucker gedruckt, können die Streben unter bestimmten Bedingungen ihre Form ändern (sich also im Laufe der Zeit verändern). Das hätte den Vorteil, dass man sie als kompaktes Wirrwarr in den Weltraum schicken könnte. Erst im All angekommen, würden sich die Tensegrity-Figuren entfalten, um dann zum Beispiel als Weltraum-Antenne zu dienen.
Doch wie wissen die Streben, wann sie was zu tun haben? Paulino und seine Kollegen haben ihnen dazu eine Erinnerung gegeben, die „durch die Temperatur aktiviert wird“, sagt Paulino. Die geraden Stäbchen, die innen hohl sind, werden bei einer bestimmten Temperatur weich und man kann sie verbiegen. Paulino und seine Kollegen entschieden sich für ein flaches „W”. „In diesem Zustand haben sie keine Struktur oder Funktion“, sagt Paulino. Kühlen die Stäbchen ab, behalten sie die „W“-Form bei. Doch sobald die Temperatur wieder auf einen bestimmten Punkt steigt, entfalten sie sich – „wenn alles gut geht“ – und werden wieder gerade. Die Kabel spannen sich, die Struktur ist einsatzbereit.
Paulino kann den verschiedenen Stäbchen sogar unterschiedliche Punkte einspeichern, an denen sie zum Leben erweckt werden. In dem Video, das er zur Veranschaulichung zeigt, öffnen sich erst die schwarzen, dann die grauen, dann die weißen Teile „und dann haben wir einen Turm“. Nur so kann man überhaupt größere Strukturen bauen. „Denn sonst besteht die Gefahr, dass sich die Kabel verheddern.“
„Wichtig ist, dass die Temperatur gleichmäßig ist“, sagt Paulino. Wasser ist daher ein gutes Mittel, denn es garantiert ein gleichmäßiges Temperaturfeld. Wie genau man im Weltall gleichmäßige Bedingungen herstellen könnte, müssen Paulino und seine Kollegen aber noch austüfteln. „Es gibt viele Arten, wie man im Weltall Wärme generieren kann, der schwierige Teil ist, dass sie homogen ist.“ Sonst könnten die verschiedenen Teile unterschiedlich aktiviert werden „und dann hätte man Chaos“.
Theoretisch lassen sich die Tensegrity-Strukturen auch wieder zusammenfalten. Praktisch gehen sie zur Zeit nach mehrmaligem Benutzen kaputt. „Dreimal ist okay“, sagt Paulino, danach werden die Streben müde und vergessen ihre Erinnerung – auch hier braucht es noch Forschungsarbeit.
Die größte Herausforderung für die Forscher besteht aber derzeit darin, die Maßstäbe der 4D-Strukturen zu verändern, sie kleiner und größer zu machen. Um im Weltall als Antenne zu dienen oder der Space Nation im Aufbau zu helfen, müssen die Strukturen deutlich größer werden. Um dagegen vielleicht eines Tages im medizinischen Bereich eingesetzt werden zu können, müssen sie miniaturisiert werden. Bei beidem gebe es noch viele Herausforderungen, sagt Paulino.