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Smartphones sind für Flüchtlinge überlebenswichtig!

von Chris Köver
„So schlecht kann es denen ja nicht gehen.“ Dieses Ressentiment hört man dieser Tage öfter, wenn deutsche BürgerInnen neuangekommene Flüchtlinge mit vermeintlich teuren Smartphones in der Hand sehen. Vassilis Tsianos, Migrationsforscher an der Universität Hamburg und Autor des neuen Buches „Mobile Commons“, erklärt, warum die Geräte auf der Flucht alles andere als ein Statussymbol sind und warum gerade MigrantInnen Vorreiter für neue Technologien werden.

WIRED: Herr Tsianos, ist das Smartphone für Flüchtlinge ein Luxusartikel? Viele Deutsche scheinen gerade davon auszugehen und beschweren sich lauthals.
Tsianos: Ich finde diese billige Form von Phänomenologie im Umgang mit Migranten diskriminierend. Man geht davon aus, dass Migranten und Flüchtlinge im Grunde digital unmündige Personen sind. Aus der Forschung wissen wir aber längst, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Migranten — wie alle anderen Menschen, die viel unterwegs sein müssen — sind digitale Vorreiter, Pioniere digitaler Kommunikation und Sozialer Medien. Diese Vorstellung vom „Digital Divide“ zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden, die stimmt so einfach nicht. Im Gegenteil: Neue Technologien werden oft erst im sogenannten globalen Süden erprobt, dort von den Usern angeeignet und dann im Norden eingeführt.

WIRED: Hätten Sie ein Beispiel für so eine Technologie?
Tsianos: Die ersten, die GPS-Navigation bewusst angewendet haben, waren nicht Westeuropäer, sondern transnationale Migranten, die einen sehr praktischen Umgang damit hatten.

WIRED: Weil sie zu Fuß und illegal Grenzen überwinden wollten und dafür Navigationsgeräte brauchten?
Tsianos: Unter anderem. Man muss einfach mal in einem Apple Store gehen und gucken, wer dort die neuen Geräte ausprobiert. Neben den technikaffinen jungen Menschen sind dort auffällig viele Migranten und Migrantinnen.

Das total entnetzte migrantische Subjekt, das sich halbnackt auf den Weg nach Europa macht, existiert nicht.

WIRED: Das Ressentiment bezieht sich aber nicht darauf, dass Flüchtlinge nicht mit Technik umgehen könnten, sondern dass sie diese Geräte überhaupt besitzen. In Deutschland gelten Smartphones als Statussymbole.
Tsianos: Genau, die Leute denken gerne: Eigentlich dürften die sich sowas doch nicht leisten können, offenbar geht es ihnen also gut, sie nutzen uns aus. In der Regel migrieren tatsächlich nicht die Ärmsten der Armen, sondern die Angehörigen der Mittelschicht, und genau wie alle globalen Mittelschichtler gehen sie mit diesen Medien entsprechend um — und können sich diese Geräte leisten. Man muss allerdings verstehen: Teure Geräte für die Flucht sind alles andere als ein Statussymbol. Das ist eine Art mobile Bank, eine Investition. Sie sind nicht nur essentiell für die Navigation oder Kommunikation unterwegs. Man kann sie auch in Geld verwandeln, verleihen oder als Hypothek für einen Teil der Reise hinterlegen.

WIRED: Kann man das so verallgemeinern? Für Syrien oder den Irak mag das stimmen, aber Flüchtlinge aus Eritrea haben in der Regel kein Smartphone in der Tasche, wenn sie sich nach Libyen und von dort weiter nach Europa durchschlagen.
Tsianos: Ich bin noch nie einem Migranten begegnet, der nicht zumindest ein einfaches Handy gehabt hätte, und ich bin auf der ganzen Welt unterwegs. Es mag für einige stimmen, denen die Geräte von der Grenzpolizei abgenommen wurden oder die so wenig Geld haben, dass sie sich Handys in der Gruppe anschaffen und gemeinsam nutzen — aber das total entnetzte migrantische Subjekt, das sich halbnackt auf den Weg nach Europa macht, existiert nicht.

