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Inside Youtube

von Anja Rützel
Schmusemomente, Schminktips, Schauspielerei: Sie verändern unsere Vorstellung von Entertainment für immer. Die Zukunft der Stars von Youtube.

 

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Besser könnte man das Set eines romantischen Pornos kaum herrichten. Ein Zimmer, fast völlig von einem großen Bett eingenommen, ausgeleuchtet, eine Kamera auf einem Stativ. Dazu, und hier kommt die Romantik: Kissen, viele Kissen, ein Kuscheltier, eine Tischbank mit Frühstück (laktosefrei). Schwül ist es, schwitzig. „Im Sommer haben wir bei den Drehs geglitzert wie kleine Schweinchen“, sagt Philipp, der leicht Caspereske Schlaks, der noch ein paar Möhrchen zum Frühstückskram stellt.

Man sieht es nicht aber hier wird gleich eine Nachrichtensendung gedreht.

Was geht ab im Bett?! heißt das Format, neue Folgen gibt es jeden Sonntag auf Youtube zu sehen, mit wechselnden Moderatoren. Heute sind es Möhrchenarrangeur Philipp Steuer, der als Redakteur auch die Themen recherchiert und die Texte geschrieben hat, und seine Co-Moderatorin Lisa, die ihren vollen Namen aus Stalkingvermeidungsgründen lieber nicht nennen möchte. Sie ist zum ersten Mal bei den Bettnachrichten dabei. Und nervös. „Wer dich blöd findet, der hasst auch kleine Kätzchen“, sagt Philipp, und dann schlüpfen beide ins Deckenkissenlaktosefrei-Arrangement hinein, die Kamera läuft, und Lisa fragt Philipp: „Sag mal Philipp, magst du es eigentlich heiß?“ Eine fast schon Markus-Lanz-reife Überleitung zum ersten Nachrichtenthema, einem typischen Frühstückstischgeplänkel über Stürme auf der ebenfalls ganz schön heißen Sonne, die Stromausfälle auf der Erde verursachen könnten.

Das Bett und die Wohnung in der Kölner Innenstadt gehören Mediakraft, einem Multichannel-Netzwerk, das Youtuber unter Vertrag nimmt und ihnen beibringt, wie sie Geld mit ihren Videos verdienen können. Wenn im Bett gerade keine Nachrichten gedreht werden, nächtigen hier auswärtige Führungskräfte auf der Durchreise. Heute aber macht Lisa Mäusebisse in ihr Marmeladebrot und moderiert das nächste News-Thema an: „Lass mal über Sperma reden.“

Im Februar 2015 wird Youtube zehn Jahre alt. Und hat in dieser Zeit viele wechselnde Funktionen erfüllt. Youtube war und ist: Ein Kuriositätenkabinett mit viel Stauraum, in dem Holzmichel, Sonnenlicht-Sänger und Maschendrahtzäune ausgestellt wurden, vom Privatfernsehen ausgespuckte Schießbudenfiguren. Ersatz für das abgewrackte Musikfernsehen. Eine digitale Volkshochschule mit Anleitungsvideos. Ein Buddysimulator, wenn einem die leibhaftigen Freunde zum Spielezocken fehlen. Ein Endoskop zur Untersuchung der geheimen Psyche von Schminkmädchen. Und eine Plattform, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Oft wurde Youtube in den vergangenen Monaten vor allem auf den letzten Punkt reduziert — die Tat­sache, dass erfolgreiche Youtuber mit einer Abonnentenschaft um die Million herum von ihren Einnahmen aus dem Partnerprogramm und zusätzlichen Werbedeals höchst behaglich leben können. Dass der genaue Verdienst nicht öffentlich vermeldet wird, bläst die vermuteten Elefantesk-Einnahmen zusätzlich auf. Je nach Schätzendem verdienen die erfolgreichsten deutschen Youtuber zwischen 15.000 und 120.000 Euro im Monat — eine wenig aussagekräftige Spanne.

Mit der Verdienst-Spekulationslust richtete sich der Medienblick auch auf das Wachstum der professionellen Netzwerke, die vielversprechende Filmer unter Vertrag nehmen und ihre Portion Rahm von der Sahne schöpfen. Noch öfter stand hinter solchen Trendreports freilich eine verschwiegene Annahme: dass all die Tütenauspacker, Lidstrichvorzeichner und Muffinteigmanscher nur eine der vielen kurzen Launen des Internets sein würden. Dass sie mitsamt Anhängerschaft bald in den Google-Results abrutschen würden, runter zum Tourist of Death, dem Crazy Frog und dem längst Vergessenen, der vor circa 50 Jahren Gangnam Style sang.

Die Realität sieht grundlegend anders aus. Videoblogger wie Sami Slimani, Daaruum, LeFloid oder Y-Titty sind zwar weiterhin einem erstaunlich gro­ßen Teil des Internetpublikums völlig unbekannt, in ihrer gleichsam millionenstarken Zielgruppe gelten sie dagegen als verbindliche Größen, Machtfaktoren. Es knirscht und rumpelt im Segment der Ad-hoc-Moderatoren, aus der Szene wird derzeit eine richtige Branche, Spaßprojekte polieren sich zu professionellen Kleinst­unternehmen. Und nichts, wirklich nichts deutet darauf hin, dass hier irgendein Spuk bald vorbei sein könnte. Im Gegenteil.

