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Wenn der Arzt chatten will: Telemedizin im WIRED-Test

von Lina Hansen
Wie ist es, wenn man für professionelle medizinische Ratschläge nur einen kurzen Anruf tätigen muss? WIRED hat das Zukunftsmodell Telemedizin getestet.

„Guten Morgen Frau Hansen, willkommen bei Teleclinic, was kann ich für Sie tun?“ Auf meinem Bildschirm öffnet sich ein Fenster, die medizinische Assistentin ist bereit, sich mein Anliegen anzuhören. Ich erzähle ihr von dem dumpfen Schmerz im Rücken, da unten an der Wirbelsäule. Kein Wunder: Mehr als einmal pro Tag erwische ich mich im Büro dabei, wie ich mit krummen Rücken, übergeschlagenen Beinen und hochgezogenen Schultern dasitze.

Meine Gesprächspartnerin stellt mir ein paar Fragen nach Vorerkrankungen, Medikamenteneinnahme und Häufigkeit des Schmerzes. Dann schlägt sie mir vor, mich mit einem Orthopäden zu verbinden. Der ist allerdings gerade nicht verfügbar („Unsere Ärzte arbeiten auch noch in ihren Praxen oder im Krankenhaus“), deshalb nimmt sie meine Telefonnummer auf und bietet mir einen Rückruf an. Alles klar! Ich arbeite erst mal weiter.

Teleclinic ist ein junges Startup aus München. Die Gründerin Katharina Jünger formuliert die Idee dahinter so: „Wenn man krank ist, ist man sehr emotional und möchte schnell Hilfe erhalten.“ Dann sei das Internet schnell die erste Informationsquelle. „Google verunsichert aber noch mehr. Und der Weg zum Facharzt ist oft zu lang. Wir bringen also individuelle und kompetente Hilfe in die digitalen Kanäle.“ Das hört sich nach einem ehrgeizigen Vorhaben an.

Online-Sprechstunden sollen ab 1. Juli 2017 bundesweit von allen Kassen abgedeckt werden

Telemedizin ist allerdings keine neue Idee. Auch jetzt schon können Patienten Ärzte anrufen und sich Ratschläge übers Telefon holen – oder Foren wie thanksdoc aufsuchen, in denen sich die Hilfestellungen der dort aktiven Ärzte allerdings oft auf „Suchen Sie bitte einen Facharzt auf“ beschränken. Eine individuelle Beratung per Videosprechstunde bietet da ganz andere Möglichkeiten – und wird in Zukunft einfacher: Was bisher nur von ausgewählten Krankenversicherungen übernommen wird, soll ab dem 1. Juli 2017 bundesweit von allen Krankenkassen abgedeckt werden.

Zurück zu meinen Rückenschmerzen. Ich hatte angegeben, dass ich bis 14 Uhr erreichbar bin, der Rückruf kommt allerdings erst gegen Abend. Kein Problem für mich, in diesem Fall war das Problem nicht so kritisch, dass es innerhalb eines Tages besprochen werden müsste. Ich telefoniere also mit dem Orthopäden während ich aus der U-Bahn komme und auf dem Weg zum Einkaufen bin. Er gibt mir Tipps für Rumpfübungen, für Einstellungen von Schreibtisch, Stuhl und Bildschirm und empfiehlt Hausmittel. Am Ende dann der Disclaimer: Sollte sich mein Befinden nicht bessern, müsse ich persönlich beim Orthopäden vorstellig werden, es könne ja auch etwas Ernstes sein.

Dieser Hinweis kommt nicht ohne Grund: Diagnosen aus der Ferne sind nicht nur schwierig, sondern auch verboten. Dass Ärzte nur behandeln dürfen, wenn sie den Patienten vorher persönlich kennengelernt und untersucht haben, ist in § 7 Absatz 4 der Berufsordnung der in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte festgelegt. Diagnosen dürfen nur nach vorheriger Untersuchung gestellt werden und auch Rezepte gibt es nur, wenn der Patient persönlich vorbeikommt.

So ist die Rechtslage allerdings nicht überall: Ein Angebot, das in der Vergangenheit für viel Wirbel gesorgt hat, ist Dr. Ed. Diese Praxis deutscher Ärzte sitzt in Großbritannien. Dort gibt es kein Fernbehandlungsverbot, die Mediziner können Überweisungen und Rezepte ausstellen. Dadurch, dass EU-Bürger innerhalb der EU selbst ihren Arzt wählen können, geht das Konzept, das sich an deutschsprachige Patienten richtet, auf. Was sich bequem anhört, ist allerdings riskant. Die Stiftung Warentest hat in einer bereits älteren Studie davon abgeraten, sich auf diese Art der Behandlung zu verlassen.

