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Zukunft der Musik / Sind Live-Konzerte wie die von Kraftwerk bald nur noch Playback-Shows?

von Bernd Skischally
Es gibt eine Sache, die für Live-Konzerte noch gefährlicher ist als strampelnde Stagediver und über den Köpfen blitzende Smartphones: Backing-Tracks. Wenn Live nicht mehr live sondern Playback ist, dann entlarvt sich unser Traum vom authentischen Musiker als Illusion. Den jüngsten Grund zur Sorge liefert ein Fan-Konzertmitschnitt von Kraftwerk. Darauf womöglich zu sehen: Ein Musiker, der während des Gigs im Internet surft.

Der entlarvende YouTube-Mitschnitt zeigt die Bühne des Amsterdamer Clubs Paradiso. Eine Instrumentenkonsole ist zu erkennen und direkt dahinter Kraftwerk-Mitglied Falk Grieffenhagen. Seine Finger wischen über einen Touchscreen, scrollen durch einen Text. Surft er da etwa während eines Live-Gigs gelangweilt im Netz?

Obwohl Grieffenhagens Bandfunktion ohnehin die des Video Operators ist, sind die ersten Reaktionen gehässig. Einst waren Kraftwerk für Frickelarbeit an tausendfach verkabelten Synthesizern bekannt, für jazzartige Eskapaden an selbstgebauten E-Instrumenten. In England sagt man ihnen sogar nach, wichtiger als die Beatles zu sein. Sind sie jetzt aber doch nur noch spektakulär inszenierte Playback-Stars?


In Konzert- und Fan-Foren wird der Anteil der Live-Musik bei den Konzerten der Band schon lange diskutiert. Öffentliche Stellungnahmen der ohnehin interviewscheuen Mitglieder gibt es keine. Aber selbst, wenn einer der Kraftwerk-Musiker die Zeit auf der Bühne nutzt, um eine Ebay-Versteigerung zu Ende zu bringen, und selbst wenn der Rest der Band nur noch zu Sound aus der Konserve mitwippt und Fake-Knöpfchen dreht: Es stellt sich die Frage, wie peinlich Playback in einer Zeit überhaupt noch ist, in der selbst Hologramme Konzertbesucher zu Tränen rühren.

Backing-Track-Techniken, mit deren Hilfe einzelne Spuren oder ganze Song-Fragmente passgenau im Studio vorbereitet werden, um sie auf der Bühne mit Programmen wie Pro Tools oder Ableton Live einzuspielen, sind spätestens seit den Achtzigerjahren im Rock- und Popgeschäft ein gängiges Mittel, um Konzerte für Musiker und Crew berechenbarer zu gestalten. Die englische Wikipedia listet neben tanzenden Popstars wie Rihanna, Madonna und Village People auch Bands wie U2, Rammstein, Kasabian und Muse als Künstler auf, die bei ihren Live-Shows Backing Tracks einsetzen.

Sogar die Rolling-Stones bedienten sich schon der Backing-Track-Technik.

Das Musterbeispiel für versteckte, lippensynchrone Vocal-Zuspieler — die ein Konzert tatsächlich auf das Niveau des ZDF-Fernsehgartens beziehungsweise von Marijke Amados Mini Playback Show rutschen lassen, ist wohl Milli Vanilli. Verbreiteter als die Manipulation des Live-Gesangs sind allerdings Backing Tracks, die Instrumente teilweise oder ganz ersetzen, beziehungsweise diese durch computergenerierte Sounds verstärken.