Bei einer Liebesaffäre wäre genau jetzt der unbehagliche Zeitpunkt erreicht, in dem ein staksiges Gespräch nötig würde: um zu klären, wo man denn nun gerade stehe und, noch wichtiger, wohin der gemeinsame Weg weiter führen soll. Youtube ist längst zum eigenen Entertain­mentzweig gewachsen — eine Art digitaler Modellversuch darüber, wie eine Nischenkultur einerseits kommerzieller Main­stream werden und doch im Herzen Nische bleiben kann. Wie das Netz die Wahrnehmung von und den Umgang mit Stars verändert. Und wer hier eigentlich, mit Verlaub, die Kohle macht, von der immer die Rede ist.

Scheibchen für Scheibchen schadet Schaschlik dem Weibchen. Den Satz hat Christoph Krachten, President des Youtube-Netzwerks Mediakraft, bei seiner Sprecherausbildung für den WDR gelernt. Nun lässt er ihn gelegentlich als Artikulationsübung von seinen Schützlingen aufsagen. Krachten ist so etwas wie der Impresario des deutschen Youtube-Zirkus, er organisiert die Videodays, bei denen in diesem Jahr 15 000 Besucher ihre Youtube-Helden in der Kölner Lanxess-Arena bekreischten, und ist ein zuverlässiger Wachstums-Evangelist. „Mediakraft hat die Möglichkeit, größer als große Fernsehanstalten zu werden“, das ist so ein typischer Krachten-Satz.

Wer bei Mediakraft unter Vertrag ist — derzeit sind das über 2600 sogenannte Creators, 2100 davon im Talents-Pool, der Kanäle mit noch geringer Reichweite sammelt —, lernt, wie er seinen Kanal optimieren kann. Wie man ein Video am wirkungsvollsten aufbaut, dreht und schneidet — und wie man sein Pub­likum möglichst lange beim Zuschauen hält. Diese Audience Retention ist wichtig, weil sich das Ranking aller Youtube-Videos aus der Zahl der Videoaufrufe und besagter Verweildauer errechnet — damit reißerische und irreführende Sextape von XY-Titeln keine Chance haben, wenn sich dahinter ein weit uninteressanterer Inhalt verbirgt.

Über das gesammelte Youtuber-Handwerk hat Krachten sogar ein Lehrbuch geschrieben - und er verfügt über Screen-Credibility, weil er kein geldbündelstapelnder Strippenzieher im Hintergrund ist, sondern sich auch selbst vor die Kamera stellt. In den frühen Youtube-Jahren sprach er auf seinem Interview-Kanal Clixoom mit Bushido über World of Warcraft, heute moderiert er, postiert hinter Schreibtisch und vor Landkarte, den Geschichts-Kanal „Der erste Weltkrieg“ und das Wissenschaftsformat „Science und Fiction“ - mit Wissenschaftsthemen wie „Zombie-Invasion“, „Aliens: Vorbereitung auf den ersten Kontakt“ und „Machen Pornos dumm?“.

Zusätzlich zum technischen Know-how vermittelt Mediakrafts Tochtergesellschaft Produktkraft den Vertrags­-Youtubern auch Werbedeals — das macht Krachten und Mediakraft zur bevorzugten Zielscheibe für Wut-User, die in Hass- und Brassvideos auf Youtube über die Kommerzialisierung wettern, weil Mediakraft für seine Arbeit natürlich einen Anteil der Werbeeinnahmen der Partnerkanäle bekommt. Und weil viele den Netzwerken unterstellen, ihren Creators in die Inhalte reinzureden. „Quatsch“, sagt Krachten: „Jeder unserer Partner ist da völlig frei, außer, er verstößt gegen Gesetze. Wir geben höchstens Tipps und sagen, hmm, vielleicht solltest du in deinen Videos nicht ausschließlich über Schaltkreise in alten PCs reden.“ Ansonsten sei jeder in seinem Netzwerk willkommen, „der Reichweite erzeugt“. Weil Mediakraft als Wirtschaftsunternehmen, „genauso wie Apple oder Google“, nun einmal auf Wachstum und Erfolg ausgerichtet sei.

So groß sind einige der Mediakraftler bereits gewachsen, dass bewusst kein Firmenschild am Kölner Gebäude angebracht wurde. Aus reiner, vorauseilender Vorsicht. Vor allem in den Schulferien lungerten Fans in wechselnden, gut organisierten Schichten vor dem Eingang und warteten auf Stars, sagt Krachten: „Wir hatten hier auch schon Fälle, wo die Mütter ihre Töchter zum Stalken vor unsere Tür gefahren haben.“

Y-Titty, die Spaßvideofranken und mit drei Millionen Abos größten Zugpferde bei Mediakraft, verlassen das Haus ohnehin nur noch durch den Hinterausgang. Starke Kanäle wie ihrer sind ein wichtiger Teil des selbsterhaltenden Netzwerk-Systems: Mit gezielten Crosspromotions und Collaborations verschaffen sie kleineren Kanälen neue Fans: durch gemeinsame Videos oder einfach nur ein gut platziertes Like.

