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Warum sind Videospiele keine Freie Software?

von Benedikt Frank
Die Gamekonsole der Massen ist das Android-Smartphone. Mit dessen Software-Unterbau, dem freien Betriebssystem Linux, ist damit auch Freie Software in jeder Hosentasche angekommen. Doch bei den Spielen steht es um die Freiheit des Codes schlecht.

Wem jetzt der ein oder andere Freeware-Titel einfällt, der wurde noch nicht von den Apologeten der Freien Software belehrt: „Frei wie in Redefreiheit, nicht wie in Freibier!“ Das ist der Slogan des Programmierers und Aktivisten Richard Stallman, eines zentralen Protagonisten der Free-Software-Bewegung, der aussieht wie ein Hippie, mit langen, zotteligen Haaren und Rauschebart. Die Freiheit der Freien Software definiert er durch den Umgang mit dem Code, nicht über ihren Preis. So muss der Quellcode eingesehen, verändert und weitergegeben werden dürfen und zwar auch ohne die Genehmigung des ursprünglichen Autors, damit Stallman als Free-Software-Guru seinen Segen erteilt.

Die Geschäftsmodelle der kommerziellen Spieleentwickler passen dazu bisher nicht. Wäre etwa „Grand Theft Auto 5“ komplett Freie Software und wären auch die anderen Inhalte wie Musik und Grafiken frei, könnte das Spiel jeder legal kopieren und mit anderen Teilen. Demgegenüber stehen Entwicklungskosten von geschätzt über 260 Millionen Dollar und eine entsprechend hohe Gewinnerwartung bei einer solchen Investition. Wäre ein Free2Play-Spiel wie „Candy Crush“ Freie Software, könnte jeder mit dem nötigen Know-how seine eigene Version erstellen, in der man nicht mehr für Extraleben bezahlen muss.

Dabei benutzen Spieleentwickler selbst Freie Software, etwa bei den Entwicklungsumgebungen, in denen der Code entsteht, oder den Compilern, die diesen in Maschinensprache übersetzen. Beim fertigen Produkt kommen die Freiheiten aber selten an. Anders als alltägliche Gebrauchssoftware sind Freie Spiele ein absolutes Nischenphänomen.

Kreativer Kontrollverlust

Das muss nicht nur damit zusammenhängen, dass es kein Geschäftsmodell gibt, mit dem sich die aufwendige Produktion bezahlen lässt. Viel Freie Software wird durch Stiftungen finanziert — dafür ist kein einzelnes Spiel bisher wichtig genug. Oder Entwickler verdienen durch individuellen Support, durch die Anpassung der Programme auf spezielle Kundenwünsche, was sich auf Spiele nicht einfach übertragen lässt. Indie-Entwickler, die geringere Gewinnerwartungen erfüllen müssen als große Studios, wollen ihre Werke selbst kontrollieren. Wer Freie Software produziert, gibt aber viel Macht über das Ergebnis ab.

Auch arbeiten bei der Spieleentwicklung die Programmierer, die den Ideen der Freien Software aufgrund ihrer Arbeitspraxis näher stehen, mit vielen anderen Kreativen zusammen, etwa mit Grafikern und Musikern. Traditionell sind diese darauf angewiesen, Kopien ihrer Werke zu verkaufen. Der Austausch findet hier ganz anders statt als bei der exakten, digitalen Kopie von Programmcode. Das Covern eines Songs etwa wird als persönliche Interpretation eines Werks verstanden, als Hommage. Code dagegen wird verbessert oder für einen bestimmten Zweck angepasst, der Nutzen steht im Vordergrund.

Spiele sind aber beides: Werke einer Kreativindustrie, die wie Kinofilme oder Romane individuelle oder kollektive künstlerische Haltungen enthalten können — aber sie müssen eben auch immer auf einer sehr abstrakten technischen Ebene überhaupt erst einmal funktionieren. Alles ist gemacht, alles ist Code. Selbst ein zufällig schönes Bild, das ein Filmregisseur mit ausreichend Glück und Zeit leicht aufnehmen könnte, muss in Videospielen relativ aufwendig programmiert werden.

Lebenserhaltende Maßnahmen

Freie Software bei Spielen findet darum zuerst auf dieser technischen Ebene statt. Die Listen von Freien oder zumindest quelloffenen Computerspielen, die etwa bei Wikipedia oder im Libre Game Wiki gepflegt werden, enthalten viele Klone und Remakes von Spieleklassikern. Die kreative Leistung besteht zunächst also nicht aus der Spielidee selbst.

So auch zum Beispiel bei „OpenTTD“, einem Nachbau der Transport- und Wirtschaftssimulation „Transport Tycoon“. Das Spiel wurde ursprünglich von Chris Sawyer entwickelt, der auch für „Roller Coaster Tycoon“ bekannt ist. Derartige Ableger sind möglich, weil es kein Urheberrecht auf Spielmechaniken gibt. Anders als die grafische Gestaltung eines Spiels gilt die Mechanik als Idee und ist als solche nur in ihrer konkreten Ausgestaltung rechtlich geschützt. Jeder kann die gleichen Funktionen mit eigenem Code nachbauen. Aber warum sollte man das tun?