Wer allerdings lediglich eine Beratung sucht, kann auf ein immer größer werdendes Angebot an Videosprechstunden zurückgreifen. Die Techniker Krankenkasse kooperiert seit längerem mit Patientus, einem Startup aus Lübeck, das gerade vom Vergleichsportal Jameda gekauft wurde. Patientus ist eine Software für Ärzte, die Folgegespräche mit ihren Stammpatienten per Videochat durchführen möchten. Ein ähnliches Konzept bietet arztkonsultation.de.

Aber wird die Inanspruchnahme von Videokonsultationen wirklich steigen, wenn sie gesetzlich vereinfacht wird? Eine Studie der Bertelsmann Stiftung hat ergeben, dass fast die Hälfte aller Patienten eine solche Fernsprechstunde nutzen würden. Die Fachärzte, deren Videosprechstunden Patienten am ehesten nutzen würden, sind Allgemeinmediziner, Psychotherapeuten, Psychiater, Diabetologen und Hautärzte. Auch Katharina Jünger von Teleclinic macht die Erfahrung, dass Patienten immer offener werden: „Wenn die erste Hürde überwunden ist und Patienten das Angebot einmal getestet haben, sind sie gleich viel offener dafür, das auch in Zukunft zu nutzen.“

Nur zehn Prozent der Ärzte fühlen sich technisch gut genug gerüstet, um Videosprechstunden anzubieten

Bertelsmann-Studie

Ob diese Nachfrage jedoch gedeckt werden kann, ist eine andere Frage. Die Studie der Bertelsmann Stiftung zeigte unter anderem auch, dass lediglich zehn Prozent der befragten Ärzte sich technisch gut genug gerüstet fühlen, um Videosprechstunden anzubieten. Thomas Kostera, Project Manager im Projekt "Der digitale Patient" bei der Bertelsmann Stiftung, bezweifelt deswegen, dass die gesetzliche Vereinfachung zu einem sprunghaften Anstieg der Angebote führen wird: „Auf der einen Seite ist es natürlich hilfreich, wenn die Praxen im täglichen Geschäft unterstützt werden. Aber zunächst muss eine Bereitschaft dazu da sein, Investitionen in die Technik zu tätigen und die Abläufe in der Praxis darauf einzurichten.“

Und auch die Skepsis, was Konsultationen aus der Ferne angeht, könne nur Schritt für Schritt verschwinden: „Vielen ist vielleicht noch nicht klar, dass Telemedizin keine neue Behandlungsform ist, sondern nur den Prozess verändert“. sagt Kostera. „Natürlich ersetzt sie nicht den Arztbesuch, aber das Arztgespräch über Video kann eine sinnvolle Ergänzung der Behandlung darstellen. Gerade in den Bereichen Dermatologie oder Psychotherapie gibt es da gute Möglichkeiten“.

Was bleibt, ist die Frage nach dem Datenschutz. Wer über das Internet sensible Informationen mit seinem Arzt austauscht, muss die Garantie bekommen, dass seine Daten sicher sind. Katharina Jünger von Teleclinic weiß, dass den deutschen Patienten der Datenschutz extrem wichtig ist. Ihr Unternehmen verschlüsselt seine Daten und operiert als Partner von IBM ausschließlich über deutsche Server. „Alle Projekte, die es bisher geschafft haben, sich in der Telemedizin zu etablieren, haben datenschutzkonforme Lösungen gefunden“, sagt Thomas Kostera dazu.

Mein Arztgespräch zwischen Tür und Angel hat mir jedenfalls definitiv etwas gebracht: Zu Hause angekommen, probiere ich gleich ein paar der Übungen aus und meinen Schreibtischstuhl habe ich auch schon verstellt. Zwar wäre ein Praxisgespräch persönlicher gewesen, aber für meine Zwecke hat es diesmal gereicht – und wer weiß, ob ich die zeitliche Belastung eines Arztbesuchs überhaupt auf mich genommen hätte. Falls allerdings mal etwas Ernsteres ist als das Zwicken im Rücken, würde ich doch beim Gang zum Facharzt bleiben.

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