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In diesem Container sollen Ärzte Geflüchtete behandeln — mithilfe von Videodolmetschern

von Chris Köver
Tausende flüchtende Menschen müssen wegen ihrer schlechten Verfassung ärztlich versorgt werden. Aber was macht so ein Arzt eigentlich, wenn seine Patienten weder Englisch noch Deutsch sprechen und er kein Farsi, Pashto oder Arabisch? Bisher waren Mediziner, Pfleger und Hebammen auf Dolmetscher angewiesen — oder übten sich als Pantomime. Ein mit Hightech ausgestatteter Container in Hamburg soll nun eine bessere Lösung bieten.

Draußen an der Blechwand des Containers hängen Piktogramme, die den Ablauf erklären: In die Liste eintragen, eine Nacht schlafen, am nächsten Tag trifft man einen Menschen mit Stethoskop um den Hals. Auch Leute mit Zahnweh, Schwangere und Kinder können hier versorgt werden, erklären die Bilder. Hinter der Tür, im 2,5 Meter breiten Vorzimmer des Containers, soll das besser klappen mit der Verständigung. Neonlicht, Notfallrucksack und Sauerstofflaschen lagern hier, an der Wand hängt verloren ein Adventskalender. Ein Sanitäter nimmt die Patienten in Empfang — und neben ihm auf dem weißen Plastiktisch steht der Dolmetscher.

Er ist flach und breit und hoch: ein glänzender Screen. Über Breitband-Internet, das via LTE-Anbindung in den Container kommt, ist dieser Bildschirm mit einem Service für Videodolmetscher verbunden, „Video Remote Interpreting“ heißt das. Farsi, Pashto, Arabisch, insgesamt zwanzig Sprachen stehen zur Auswahl. Braucht er eine Übersetzung, drückt der Sanitäter oder der Arzt, der ebenfalls im Container sitzt, auf die entsprechende Auswahl. Ein paar Sekunden später taucht ein Gesicht auf dem Bildschirm auf, so hoch aufgelöst wie die anderen Personen im Raum. Der Patient kann erklären, was ihm fehlt. Der Dolmetscher kann rückübersetzen.

Wo das Gartencenter stand, wird Essen ausgegeben. Wo Schrauben in Regalen lagen, schlafen jetzt Menschen in Doppelstockbetten.

Der Container, in dessen Bauch sich diese High Tech-Praxis befindet, steht auf dem Parkplatz eines ehemaligen Baumarktes im Hamburger Westen. 1200 Menschen, sagt die Stadt Hamburg, wohnen hier, in einer so genannten Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung, betrieben vom Deutschen Roten Kreuz. Wo früher das Gartencenter stand, wird jetzt Essen ausgegeben. Wo Schrauben in Regalen lagerten, schlafen jetzt Menschen in Doppelstockbetten, nur ein Bauzaun trennt sie von ihren 1200 Mitbewohnern. Und draußen auf dem Parkplatz vor der gelben Baracke steht seit Anfang November der Schiffscontainer, der kein Container ist, sondern ein „Refugee First Response Center“.

Mirko Bass und Harald Neidhardt stehen davor, sie wohnen nur ein paar Minuten entfernt und sind ehrenamtliche Helfer, wie es sehr viele gibt in Hamburg und Deutschland. Bass und Neidhardt sortieren allerdings keine Kleiderspenden, sie begleiten keine Flüchtlinge zum Amt. „Jeder kann überlegen, was kann er tun,“ sagt Harald Neidhardt. Die beiden können dafür sorgen, dass dieser Container hier steht.

Neidhardt kommt aus dem Marketing, Bass ist Manager bei Cisco in Hamburg, einem internationalen IT-Unternehmen. Als er mitbekam, wie Geflüchtete in Hamburg untergebracht werden, fand er, seine Firma müsste etwas tun. Also bereitete er eine Präsentation vor: Vier Slides, die skizzieren, wie eine mobile Praxis für die erste ärztliche Grundversorgung aussehen könnte. Ausgestattet mit neuester Technik von Cisco für Videoübersetzung über das Internet. Damit ging er zu seinen Chefs. „Dann passierte, was in solchen Firmenstrukturen immer passiert,“ sagt Bass. Das „Immunsystem des Unternehmens“ setzte ein, wie er das nennt. „Was ist der Business Case? Was ist der Go-To-Market?“ Bass interessierte eher, wie er die Idee möglichst schnell umsetzen kann. Es postete die Präsentation im internen Chat des Unternehmens. Kurz darauf melde sich die jemand aus der Europazentrale von Cisco: Die Idee sei toll, die fünfstellige Summe für die technische Ausstattung sei kein Problem.

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Sechs Wochen später laden Neidhardt und Bass den fertig ausgebauten Container auf dem Parkplatz vor dem Baumarkt ab. Dass es so schnell ging, liegt daran, dass Neidhardt auf einem Gelände im Hamburger Hafen gerade ein temporäres Gebäude aus Containern aufgebaut hat. Für Start-Ups, Veranstaltungen, alles zum Thema smarte Vernetzung. Und es lag daran, dass Cisco bereits mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zusammenarbeitet: Junge Krebspatienten können mit der Technik der Firma während ihrer Behandlung weiter am Unterricht teilnehmen, über einen rollbaren Bildschirm sind die virtuell im Klassenzimmer anwesend.