Im Frühjahr wurde Y-Titty und anderen Mediakraft-Youtubern von den Landesmedienanstalten vorgeworfen, in ihren Videos nicht gekennzeichnete und darum verbotene Product Placements untergebracht zu haben. Ein Missverständnis, winkt Krachten ab, dennoch würden alle bezahlten Werbemaßnahmen bei ihm nun noch deutlicher ausgewiesen. Alles paletti also: „Die Aufregung um die Kennzeichnung von Product Placements hat uns am Ende genutzt“, sagt Krachten. „Wir werden jetzt als meinungsbildender Medienkonzern wahrgenommen, der sich seiner Verantwortung bewusst ist.“

Wer nun Kommerz-Zeter und Sell-out-Mordio schreit, hat natürlich aus Hippieperspektive recht — andererseits bildet Youtube damit einfach das glo- bale Wirtschaftssystem im Kleinen ab: Es gibt Groß­konzerne, kleine, unabhängige Indies und irgendwo dazwischen traditionelle Familienunternehmen — wie die singenden Gebrüder Lochmann, bekannt als DieLochis, die von ihren Eltern gemanagt werden, oder die Slimani-Familie, bei der nicht nur die Geschwister Sami, Lamiya und Dounia Slimani Videos drehen und sich gegenseitig featuren — auch ihre Mutter hat inzwischen 45.000 Follower bei Twitter.

Ob diese Strukturen stabil genug sind, um das neue Fernsehen zu bauen, zumindest für das große, junge Publikum? Kann Youtube Bedürfnisse erfüllen, die die TV-Anstalten noch nicht erkannt haben? Und mal ganz grundsätzlich: Sind Youtube und TV wesensverwandt — oder komplett verschieden?

Die Antworten darauf sind allesamt höchst paradox. Einerseits hat Youtube dem Fernsehen voraus, dass seine Inhalte rund um die Uhr verfügbar sind — andererseits laufen die Online-Videokanäle am besten, die sich an regelmäßige, angekündigte Hochladetermine halten und stets an bestimmten Wochentagen neue Videos anbieten. Youtube hat keinen Programmdirektor, keinen Doorkeeper. Die Demokratisierung der Unterhaltung, jubelt Mediakraft-Chef Krachten, weil alleine der Zuschauer entscheide, welche Formate erfolgreich sind, und über Kommentare Einfluss nehmen könne. Andererseits kann gerade dieses direkte Feedback zu einem Patt zwischen Nutzen und Schaden führen. Youtuberin Kelly, die als MissesVlog für ihre 540.000 Abonnenten in einem eigenen Videoformat regelmäßig die lustigsten oder wüstesten Userkommentare, nun ja: kommentiert, lud im September ein bemerkenswertes Video hoch, in dem sie davon erzählt, wie sehr ihr genau diese Kommentare manchmal zusetzten. Und einerseits scheinen die möglichen Blickwinkel, Schnitttechniken, Inhalte für Youtube-Videos schier unendlich - konterkariert wird diese gedachte Vielfalt von der realen Redundanz. Etwa auf den Mädchen-Schminkkanälen, die saisonal von sehr ähnlich aufgebauten und ausgerichteten Videos geflutet werden, die zum Beispiel die „Morgenroutine“ der Youtuberin zeigen: Aufstehen, Zähneputzen, Duschen, Chiapudding essen, mit gestreiftem Trinkhalm Smoothie aus Einmachglas nuckeln. Minimalinhalte, dutzendfach abgefilmt.

Am Ende, glaubt Christoph Krachten, hätten Youtube und TV einen klaren gemeinsamen Nenner: Geschichten erzählen, darum gehe es. Wie seinerzeit bei seinen geliebten Tiersendungen. „Grzimek zum Beispiel, ein alter Mann, der an seinem Schreibtisch saß und erzählte, fantastisch, total simpel! Er hatte bestenfalls mal ein Rhesusäffchen dabei. Man braucht keine Riesendeko mit Piesediputtel und riesigen Neonröhren.“ Und tatsächlich bietet Youtube Inhalte, die man auch dann im TV nicht findet, wenn man sich in der Senderliste in trüben Nächten bis ganz nach hinten zu den dreistelligen Kanalzahlen zappt, noch hinter die Hamsterastrologen und volkstümlichen Dauerjodler.