WIRED: Die Sorge, wenn man so ein teures Gerät mit sich trägt, ist dass es geklaut wird oder verloren geht. Das müsste auf der Flucht noch ein viel größeres Problem sein als auf anderen Reisen.
Tsianos: In der Regel werden den Leuten die Geräte von der griechischen und bulgarischen Grenzschutzpolizei abgenommen. Das ist illegal, eigentlich müssen alle persönlichen Gegenstände zurückgegeben werden, sobald geklärt ist, dass die Menschen keine Straftäter sind — und illegale Migration ist ein Delikt, kein Verbrechen. In der Praxis werden die Geräte aber von der Polizei oft beschlagnahmt, das ist eine Art Kopfsteuer, die man zu zahlen bereit ist. De facto haben die Flüchtlinge ihr Etappenziel dann aber schon erreicht.

WIRED: Und für den nächsten Teil der Route besorgen sie sich dann ein neues Gerät?
Tsianos: Ja. Man reist ja nie allein und die Reise ist komplett geplant und organisiert, bevor du dich auf den Weg machst. An jedem erreichten Etappenziel gibt es in der Regel einen Verwandten, im besten Fall, oder einen Schlepper, der für den nächsten Teil der Route zuständig ist — und dazu gehört die Möglichkeit, deine nächsten Geräte zu kaufen. 

WIRED: Sobald man eine Landesgrenze überschreitet, kommt man in ein neues Handynetz, kann dann keine Daten mehr laden, also auch nicht mehr via Maps navigieren. Wie umgehen Flüchtlinge dieses Problem?
Tsianos: Die beste Geschichte, die ich kenne, kommt von drei Syrern. Die haben sich in der Türkei in einem Internetcafé die Route von Google Maps ausdrucken lassen und sind zu Fuß nach Griechenland rübergekommen. In Alexandropolis haben sie sich Fahrräder und entsprechende Outfits gekauft, und sind damit bis nach Österreich gefahren. Da sieht man: Wenn wir über Medien auf der Flucht sprechen, dann sind das nicht nur mobile Technologien, GPS-Geräte oder Social Media. Dazu gehört alles, von einfachen Ausdrucken, Briefen und SMS bis zu normalen Anrufen und sehr vielen Face-to-Face-Absprachen.

WIRED: Ein anderes Dauerproblem aller Smartphonenutzer: Strom. Wie lädt man auf der Flucht unauffällig sein Handy?
Tsianos: Ja, die Steckdose ist eine der wichtigsten Infrastrukturen unterwegs. Wenn du in den Camps schaust, siehst du überall Verteilerdosen voller Ladegeräte. Sonst geht man unauffällig in ein Internetcafé oder eine Bäckerei.

Die Geräte sind eine Art mobile Bank: Man kann sie in Geld verwandeln, verleihen oder als Hypothek hinterlegen.

WIRED: Spätestens, wenn die Menschen an ihrem Ziel angekommen sind, brauchen sie einen Handyvertrag, um telefonieren oder surfen zu können. In Deutschland braucht man dazu einen festen Wohnsitz und eine Aufenthaltsgenehmigung. Was machten die Migranten in der Zwischenzeit?
Tsianos: Sie haben Prepaid-Verträge. Es gibt Orte, an denen man sich sowas auch ohne Ausweis besorgen kann oder man kauft die SIM-Karte von jemand anderem. Das sind Ausleihsysteme, ich würde es nicht mal als Solidarität bezeichnen, das sind normale Tauschverhältnisse, die man unterwegs braucht, um weiterzukommen oder im neuen Land um anzukommen.

WIRED: Prepaid-Verträge sind relativ teuer. Woher haben Flüchtlinge am Anfang überhaupt Geld für sowas wie Prepaid-Karten?
Tsianos: Auf einer organisierten Überfahrt ist das alles geregelt. Normalerweise musst du nach erfolgreicher Ankunft deine Familie anrufen oder schickst eine SMS mit einem vorher vereinbarten Code. Dann und erst dann bezahlt deine Familie den lokalen Schlepper vor Ort — und einen Teil dieses Geldes bekommst du als Willkommenspaket. Das heißt auch: Wenn die Schlepper es nicht schaffen, dich heil ins Land zu kriegen, bekommen sie kein Geld.