Gemeinsam mit dem Universitätsklinikum, dem Gesundheitsamt der Stadt Hamburg und den weiteren Partnern arbeiteten Neidhardt und Bass aus, wie der Container für das Pilotprojekt ausgestattet werden muss. Das Deutsche Rote Kreuz musste nur noch Leitungen für Frischwasser, Abwasser und Strom bereitstellen, für den Breitband-Internetanschluss und alles Weitere sorgte das Team.

Seit Anfang November ist der Container im Betrieb. An fünf Tagen die Woche ist eine Ärztin oder ein Arzt aus dem UKE zur Sprechstunde hier, von 10 bis 13 Uhr und dann wieder von 14 bis 16 Uhr (mehrere der Hamburger Krankenhäuser versorgen die ihnen nächstgelegenen Einrichtungen). Patienten, die sich vorher in eine Liste eingetragen haben, warten in einer Halle um die Ecke, der Sanitäter bringt sie zum Container. Die Liste hat acht Zeilen pro Stunde, acht Patienten können sich eintragen. Da bleibt für den einzelnen nicht viel Zeit.

Die Vorteile des Systems betont Mirko Bass, wenn er über sein Projekt spricht: Weil die Dolmetscher während der Behandlung nicht mit im Raum anwesend sein müssen, wird die Privatsphäre der Patienten besser gewahrt. Weil sich die Patienten in ihrer Muttersprache verstanden fühlten, werden sie selbstbewusster und sprechen offener über ihre Probleme. Und weil man die Tele-Dolmetscher nur für die tatsächlich in Anspruch genommenen wenigen Minuten bezahlt statt tageweise verschiedene Sprachen im Bereitschaftsdienst zu haben, sei es auch für die Betreiber billiger, wenn die Technik einmal bezahlt und installiert ist (im Moment arbeiten die medizinisch geschulten Dolmetscher noch ehrenamtlich für das Pilotprojekt). Auch kann man mit Hilfe der Daten besser planen. Nach etwa 1000 Videoanrufen aus den ersten Wochen weiss man: fast 70 Prozent der Patienten sprechen Farsi, Landessprache in Iran. Nur etwa ein Viertel spricht Arabisch.

Ein Raum für medizinische Erstversorgung ist kein guter Ort zum Reden, wenn draußen noch sieben andere warten.

Das ist die eine Seite, die der technikbegeisterten Helfer, die sich freuen, dass High Tech den Alltag von Menschen etwas leichter macht. Auf der anderen Seite sitzen die Ärzte und Sanitäter im Container. Sie sagen, der Bildschirm sei schon hilfreich, manchmal aber auch ein Problem. Weil die Menschen ins Reden kommen, wenn sie sich nach Tagen oder Wochen ohne sprachliche Verbindung endlich verstanden fühlen. Und weil ein Raum für die medizinische Erstversorgung von Geflüchteten kein guter Ort sei, um ins Reden zu kommen, wenn draußen noch sieben andere warten.

Man könnte jetzt einwenden, das Problem sei nicht der Screen und nicht die Videodolmetscher. Dolmetschen müsste man schließlich sowieso, das würde auch mit einem Dolmetscher im Raum nicht schneller gehen. Das Problem ist die Zeit pro Patient, die viel zu knapp bemessen ist. Oder die Zahl der Patienten pro Arzt, die viel zu hoch ist. Das würde alles stimmen, nur lassen sich diese Probleme auch mit einem noch so schnellen Netzanschluss nicht lösen.

Für die Lösung dieses Problems braucht es nicht nur Technik, sondern auch Personal – und das Universitätskrankenhaus Eppendorf zieht schon jetzt ÄrztInnen am Krankenhaus ab, um die Geflüchteten hier zu versorgen.

Eigentlich bräuchte es auch weitere Container für die anderen Erstaufnahmeeinrichtungen in Hamburg. Nur: wer soll die bezahlen? Oder wie die Cisco-Manager fragten: Wo ist der Go-To-Market? Für Hamburg hat sich auch hier eine unbürokratische Lösung gefunden. Ein Spender will weitere Modelle für die Stadt finanzieren – noch vor Ablauf der Testphase.

„Die Krise ist auch eine Chance für den Bürokratieabbau,“ sagt Mirko Bass. Und da hat er Recht, manchmal funktioniert das. Spenden sammeln, Technik hinstellen, auf einmal geht vieles ganz schnell, wofür man vorher Genehmigungen hätte einholen, Budgets einplanen müssen. An anderen Stellen stapelt sich die Bürokratie noch bis zur Decke: Der WLAN-Knotenpunkt, der am Container ebenfalls in Betrieb ist, darf von den Bewohnern noch nicht genutzt werden, solange in Deutschland die Störerhaftung gilt.

Bass und seine Kollegen arbeiten aber schon an einer Lösung: Eine Möglichkeit könnte sein, alle hier Untergebrachten mit einem eigenen Account im WLAN einloggen zu lassen. Wo Bürokratie nicht abgebaut werden kann, muss man weiterhin mit Technik kreativ werden. 

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