Eine Jacke aus Hundeköpfen, warum nicht? Dass Michael Buchinger, 22 Jahre, Youtuber in Wien, über leicht exaltierte Kleidungsgepflogenheiten verfügt, weiß man bereits aus seinem Video Betrunkenes Online-Shopping (samt schwarzer Paillettenjacke — „für eine Discobeerdigung“). Er sticht heraus aus dem Gros der professionellen oder semi-professionellen Youtuber, weil er keine Videospiele vormacht und keine Krawall-Ulknummern dreht, und weil er statt der obligatorischen cuteness mit mild-schwarzgalligem Humor amüsiert. Sein größtes Erfolgsformat sind seine monatlichen Hasslisten: Während andere Youtuber zum Monatsersten gerne ihre Lieblingsprodukte der vergangenen Wochen vorführen, echauffiert sich Buchinger aufs Lustigste noch einmal über die größten Ärgernisse: dumme Menschen, Rote Bete, sinnlose Fragen. „Wie lange hat heute der Supermarkt offen, und welche U-Bahn muss ich dahin nehmen? I bin net der Google!“

Mit 38 000 Abos ist er kein Vollzeit-Youtuber, sondern studiert noch Englische Literatur. Seine Wiener Dachwohnung verpasst dem Besucher die klassische Fernsehkulissen-Besichtigungserfahrung: „Auf dem Bildschirm sieht das alles viel größer aus!“. Der Tisch vor der Bücherwand, das Sofa unter der mit Fotos bespickten Pinnwand, die kleine Küche - alles Filmsets, die man aus Buchingers Videos kennt.  

Es gibt auf Youtube die Großkonzerne, unabhängige Indies und dazwischen traditionelle Familienunternehmen.

Seit April ist er bei Studio71 unter Vertrag, dem Netzwerk der Sendergruppe ProSiebenSat.1. „Neue Stars kreieren und sie bekannter machen - im Web, aber auch fürs TV“, so erklärt Geschäftsführer Sebastian Weil den Web-Vorstoß der TV-Unternehmen. Dabei soll die Allianz zwischen neuen und alten Medien in beide Richtungen durchlässig sein: „Es kommen auch immer mehr TV-Stars zu uns und sagen: Wir wollen im Netz größer werden. Und TV-Redaktionen, die unsere Web-Inhalte featuren wollen.“ Die Genreschwerpunkte liegen auch bei Studio71 bei den besonders erfolgreichen Sparten Beauty und Gaming, letztens aber, sagt Weil, hätte sie auch eine ältere Youtuberin unter Vertrag genommen, die Strickanleitungen vorführt — „und ein anderer Kanal stellt landwirtschaftliche Maschinen vor.“

Und irgendwo dazwischen hat auch Michael Buchinger seine Netzwerk-Nische gefunden. Am Ton oder Inhalt seiner Videos hat sich nichts geändert, doch ein paar technische Basics berücksichtigt er, seitdem er Netzwerkler ist: Zu Videobeginn einen kleinen, besonders lustigen Ausschnitt anteasen, die Zuschauer aktiver einbeziehen und ihnen Fragen stellen, die sie in den Videokommentaren beantworten können. Und eine professionelle „Endcard“ haben seine Videos jetzt: So nennen Youtuber die finale Einstellung, die den Zuschauer auf weitere Videos verweist und zum Abonnieren des Kanals ermuntert („Ihr werdet es nicht allzu sehr bereuen“, sagt Buchinger). Seit seinem Eintritt ins Netzwerk, schätzt Buchinger, hat sich seine Reichweite vervierfacht — obwohl sein angeschrullter Humor eher Nischengewächs als massentauglich ist. „Neulich war ich mit meiner Hassliste in einem großen österreichischen Radiosender zu Gast“, sagt Michael Buchinger. „Es ist schrecklich schiefgegangen.“

Weil die Hörermasse mit seinen Scherzen nichts anfangen konnte. Und weil sich Humor nicht immer in ein anderes, beliebiges Medium umtopfen lässt. Buchingers Bastelvideos unter dem Motto „Das pinteressiert mich nicht“ etwa, in denen er auf Pinterest entdeckte Unsinnigkeiten nachmacht (und sich zum Beispiel über selbst produzierte Schokoschüsselchen freut: „Endlich muss ich meine Erdbeeren nicht mehr aus einer Glasschüssel essen wie ein Obdachloser!“). In seinen besten, schlauesten Momenten ist Youtube ein Sammelalbum für Witze, die nur im Internet funktionieren, weil hier ihre Bezüge liegen — der breiten TV-Zuschauermasse müsste man sie so lange umständlich erklären, bis der Scherz längst zu einer freudlosen Klamaukrosine zusammengeschrumpelt wäre.

Natürlich, scherzhafter Weltekel ist nicht jedermanns Sache. Doch das Creators-Portfolio von You­tube funktioniert wie eine monströse Girl- oder Boyband, in der jeder Zuschauer genau den Kanalbetreiber finden kann, der seinen Vorlieben am meisten entspricht: der überfreundliche Hübschling, die angeprollte Ansatzblondine, der Flachwitzerzähler, das Schmerzensmädchen, die Dauergrantige, der gesponserte Schmierlapp. Gelegentlich finden sich dabei komplexe Communities zusammen, die Youtube zumindest für die junge Zielgruppe zur wahren, zeit- und mediengemäßen Alternative zum Fernsehen machen: einem vielnischigen Zuhause für Tribes und Jugendkulturen.

