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Was steckt wirklich hinter dem Cyberkrieg von Anonymous?

von Chris Köver
Kann Anonymous dem IS schaden? Wer sind die Hacker-Aktivisten überhaupt? Arbeiten sie wirklich mit dem FBI zusammen? Und warum sind die Menschen gerade so fasziniert von dem ominösen Netzwerk? Die Übersicht zum Konflikt zwischen Anonymous und den Terroristen.

Können wir Anonymous als Netzwerk überhaupt ernst nehmen?
Der Witz ist gerade unter vielen News-Beiträgen über Anonymous zu lesen — und er hat tausende Likes: „Endlich bekommt der Islamische Staat seine 72 Jungfrauen.“ Der Spruch bezieht sich auf das Klischee des pickeligen Hackerjungen, der einfach keine Freundin abkriegt. So sehen viele Anonymous: Nicht als schlagkräftiges Hacker-Netzwerk, sondern als Kinderscherz. IS-Unterstützer bezeichneten die Aktivisten erst vor kurzem abfällig als „Idiots“.

In jedem Scherz steckt aber ein Funken Wahrheit. Nein, man kann kaum festmachen, wer hinter dem dezentralen Netzwerk Anonymous steckt. Im Grunde kann sich jeder im Comic-Laden eine Guy-Fawkes-Maske kaufen und loslegen — Videos drehen, Programme herunterladen und Teil von massenhaft geführten Angriffen auf Websites werden. Gerade erst haben Anonymous-Legionäre einen „Noob Guide“ veröffentlicht, eine Art Anleitung für Einsteiger, um noch mehr Anhänger für sich zu begeistern. Ein Knopfdruck reicht, um mitzumachen. Wer „Anonymous“ sagt, vergisst gerne, dass es sich dabei nicht um eine geschlossene Gruppe handelt. Maske, Logo und Name sind eher eine Art Franchise-Marke, derer sich jeder bedienen kann.

Also könnten auch ein paar Zwölfjährige die Drohungen gegen den IS online gestellt haben?
Das könnte sein. Aber Anonymous hat durchaus eine Geschichte als Organisation und einen Kern an erfahrenen und fähigen Mitgliedern, die zur Hackerkultur gehören. Sie sind nicht nur in der Lage, Websites vom Netz zu nehmen und Twitter-Accounts zu hacken. Sie können auch Bankkonten einfrieren, Kommunikationskanäle abhören und IS-Zellen enttarnen. Experten gehen davon aus, dass weniger als fünf Prozent der Supporter von Anonymous zu solchen Taten fähig sind.

Dazu gehört etwa die Ghost Security Group, kurz „GhostSec“, eine Gruppe an gut ausgebildeten IT-Spezialisten, von denen einige früher innerhalb von Anonymous aktiv waren. Diese koordinierte Hacker-Gruppe hat sich inzwischen weitgehend von der Marke gelöst und verfolgt eine andere Strategie: Statt Seiten anzugreifen, unterwandert sie systematisch die Kommunikationskanäle des IS und gibt diese Informationen auch an die US-Geheimdienste weiter. In der Vergangenheit sollen dadurch mehrere Anschläge verhindert worden sein. Auf diese Weise Anschläge zu vereiteln, halte man für sinnvoller als Webseiten anzugreifen, sagt ein Mitglied der Gruppe, das sich Digital Shadow nennt.

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Kann Anonymous einer Terror-Organisation wie dem IS schaden?
Das ist derzeit die entscheidende Frage. Bisher hat das Netzwerk bekanntgegeben, es habe tausende IS-Twitter-Accounts gehackt und offline genommen. Social-Media-Kanäle sind für den IS wichtig, weil die Terrororganisation hier ihre Propaganda verteilt. Gleichzeitig wird ein großer Unterschied deutlich.

In der Vergangenheit hat Anonymous in Ritter-des-Rechts-Manier oft Ziele angegriffen, deren moralisch zweifelhafte Taten tatsächlich im Netz stattfanden. So etwa Hunter Moore, der jahrelang eine der größten Revenge-Porn-Seiten im Netz betrieb und sich in der Rolle als „meistgehasster Mann im Internet“ gefiel. Gegen so einen Menschen, der seine Karriere darauf aufbaut, geklaute Nacktfotos von Frauen zu veröffentlichen, um sie zu beschämen, konnte Anonymous tatsächlich ersthafte Treffer erzielen: Mit DDoS-Attacken übernahmen sie die Seite und veröffentlichten gleichzeitig Moores Adresse, Passwörter und sonstige sensible Daten im Netz.

Der IS hingegen verübt seine Gewalt nicht im Netz, sondern kontrolliert inzwischen mit seinem Kalifat ein riesiges Territorium mit schätzungsweise 20.000 bis 32.000 hochgerüsteten Kämpfern. Es ist eine der reichsten militanten Organisationen der Welt. Für seine PR-Maschine und die Rekrutierung neuer Kämpfer ist IS zwar auf Social Media angewiesen. Trotzdem bietet die Organisation für ein Netzwerk von Hackern, deren Waffen sich aufs Digitale beschränken, nur wenig Angriffsfläche. Die derzeitigen „Erfolge“, die Anonymous so stolz bekannt gibt, könnten auf der symbolischen Ebene kleben bleiben.

Dennoch: Der IS ist eine Organisation mit Personalproblemen. „Er ist auf das Internet angewiesen, um Fundraising und Recruitment zu betreiben“, schreibt auch der Journalist Evan Schuman beim Security-Portal CSO. Die Waffen, die die Organisation im Terror benutze, seien teuer und selbst erfolgreiche Operationen forderten viele Opfer. „Recruitment ist von kritischer Bedeutung.“ Hier stört Anonymous und wird weiter stören.