Das hat offenbar selbst bei der rock’n’rolligsten aller noch auftretenden Rock’n’Roll-Bands Tradition, wie dieser bereits im Jahr 1995 veröffentlichte SPIEGEL-Tourbericht über die Rolling Stones nahelegt. „Wer einmal Schlagsahne bekommen hat, der mag kein trockenes Brot mehr“, beschreibt der damalige Vorsitzende des Deutschen Rockmusikerverbands, Ole Seelenmeyer, darin die technischen Verlockungen für die Musiker. Und er fügt hinzu: „Das Publikum will belogen werden.“

Die Musikbranche, in der inzwischen mehr an Konzerten als an Plattenverkäufen verdient wird, legt bei dem Thema auch heute wenig Wert auf Transparenz. Playback ist ein Tabuwort. Manager und Marketing-Experten wissen zu gut, dass Authentizität der Schlüssel zu den Herzen der Fans ist — und zu den immer rarer werdenden Labeldeals. Dass schon der fette Bass-Sound mancher Indie-Band nicht von den dünnen Ärmchen des auf ein Electropad klopfenden Drummers, sondern schlicht vom Computer kommt, wollen viele lieber unausgesprochen lassen. So lange die Optik stimmt — und das vermarktbare Gesamtpaket.

Müssen wir unsere Erwartungshaltung an Live-Musik herunterschrauben?

Beides stimmt bei den aktuellen 3D-Shows von Kraftwerk. Wieso also sollte ausgerechnet die bandgewordene Menschmaschine auf Computerunterstützung verzichten? Dann wohl eher die eigene Erwartungshaltung gegenüber einer Kraftwerk-Liveshow herunterschrauben.

Ein wirklicher Worst Case und um Längen peinlicher als jeder Verspieler auf der Gitarre oder am Schlagzeug tritt allerdings ein, wenn die Playback-Technik versagt — und das angebliche Live-Musizieren hörbar als Fake entlarvt wird. Wie etwa beim Auftritt der Pet Shop Boys auf dem Berlin Festival 2013. Da drangen vor den Ohren von zehntausenden Besuchern aus den riesigen Festival-Boxen plötzlich Geräusche, die man sonst nur von schrottigen CD-Playern kennt, deren Laser springt.

Wenigstens lief über der Bühne eine riesiger Live-Twitter-Ticker, mit dessen Hilfe die Zuschauer ihre Desillusion in Form von pragmatischen Tipps kanalisieren konnten:

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Der entlarvende YouTube-Mitschnitt zeigt die Bühne des Amsterdamer Clubs Paradiso. Eine Instrumentenkonsole ist zu erkennen und direkt dahinter Kraftwerk-Mitglied Falk Grieffenhagen. Seine Finger wischen über einen Touchscreen, scrollen durch einen Text. Surft er da etwa während eines Live-Gigs gelangweilt im Netz?

Obwohl Grieffenhagens Bandfunktion ohnehin die des Video Operators ist, sind die ersten Reaktionen gehässig. Einst waren Kraftwerk für Frickelarbeit an tausendfach verkabelten Synthesizern bekannt, für jazzartige Eskapaden an selbstgebauten E-Instrumenten. In England sagt man ihnen sogar nach, wichtiger als die Beatles zu sein. Sind sie jetzt aber doch nur noch spektakulär inszenierte Playback-Stars?

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In Konzert- und Fan-Foren wird der Anteil der Live-Musik bei den Konzerten der Band schon lange diskutiert. Öffentliche Stellungnahmen der ohnehin interviewscheuen Mitglieder gibt es keine. Aber selbst, wenn einer der Kraftwerk-Musiker die Zeit auf der Bühne nutzt, um eine Ebay-Versteigerung zu Ende zu bringen, und selbst wenn der Rest der Band nur noch zu Sound aus der Konserve mitwippt und Fake-Knöpfchen dreht: Es stellt sich die Frage, wie peinlich Playback in einer Zeit überhaupt noch ist, in der selbst Hologramme Konzertbesucher zu Tränen rühren.