Auf seiner Ohnmachtsskala von eins bis zehn gibt der Sicherheitsmann eine knappe Vier. Der Hangar auf dem ehemaligen Berliner Flughafen Tempelhof ist gut genug durchlüftet, die 200 Mädchen, die eingezäunt von purpurnen Türstehertauen vor der Bühne warten, atmen gleichmäßig und wirken gut durchblutet. Google veranstaltet in Tempelhof sein Brandcast, eine Art Leistungsschau des Konzerns, im Rahmenprogramm gibt es ein Meet and Greet mit Youtuber Sami Slimani. In Wahrheit ist es ein unter großem Statistenaufwand inszenierter Albtraum: Man ist plötzlich zurück in der Schule, und alle sprechen eine Sprache, die man nicht versteht.

Bekannt wurde Slimani vor fünf Jahren unter seinem Kanalnamen Herr Tutorial, in seinen Videos empfahl er Anti­pickelcremes und lehrte das kunstfertige Zurechtschmieren einer Justin-Bieber-Frisur. Heute hat er über eine Million Abonnenten und verfügt über eine der hingebungsvollsten Fancommunities — die Saminators.

Der Securitymann hält eine große Stoppuhr hoch. Damit jeder Saminator zu seinem Knautschkontakt kommt, der Schmusemoment aber nicht über Gebühr in die Länge gezogen wird, bekommt jeder Fan sorgfältig abgemessene 15 Sekunden Slimani. Nachdem man zuvor ein paar Stündchen auf einem zugigen Flugfeld und in einem stickigen Bus zugebracht hat, könnte man an diesem Punkt etwas pampig werden. Die Saminators jedoch verharren mit derselben höflichen Beseeltheit, mit der man auch zur Audienz bei einem geistlichen Führer anstehen würde. Wie sanfte Missionare erzählen sie, während sie warten, warum Slimani ihr Leben gerettet hat. „Er gibt uns Hoffnung durch seine Geschichte. Er sagt uns, dass wir immer an uns glauben sollen“, sagt ein Mädchen, und ein anderes: „Er wurde früher in der Schule gemobbt, war dick und fühlte sich alleine. Aber er hat es geschafft, und darum können auch wir es schaffen.“ „Hero“ nennen sie ihn, und „Lifesaver“, und überstehen ihre 15 Slimani-Sekunden ohne allzu viele Tränen und ohne Ohnmachtspritsche.

Wirklich nachvollziehen kann man diese messianische Wirkung nicht, wenn man sich Slimanis Youtube-Kanal besieht. „Samis Must-haves im September“ (Augencreme, Duftkerze, „unterstützt durch Produktplatzierung“), dann eine neunminütige Präsentation seines letzten Drogerieeinkaufs, anderswo gesunde Eisrezepte. Zusammen mit den Motivationsversen, die Slimani regelmäßig twittert („Das Leben ist wie Hunger Games. Wer nicht kämpft, verliert“), ergibt sich eine sonderliche Mischung aus Werbeveranstaltung und Poesiealbum — gerade mal drei Tweets benötigt Slimani, um vom einen Ende der Skala zum anderen zu hüpfen. Eins: „Gerade als Überraschung diese auf weltweit 100 limitierten Schuhe bekommen. Ein Traum. #marvel #adidasrunning.“ Zwei: „Limitierte Dinge haben etwas Besonderes an sich, weil sie nicht jeder am Ende hat.“ Drei: „Genauso wie ihr limitiert seid. Euch gibt’s nur einmal. Das Leben ist etwas Besonderes & unsere Zeit auch. Machen wir das Beste daraus.“

Man könnte das als schöne Metapher für die Zwittrigkeit von Youtube sehen, den Spagat zwischen reinem Kommerz und purer Inspiration (und den vielen Abstufungen dazwischen). Oder als Anlass, über eine neue Spezies von Stars und Fantum nachzudenken. Schon wieder ein Youtube-Paradox: Hier kann man Menschen als Stars vergöttern — und sich ihnen gleichzeitig verbundener fühlen als dem Schwarm in der hinteren Schulbusreihe, den man nicht anzusprechen wagt. Weil man in Videokommentaren, auf Facebook, mit Tweets tatsächlich mit ihnen kommunizieren kann. Wenn man sich anstrengt, jedenfalls im Sli­mani-Fall: Fansein wird zur Arbeit. Wer fleißig seine Tweets re­tweetet, Videos positiv bewertet und seine Reichweite anderweitig vergrößert, wird eventuell per Tweet von ihm belohnt: „Du hast mir über 1200 Tweets gewidmet. Danke, dass du so ein großartig aktiver Fan & Saminator bist. GEFOLGT!“

Gefolgt, das ist eines der höchsten Sakramente eines Youtuber-Fans: Das Datum, an dem sich der verehrte Star entschloss, seinem Fan auf Twitter zu folgen, wird stolz im Profil vermerkt. Youtube-Stars unter den Followern, das ist eine weitere der vielen verschiedenen Währungen dieser komplizierten Plattform. Seinen Tauschkurs bestimmt dabei jeder Youtuber selbst. „Wir lieben dich einfach zu krass“, schreiben ihm seine Saminators — „Ich liebe euch noch viel mehr“, schreibt er zurück (und, ein bisschen später: „Ich liebe Waschanlagen“, 594 Retweets, 2048-mal favorisiert).