WIRED: Auch für diese Transaktion an die Schlepper braucht man also in jedem Fall ein Mobiltelefon.
Tsianos: Ja, wobei die Definition des Schleppers, Fluchthelfers oder wie auch immer man sie nennt eine sehr komplizierte Angelegenheit ist. Natürlich gibt es auch böse Schlepper, die Flüchtlinge sklavenähnlich behandeln und ausbeuten. Es gibt keinen Grund, diese Praxis zu verharmlosen. Aber sehr oft sind die Schlepper selbst ehemalige Migrantinnen, Leute, die selbst Gebrauch von diesen Diensten gemacht haben. Viele, die die Boote von der Türkei nach Kos lenken, sind selbst Flüchtlinge, die nur die Hälfte des Preises bezahlt haben unter der Voraussetzung, dass sie das Boot lenken und eine GPS-Karte lesen können. Das wird in der Berichterstattung fast nie berücksichtigt — was viele Migranten, die diese Berichte lesen, sehr aufregt.

Viele, die die Boote nach Kos lenken, sind selbst Flüchtlinge, die nur die Hälfte bezahlt haben, weil sie eine GPS-Karte lesen können.

WIRED: Einige Initiativen haben damit angefangen, freies WLAN für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen, weil die Erstunterkünfte das nicht selbst tun. Sollte das nicht eigentlich Teil der Grundausstattung in den Erstunterkünften sein?
Tsianos: Klar. Digitale Konnektivität ist inzwischen ein Grundbedürfnis aller Bewohner Europas. Darüber brauchen wir gar nicht zu reden. Das nicht zu berücksichtigen, widerspricht allen Vorstellungen einer modernen vernetzten Gesellschaft. Gerade bei Menschen, die transnational unterwegs sind, ist Zugang zum Netz Teil ihrer Soziabilität: So wahren sie die Verbindung zu Familie und Freunden, so organisieren sie Ressourcen für das Überlegen in der Illegalität oder auch Legalität. So finden sie heraus, wo ihre Brüder oder Schwestern gelandet sind.

WIRED: Bisher klingt es so, als seien mobile Technologien und Social Media vor allem ein großes Plus für Menschen auf der Flucht. Gibt es auch Gegenbeispiele, wenn Frontex diese Mittel nutzt um Menschen abzufangen?
Tsianos: Ja, Frontex hat letztes Jahr eine sogenannte Studie gestartet, für die sie gefälschte Social-Media-Profile eingerichtet haben, um Leute in die Falle zu locken. „Hallo, ich bin Mahmoud, ich biete die risikofreiste Überfahrt von Syrien aus. Bei Interesse, melde dich bei folgender Nummer.“ Lustigerweise haben sie damit nicht mehr Leute festgenommen als mit den bisher üblichen analogen Mitteln.

Migranten haben das gleiche Recht auf Datenschutz wie andere Bürger auch.

WIRED: Werden Handys auch getrackt oder als Beweismittel abgenommen?
Tsianos: Das kommt vor. Allerdings haben Migranten die gleichen Bürgerrechte und das gleiche Recht auf Datenschutz wie andere Bürger auch. Es gibt das Prinzip der Zweckmäßigkeit beim Umgang mit digitalen Spuren. Tracking kann nur angewendet werden, wenn die Staatsanwaltschaft und der Datenschutzbeauftragte das erlaubt, etwa weil ein nachweisbarer Verdacht von Schleppertum besteht. Wir leben in keinem totalitären Staat, in dem ein paar durchgeknallte Frontex-IT-Spezialisten einfach so Migranten tracken, um ihre Routen nachzuzeichnen. Wir müssen lernen, dass wir es, wenn wir von illegaler Migration reden, nicht mit Illegalität im Sinne von Rechtlosigkeit zu tun haben, sondern mit Informalität.

Vassilis Tsianos forscht und lehrt an der Universität Hamburg zu Migrationssoziologie und Border Studies. Er war 1999 Gründungsmitglied der Gruppe Kanak Attak und ist Sprecher des Rats für Migration. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in der Erforschung mobiler Medien und ihrer Nutzung durch Flüchtlinge. Gemeinsam mit Nicos Trimikliniotis und Dimitris Parsanoglou hat er gerade das Buch „Mobile Commons, Migrant Digitalities and the Right to the City“ veröffentlicht. 

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