Backing-Track-Techniken, mit deren Hilfe einzelne Spuren oder ganze Song-Fragmente passgenau im Studio vorbereitet werden, um sie auf der Bühne mit Programmen wie Pro Tools oder Ableton Live einzuspielen, sind spätestens seit den Achtzigerjahren im Rock- und Popgeschäft ein gängiges Mittel, um Konzerte für Musiker und Crew berechenbarer zu gestalten. Die englische Wikipedia listet neben tanzenden Popstars wie Rihanna, Madonna und Village People auch Bands wie U2, Rammstein, Kasabian und Muse als Künstler auf, die bei ihren Live-Shows Backing Tracks einsetzen.

Sogar die Rolling-Stones bedienten sich schon der Backing-Track-Technik.

Das Musterbeispiel für versteckte, lippensynchrone Vocal-Zuspieler — die ein Konzert tatsächlich auf das Niveau des ZDF-Fernsehgartens beziehungsweise von Marijke Amados Mini Playback Show rutschen lassen, ist wohl Milli Vanilli. Verbreiteter als die Manipulation des Live-Gesangs sind allerdings Backing Tracks, die Instrumente teilweise oder ganz ersetzen, beziehungsweise diese durch computergenerierte Sounds verstärken.

Das hat offenbar selbst bei der rock’n’rolligsten aller noch auftretenden Rock’n’Roll-Bands Tradition, wie dieser bereits im Jahr 1995 veröffentlichte SPIEGEL-Tourbericht über die Rolling Stones nahelegt. „Wer einmal Schlagsahne bekommen hat, der mag kein trockenes Brot mehr“, beschreibt der damalige Vorsitzende des Deutschen Rockmusikerverbands, Ole Seelenmeyer, darin die technischen Verlockungen für die Musiker. Und er fügt hinzu: „Das Publikum will belogen werden.“

Die Musikbranche, in der inzwischen mehr an Konzerten als an Plattenverkäufen verdient wird, legt bei dem Thema auch heute wenig Wert auf Transparenz. Playback ist ein Tabuwort. Manager und Marketing-Experten wissen zu gut, dass Authentizität der Schlüssel zu den Herzen der Fans ist — und zu den immer rarer werdenden Labeldeals. Dass schon der fette Bass-Sound mancher Indie-Band nicht von den dünnen Ärmchen des auf ein Electropad klopfenden Drummers, sondern schlicht vom Computer kommt, wollen viele lieber unausgesprochen lassen. So lange die Optik stimmt — und das vermarktbare Gesamtpaket.

Müssen wir unsere Erwartungshaltung an Live-Musik herunterschrauben?

Beides stimmt bei den aktuellen 3D-Shows von Kraftwerk. Wieso also sollte ausgerechnet die bandgewordene Menschmaschine auf Computerunterstützung verzichten? Dann wohl eher die eigene Erwartungshaltung gegenüber einer Kraftwerk-Liveshow herunterschrauben.

Ein wirklicher Worst Case und um Längen peinlicher als jeder Verspieler auf der Gitarre oder am Schlagzeug tritt allerdings ein, wenn die Playback-Technik versagt — und das angebliche Live-Musizieren hörbar als Fake entlarvt wird. Wie etwa beim Auftritt der Pet Shop Boys auf dem Berlin Festival 2013. Da drangen vor den Ohren von zehntausenden Besuchern aus den riesigen Festival-Boxen plötzlich Geräusche, die man sonst nur von schrottigen CD-Playern kennt, deren Laser springt.

Wenigstens lief über der Bühne eine riesiger Live-Twitter-Ticker, mit dessen Hilfe die Zuschauer ihre Desillusion in Form von pragmatischen Tipps kanalisieren konnten:

Playback der PET Shop Boys sehr peinlich. Dreht es doch mal runter wenn ihr merkt dass es kaputt ist #berlinfestival

— Henry (@pflichtpfand) 6. September 2013

Welche Sounds werden unsere Zukunft bestimmen? Wer wird sie für uns erschaffen? Und womit? Das erfahrt ihr den ganzen Februar lang in unserem Themen-Special „Zukunft der Musik“ auf WIRED.de. 

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