Hier kann man Stars vergöttern — und sich ihnen gleichzeitig näher fühlen als dem Schwarm in der hinteren Schulbusreihe

Slimani moderiert inzwischen auch bei Viva TV, mit seinen Schwestern veröffentlichte er gerade den Lebensratgeber Das Slimani-Prinzip. Zum Online-Verkaufsstart der Sonderausgabe (handsigniert) setzte er einen weiteren schönen Kommerz-Schmuse-Hybridtweet ab: „OMG! Schon über 1000 Bücher in 1 Minute sind bestellt. Verliert keine Zeit. I LOVE YOU. CRYING!!!“ Antwort eines Fans: „Die Slimanis werden neben meinem Buch geatmet haben. OMG!“ Dass das Buch ein sonderbarer Gemischtwarenladen aus Banal-Lebenshilfe, Turnübungen und Kochrezepten ist, ist dabei nebensächlich. Einer der enthaltenen persönlichen Entspannungstipps von Sami Slimani, stellvertretend für das Gesamtwerk: „Tief durchatmen! Es gibt keine günstigere und einfachere Art der Entspannung, als einfach zu atmen. Ein paarmal tief ein- und wieder auszuatmen, kann wahre Wunder bewirken!(...)“.

Doch wer derartig vernarrt ist wie die Saminators, der kann viel verzeihen. Denn es gibt auch Ungereimtheiten, kleine Dellen in der perfekten, glänzenden Youtuber-Welt. Die Bedeutung der großen und mittelgroßen Youtuber lässt sich auch daran ablesen, dass es längst eigene Watch-Gremien für sie gibt: Foren und Twitteraccounts, die nichts anderes tun, als das Treiben der Youtuber zu beobachten, über Hintergründe zu spekulieren, Kritik zu üben am Medium ohne Doorkeeper. Manchmal, natürlich, ist diese Beobachtung schlichter Klatsch und böse Lästerei. Manchmal aber auch Entlarvung und Denkanstoß. @guruticker etwa, ein Twitteraccount, der als eine Art Schminki-Leaks fungiert und anonyme Hinweise sammelt und veröffentlicht. Und zum Beispiel in ausführlichen Bildbetrachtungen analysiert, welche Youtuberinnen sich auf ihren Instagram-Fotos dünnere Schenkel, Arme, Bäuche photoshoppen, obwohl sie in ihren Videos stets predigen, die pubertierenden Zuschauerinnen sollten sich doch so lieben, wie sie sind.

Anfang November fiel einigen Twitterern auf, dass Slimanis Video zum Thema Reisestyling eine recht direkte Kopie eines Videos der großen US-Youtuberin Bethany Mota (7,6 Millionen Follower) war. Selbst die Art, wie er im Video Nüsse esse, habe er bei ihr abgeschaut, schrieben seine Fans unter das Video — und dass sie sich „auf eine Art betrogen“ fühlten. Slimani deaktivierte daraufhin die Kommentarfunktion.

Die Schlange schmiegt sich um den Häuserblock in Berlin-Mitte. Mädchen vor allem, die durch die Glasfront in einen loftigen Verkaufsraum im Erdgeschoss lugen. Drinnen sitzt Nilam Farooq, 25 Jahre, internetberühmt als Daaruum, Beauty- und Lifestylebloggerin mit 890 000 Abonnenten. Gerade ist halb Berlin tapeziert mit ihrem Gesicht, eine große Youtube-Kampagne. In Billboardgröße hängt Nilam am Hauptbahnhof (und Sami Slimani am Alexanderplatz).

Bahnhof, das passt gut, weil Nilam gerne reist und unterwegs ist. Für heute hat sie in Mitte einen Pop-up-Store eingerichtet, nur einen Tag lang werden hier für gute Zwecke Shirts, Handyhüllen und anderer instagramtauglicher Modern-Bedarf mit aufgedruckten Daaruum-Sprüchen verkauft, und man kann — deshalb werden sich im Lauf des Tages 5000 Menschen in die Schlange stellen — Nilam treffen, ein Foto zusammen machen. Und nicht weinen, hoffentlich.

Eigentlich müsste ich alle auslachen, die heulen, wenn sie vor mir stehen, darum bin ich froh, dass das nur selten vorkommt

Nilam Farooq

„Eigentlich müsste ich alle auslachen, die heulen, wenn sie vor mir stehen, darum bin ich froh, dass das nur selten vorkommt“, sagt Nilam. „Auslachen, weil ich ja nur ich bin.“ Ihren Kanal startete sie 2010, zunächst mit Schminkvideos, ein paar Rezepten, manchmal Filmtipps. Zu ihren beliebtesten Videos gehört ein Tutorial, das erklärt, wie man seine Haare locken kann, indem man Socken in ihnen vertrillert — und ein Video namens Ich bin Nilam, in dem sie nach drei Jahren Youtube ihren echten Namen verrät und von ihrem Zweitberuf als Schauspielerin erzählt, den sie bislang in ihren Videos ausgeklammert hatte — „weil ich nie wollte, dass es heißt: ,Ach so, sie schafft es nicht als Schauspielerin, dann versucht sie es bei Youtube‘“, sagt sie. „Ich habe mir ja auch beides unabhängig voneinander aufgebaut.“ Sockenlocken und Selbstreflexion, die beiden Pole spannen das Daaruum’sche Themenfeld auf, dazwischen Videos ihrer Reisen nach Chile und Australien, die anders sind als die typischen Youtuber-Reisevlogs, in denen Starbucksfilialen oft mit örtlichen Sehenswürdigkeiten verwechselt werden. Daaruum zeigt auch klassische Kosmetik-Hauls, wie die Einkaufs-Herzeige-Filmchen youtubekorrekt heißen. Doch dazwischen immer auch wieder ein Video wie „Schönheit - bist du schön? bin ich schön?“, in dem sie ungeschminkt vor der Kamera sitzt und von subjektiver und objektiver Schönheit erzählt.

