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Gadget Kolumne / This is Cardcore: über Sinn und Zweck von Visitenkarten

von Anja Rützel
Visitenkarten leben länger: Wir hängen an ihnen, weil sie ehrlicher sind als digitales Kontaktesammeln.

Letztens bekam ich überraschend die Visitenkarte von Patrick Bateman zugespielt. Jenem Schniegel aus American Psycho, der grausliche Dinge mit Messern und Menschen anstellt – und der beim (dezent phallusersatzhaften) Visitenkartenvergleich mit seinen Kollegen in Schamschweiß ausbricht, weil sein eigenes Stück Papier (immerhin ein aparter Knochenton, Schriftart: Silian Rail) nicht mit dem Eierschalfarben-Prägebuchstaben-Edelbleiche-Fancykram der anderen mithalten kann.  

Gut, ich bekam nicht wirklich Batemans Visitenkarte. Das flache Plastikstückchen, das ich im Luftpolsterumschlag in meinem Briefkasten fand, war nur eine sehr gute Replika und eigentlich ein platter USB-Stick – ich hatte ihn als Belohnung bekommen, weil ich offenbar mitgeholfen hatte, die Inszenierung eines American-Psycho-Musicals zu crowdfunden (betrunken kickstartern – it’s a thing). Das USB-Ding erinnerte mich an diese schön schäbigen Buchimitate aus Plastik, in denen man früher seine Klamauk-Videokassettensammlung verstauen und auf kurzsichtige Besucher trotzdem wie ein bestbelesener Schlaumeier wirken konnte – retroverbrämte, kalte Technik.
Papierhasser könnten den Bateman-Stick nun als billiges Bild für den Diesmal-aber-wirklich-Untergang der Visitenkarte sehen, der in regelmäßigen Abständen herbeigeplappert wird. Doch auch die hundertste Scan-App und das überlaufenste Online-Netzwerk konnten ihr noch nicht den Garaus machen, auch nicht Erfindungen wie The Bump, eine App, die beim Zusammenklacken zweier Smartphones automatisch Kontaktinfos und andere Daten nach Wunsch übertragen konnte. The Bump wurde über 125 Millionen Mal heruntergeladen. Und im Januar 2014 dann doch eingestellt.

Immer noch bringen wir von jedem Konferenzbesuch und jeder Networkinghorrorveranstaltung stäpelchenweise kleine Pappkärtchen mit nach Hause. Und passen unsere eigenen mit jedem neuen Job den aktuellen Moden an: Sehr viel früher waren einmal schöne Karten mit möglichst viel drauf beliebt: Fax! Mobiltelefon! E-Mail-Adresse! Top-notch! Als diese Dinge dann fader Standard wurden, waren schöne Karten mit möglichst wenig drauf schick. Dann kam die Welle der qualvoll originellen Kartendesigns (die Scheidungsanwaltsvariante zum Auseinanderreißen, WITZIG!), schließlich begannen besonders lustige Start-up-Menschen, sich für ihre Karten qualvoll originelle Positionstitel auszudenken. Head of Firlefanzing wäre noch frei.
Warum Visitenkarten als letzte Analog-Bastion in unserer topdigitalen Arbeitswelt dulden? Warum überleben sie nicht nur in bei technischen Innovationen eher saumseligen Branchen und auf Sanitätsfachmessen, sondern auch im Tech-Bereich und Start-up-Wesen? Hobbyanalytiker könnten spekulieren, dass trotz aller betonten Unstatushaftigkeit und Hierarchieabscheu in diesen Branchen der eitle Mensch dennoch immerzu nach sichtbaren Beweisen seiner Herrlichkeit und seiner Errungenschaften schielt. Schön gedruckt, wenn auch nicht edelgebleicht.

Das wahrhaft Tolle an Visitenkarten allerdings: Man kann sie aussortieren. Und wegwerfen. Während man, was Online-Verbekanntschaftungen angeht, im Lauf der Jahre auf den diversen Plattformen immer mehr übereifrig ernetzwerkten Ballast vor sich herschiebt. Und dabei mit der Hälfte der Menschen gar nichts mehr zu tun hat. Die naturgemäß begrenzte Lebens-dauer einer gewöhnlichen Visitenkarte korrespondiert dagegen wunderbar mit der endlichen Natur menschlicher Beziehungen. Beide werden im Lauf der Zeit knittrig und bekommen Eselsohren, manche verliert man irgendwann irgendwo – einige direkt, nachdem man sie festlich überreicht bekam. Womöglich ist diese sympathisch-ehrliche Unverblümtheit der Grund dafür, dass die Visitenkarte uns am Ende in trotziger Ironie noch alle überleben wird. Und Linkedin. Und USB-Sticks.

Anja Rützel plant für ihren nächsten Besuch einer Tech-Konferenz die Anschaffung einer humorigen Variation der legendären Visitenkarte von Mark Zuckerberg: „I’m a bitch, CEO!“
 

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