„Letztendlich ist das Spiel an sich unerheblich“, sagt Christoph Elsenhans, Programmierer bei „OpenTTD“. Dennoch ist er ein Fan des Originals und besteht darauf, dass es seit „Transport Tycoon“ kein vergleichbares Spiel mehr gegeben habe. Er schätzt die Arbeit mit einem großen Team. Alleine, so glaubt er, hätte er nicht die Chance gehabt, ein solches Spiel zu entwickeln. Die Arbeitsweise ist für ihn ein angenehmer Ausgleich zur Lohnarbeit als Programmierer. Es gibt hier keine festen Deadlines, die einzuhalten wären. „Es geht mehr um den Weg als um das Ziel“, fasst er die Arbeit an „OpenTTD“ zusammen. Dabei gehe es außerdem zuerst darum, dass die Entwickler ihren Spaß haben. Die Spieler sind eher zweitrangig.

Klar, so kann man nicht mit kommerziellen Entwicklern konkurrieren. Aber dennoch hat das „OpenTTD“-Team kleine Erfolge vorzuweisen. Dank ihm ist das alte DOS-Spiel von 1994 auf zahlreichen modernen Plattformen spielbar. Die Steuerung wurde an heutige Bedürfnisse angepasst — auch eine Touch-Version für Android-Smartphones gibt es —, Karten können größer sein, weil die Rechner ja auch mehr leisten können, es gibt neue Online-Multiplayermodi und Plugin-Schnittstellen. Das Spiel wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und nicht zuletzt um zahlreiche Spielvarianten erweitert. „Transport Tycoon“ überlebt so nicht nur als Kopie, die sich etwas umständlich in Emulatoren spielen lässt; das Spiel wächst mit der Zeit weiter und verändert sich, wenn seine Spieler neue Ansprüche entwickeln.

Jäger des verlorenen Schatzes

Die Quellen eines Spiels offen zu legen — was streng genommen noch nicht das Gleiche ist wie Freie Software, da die die Rechte am Code weiterhin alleine bei dessen Besitzer liegen — wäre aber nicht nur für das Fortleben eines Spiels und für Modder wertvoll. Es ist auch von archäologischem Interesse. Der Netzkünstler Darius Kazemi beschreibt in seinem bei Boss Fight Books erschienenen Buch über das Rundenstrategiespiel „Jagged Alliance 2“ einen interessanten Fund im Programmcode. Nach der Insolvenz des ursprünglichen Entwicklers Sir-Tech kaufte Strategy First die Rechte am Spiel. Die neuen Besitzer veröffentlichten bald darauf die Erweiterung „Jagged Alliance 2: Wildfire“ — und mit ihr den Quellcode.

In seiner Analyse dieses Codes fällt Kazemi unter anderem auf, dass einigen Charakteren Sexismus als Charaktereigenschaft einprogrammiert wurde. In sieben Zeilen Code werden „SexistLevels“ für die vom Spieler gesteuerten Söldner und Söldnerinnen definiert — von „not_sexist“ über „somewhat_sexist“ zu „very_sexist“ und kurioserweise „gentleman“. Nur Gentlemen und sexistische Frauen empören sich, wenn ein weibliches Teammitglied mit einem Hinterwäldler verheiratet wird, damit dieser den Söldnern sein Waffenlager öffnet. Dass ausgerechnet der Ärger über den Tausch einer Frau gegen Kriegsgerät hier als Sexismus definiert ist, verkehrt die Bedeutung des Worts ins Gegenteil. Dabei wird eine Frauenfigur so nicht nur diskriminiert, sie wird zum Objekt eines Menschenhandels. Der Code erklärt ebenfalls, in welches Weltbild diese Denke der Entwickler eingebettet ist: Ein Kommentar weist darauf hin, dass Feministinnen Männer hassen würden und reproduziert so die antifeministische Vorstellung, Feminismus sei gegen Männer gerichteter Sexismus.

Dank des offenen Quellcodes ist Darius Kazemi auf einen kleinen Schatz gestoßen: ein Artefakt, das darauf hinweist, wie die Entwickler dachten und wie sie aus diesem Denken heraus Spielmechaniken implementierten. Gerade im Hinblick auf ein auch von Entwicklern gefordertes Verständnis von Spielen als Kultur wird auch deren Entstehungsgeschichte zunehmend zum Forschungsobjekt. Wer Kultur erforschen will, kann das zwar auch über die reine Betrachtung der Produkte tun. Doch besonders bei flüchtigen Medien — und Spiele gehören schon alleine aufgrund der rasanten Entwicklung der Hardware dazu — ist es enorm hilfreich, aus ihren Bausteinen selbst Erkenntnisse ziehen zu können.

Bei Film und Theater lässt sich viel von den verschiedenen Textfassungen lernen, von den Notizen, die Regisseure neben die Zeilen der Drehbücher und Libretti kritzeln. Manche verlorenen Filme können nur deshalb rekonstruiert werden, weil es Aufzeichnungen gibt, wie diese zusammenpassen sollen.

Wenn Spiele nicht dem digitalen Vergessen überlassen werden sollen, muss ihr Quellcode möglichst zugänglich sein — und die beste Garantie dafür ist, sie zumindest am Ende ihres kommerziellen Lebens unter einer freien Lizenz zu veröffentlichen.

Dieser Text erschien unter dem Titel „Freedom of Play“ zuerst in der 8. Ausgabe des Videospiele-Bookazines WASD. Die ganze Ausgabe findet ihr hier

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