Wenn Nilam über Daaruums Arbeit spricht, klingt das nicht kühl, aber pragmatisch. Mehr Anerkennung und Akzeptanz für den Youtuber-Beruf, das fände sie gut, dass er überhaupt als Beruf gesehen wird, als etwas, womit man Geld verdient: „Bei Kooperationen mit Firmen und Erfolg wird man in anderen Ländern beglückwünscht, hier bekommt man eher einen auf den Deckel und muss sich fast schon rechtfertigen.“ Wie vor ein paar Monaten, als ihr in einem Fernsehbeitrag nicht gekennzeichnetes Product-Placement unterstellt wurde — dabei, sagt sie, habe sie gesponserte Produkte stets in der Infobox unter dem Video vermerkt. „Viele Leute nehmen einfach nicht wahr, dass Youtube auch ein Unternehmen ist, das Geld verdienen will. Das verdenke ich ihnen nicht, denn das war Youtube lange auch nicht.“, sagt sie. „Das waren Videos, die man mit Freunden teilen will. Die letzten Jahre haben nun diese Veränderung gebracht, die heftig und krass ist.“

Doch es gibt Interessanteres als die ewig merkantile Fixierung, die vielen Menschen den Blick auf andere Youtube-Aspekte verstellen. Etwa, was Nilam vom Erfolg ihrer Kochvideos erzählt. „Wenn ich Crème brûlée mache, funktioniert das nicht so gut wie Erdbeer-Tiramisu. Crème brûlée ist zu klassisch. Es hilft manchmal, wenn man in Hashtags denkt: Erdbeer-Tiramisu ist ein coolerer Hashtag als Crème brûlée.“ „Der medial induzierte Distinktionsgewinn durch Cupcakes bei weiblichen Adoleszenten“, das wäre ein schönes Aufsatzthema für den Soziologen Pierre Bourdieu gewesen. Wie ein kompliziertes Archiv mit Labyrinthgängen verwahrt Youtube neben all dem Quatsch eben auch ein ganz eigenes, allen Menschen über 25 weithin verborgenes Zeichensystem. Die Codes der Jungen.

Auch Nilam versteckt manchmal Botschaften in ihren Videos. „Ich mache ja auch viel leichte Kost, aber es ist mir sehr wichtig, ab und zu mal eine Info über Organspende einzustreuen oder ein politisches Thema, zu dem ich vorher gut recherchiert habe“, sagt sie. Wichtig vor allem wegen ihrer großen Reichweite, die auch Verantwortung bedeutet: „ Ich will nicht immer nur sagen: ,Das ist cool, das ist cool, und das müsst ihr kaufen.’“ Sami Slimanis Fans heißen Saminators, die Fans von Youtuberin DagiBee nennen sich Bienchen, die Anhänger von Liont heißen Löwenkinder. Daaruumskis oder Daaruumellinchen gibt es nicht: „Manche Youtuber bauen sich eine kleine Armada, die sich auch eigenen Namen geben. Ich bin eher ein Freund von individuellen Menschen.“

Dann kommt ihre Freundin Marie in den Daa­ruum-Popup-Laden, umarmt sie und freut sich. Zusammen mit anderen Berliner Youtubern wie LeFloid haben die zwei den Verein 301+ gegründet — der Name bezieht sich auf das alte Youtube-Zählsystem, das heute wie die Erinnerung an eine verlorene Zeit wirkt. Damals wurden alle Viewzahlen, die über 300 lagen, pauschal mit 301+ angegeben.

Ein Verein, das klingt sonderbar antik und rauhaardackelmäßig in dieser blitzmodernen Youtubewelt. Dabei geht es den 301+lern um die Zukunft des Mediums. „Bei der zunehmenden Professionalisierung ist vor allem eines passiert: Netzwerken wurde zur Währung“, sagt Marie Meimberg, die Vorsitzende des Vereins ist. „Wir glauben, dass so viel vom Urcharakter verloren gegangen ist, der den Charme von Youtube ausgemacht hat.“ Florian Mundt, der als LeFloid vor allem für seine Newsvideos bekannt ist, hat aus ähnlichen Gründen gerade bei Mediakraft gekündigt: „Netzwerke übernehmen die Rolle, Youtube als Plattform durchzuinstrumentalisieren, für Leute, die schnell wachsen und aufgepumpt werden wollen“, sagt er. Als er bei Mediakraft einstieg, seien da gerade mal 20 Mitglieder gewesen. Es sei um Austausch und gegenseitige Unterstützung gegangen, heute dagegen unterhalte man sich oft nur noch in Marketingbegriffen. Crosspromotion, Collaboration. Piesediputtel.

Also sitzen die 301-Plusler oft bei Marie zu Hause, essen Spaghetti, sprechen über Inhalte, die Entwicklung der Branche. Über das Verhältnis von Youtube-Machern und -Nutzern, in dem — finden sie — oft gefährlich und manipulativ mit dem Begriff „Freundschaft“ gespielt wird. „Meine Zuschauer kennen mich auf sehr bestimmte, private Art, aber eben nur bis zu einem bestimmten Punkt, und das muss man eben auch ganz ehrlich sagen“, sagt Marie. Sie hat ein Video dazu gedreht, „Ich bin nicht eure Freundin“ heißt es.

Wie sollen sich Zuschauer und Youtuber begegnen, welches Verhältnis ist für beide angenehm und gesund? In Köln, wo Mediakraft sitzt und viele größere Youtuber wohnen, gerate die Situation schon teilweise außer Kontrolle, sagt Florian Mundt: „Köln wurde künstlich zur Youtube-Hauptstadt aufgeblasen. Hier in Berlin bin ich einfach nur schweinefroh, dass ich noch unerkannt zum Bäcker latschen kann und keine organisierten Whatsapp-Gruppen verfolgen, wo ich täglich so langlaufe.“ Die eigene Position finden, auch das treibt die Vereinsmitglieder um. Wenn sie sich nicht als Stars fühlen und keine Stars sein wollen - was sind sie dann?

Eine Szene wird zur Branche, und ihre Akteure denken darüber nach, wo es für sie hingehen soll. Dass Florian Mundt als LeFloid nun auch als Testimonial in einer Kampagne der Techniker-Krankenkasse auftritt, kann man als Zeichen dafür werten, dass Youtuber schon längst Teil des gesellschaftlichen Mainstreams sind — und natürlich als Beleg dafür, dass die ihnen zugeschriebene Authentizität eine starke Währung ist, auch außerhalb Youtubes. Denn LeFloid erzählt in seinem TK-Video genau so flummihaft und zackzackig von einem Fahrradunfall, der seine ganze Zukunft veränderte, wie er es auch in seinen regulären News-Videos tut — inklusive der Lebensweisheit „Pläne sind so richtig hart fürs Arsch.“

Stellt euch vor, ich lade euch abends mit anderen Freunden zu mir ein, koche mit viel Mühe, zünde Kerzen an — und dann zieht ihr nach dem Essen die Hose runter und kackt in die Ecke

Oft diskutiert der 301+-Verein darüber, welchen Entwicklungen der Kommerzialisierung innerhalb von Youtube sie etwas entgegenstellen wollen. „Ich nenne uns jetzt nicht Gewerkschaft, aber es gibt sicher Themen, die man mit Youtube direkt verhandeln sollte, statt es den Netzwerken zu überlassen“, sagt Meimberg. Rechtshilfe, das sei klar, könnten sie nicht leisten. Aber sicher hilft es schon, sich auf konkurrenzfreier Ebene auch über softere Themen auszutauschen. Den Umgang mit Hater-Kommentaren, zum Beispiel. Marie Meimberg hat eine schöne Metapher dafür entwickelt, wie es ist, unter den eigenen Videos Pöbeleien lesen zu müssen: „Ich erkläre das immer so“, sagt sie: „Stellt euch vor, ich lade euch abends mit anderen Freunden zu mir ein, koche mit viel Mühe, zünde Kerzen an — und dann zieht ihr nach dem Essen die Hose runter und kackt in die Ecke. Das stört die anderen Gäste, und es stinkt.“

„Ein bisschen Gegenkarma“ wollen sie mit ihrem Verein verbreiten, kein zusätzliches Geld aus der Situation pressen oder gar die Netzwerke abschaffen. Mit retroseligem Rückblick habe das nichts zu tun. „Ich glaube nicht, dass man die Unschuld der frühen Youtube-Tage wiederherstellen kann. Man kann nicht mit fünf verschiedenen Leuten schlafen und dann wieder Jungfrau werden“, sagt Marie Meimberg. Aber man kann sich fragen: „Wie möchte ich damit umgehen?“ Man kann über Crosspromotion und Product-Placement sprechen. Darüber, dass es Youtuber gibt, die an Burn-out leiden. Zusammen mit Youtube organisierte Meimberg einen Wochenend-Workshop für Youtuberinnen, um über Inhalte zu sprechen und darüber nachzudenken, was außerhalb der Schminkerinnen-Genreschablonen noch alles möglich ist. „Wir glauben, dass es an der Zeit ist, sich andere Orte zu schaffen, die parallel zu den Netzwerken existieren“, meint sie. „An denen man sich wieder als Menschen trifft, nicht nur als Channels.“

Und das ist neu. Youtube hat heute nicht nur seine eigene, profitträchtige Parallel-Entertainmentbranche, sein Star- und Bedeutungssystem. Nach knapp zehn Jahren im Netz entwickelt Youtube seinen ganz eigenen moralischen Kodex.

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