Warum sind die Menschen nach den Anschlägen von Paris so fasziniert von Anonymous?
Der Grund heißt Ohnmacht. Gibt es einen Terroranschlag, kommt als nächstes der Drang zur Reaktion. Seitens der politischen Eliten — und seitens der Gesellschaft. Die Regierungen drängen meist auf Ruhe und Besonnenheit ihrer Bürger, um dann eilig im Inneren Gesetze zu verabschieden, die mehr Sicherheit schaffen sollen. Der Patriot Act nach 9/11 war so ein Gesetz, auch der Versuch, nach dem Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo, die Verschlüsselung von Messengern zu verbieten. Auch die immer neuen Versuche der deutschen Regierung zur Vorratsdatenspeicherung fallen in diese Kategorie, oder auch der mehr als blinde Vorschlag, die Grenzen zu schließen.

Nach außen hin führen Staatschefs gerne Krieg. Eine ganze Generation ist mittlerweile damit aufgewachsen. Afghanistan und Irak nach 9/11, dann Libyen und Syrien. Auch nach Paris fliegen jetzt französische Bomber massive Angriffe auf Raqqa, die Hochburg des IS. Aber wie wehren sich eigentlich die Bürger? Sie suchen einen Schuldigen, wenden sich an Politiker und Organisationen mit falschen Versprechen, wie Pegida sie gibt. Sie klicken Videos mit Kindern an, die ihnen zeigen: „Blumen sind stärker als Waffen“. Und sie unterstützen eine Organisation, von der wir nicht einmal genau wissen, wer sie ist: Anonymous. Zumindest im Symbolischen hat sie so für Aufbruchsstimmung gesorgt, denn ihr Aktivismus scheint die Menschen anzustecken.

Welcher Ideologie folgt Anonymous?
Ideologie ist das falsche Wort für ein derart loses Netzwerk wie Anonymous. „Sie sind Opportunisten, die zuschlagen, sobald sie feststellen, dass ein Ziel von Interesse verwundbar ist“, schreibt Jon Davis bei Forbes über die Hacktivisten. Anonymous operiere in Zellen ohne wirkliche Mitgliedschaft. „Es gibt nur Gruppen von Individuen, die sich manchmal zusammenschließen, wenn jemand einen konkreten Plan fasst oder genug andere überreden kann, zu helfen“, so Davis. „Es gibt keinen Gruppenkonsens, keine Abstimmungen, keine wirkliche Führung, niemanden, der sich verantwortlich zeigt.“

Und demnach auch keine einheitliche Ideologie, auch wenn die Symbolik etwas anderes glauben machen soll. Anonymous wird oft mit der Guy-Fawkes-Maske aus dem Film „V for Vendetta“ illustriert. An das darin vorkommende Gedicht „Remember, remember! The fifth of November“ ist auch die Anonymous-Losung angelehnt: „Wir sind Anonymous. Wir sind Legion. Wir vergeben nicht. Wir vergessen nicht. Erwartet uns.“

Das soll nach einer bedrohlichen, einheitlichen Front klingen, zeigt aber auch, wie zerfasert das Kollektiv ist: eine Legion von Menschen mit völlig unterschiedlichen Wertvorstellungen, die sich nur dann an Aktionen beteiligen, wenn die Wahl des Ziels gerade in ihr Weltbild passt. „Sobald die Operation vorbei ist, löst sich die Gruppe auf“, schreibt Jon Davis, „und man hört nie wieder etwas von ihnen.“ Auch zum Kampf gegen den IS gibt es innerhalb des Netzwerks große Meinungsverschiedenheiten, denn viele Crypto-Anarchisten der Gruppe lehnen jede Unterdrückung von Entwicklungen im Netz ab. Es bleibt also mehr als fraglich, ob Anonymous wirklich der Kämpfer für die gute Sache ist.

Die Geschichte zeigt, auf wessen Seite Anonymous ist
Anonymous tauchten im Januar 2008 auf und bestanden damals in den ersten gemeinsamen Bemühungen von lose miteinander verbundenen Aktivisten gegen einen gemeinsamen Feind: Scientology. Unter dem Banner Anonymous brachten Mitglieder des 4chan-Boards „711chan“ ein Projekt mit dem Namen „Chanology“ auf den Weg. In dessen Rahmen tauchte Ende Januar zum ersten mal eine der berüchtigten Kampfansagen des Netzwerks auf, für die es weltweit bekannt werden sollte. Massenproteste gegen Scientology waren die Folge, auch Angriffe auf die Websites der Sekte und Leaks von internen Informationen.

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2010 launchten Mitglieder des Netzwerks dann #OpPayback. In einer massiven Welle attackierten rund 5000 Programmierer Unternehmen, die zuvor der Whistleblower-Plattform WikiLeaks die Bankkonten eingefroren hatten — darunter Visa, Paypal und Amazon, aber auch das private Bankkonto der Rechtsaußen-Politikerin Sarah Palin. Sie hatte zuvor verlangt, WikiLeaks-Chef Julian Assange zu jagen wie einen Taliban.

2011 gab es dann zum ersten Mal Einsicht in die Blackbox Anonymous — durch den Verrat eines seiner Mitglieder. Hector Xavier Monsegur, alias Sabu, programmierte in der Blackhat-Hacker-Gruppe AntiSec, die innerhalb von Anonymous aktiv ist. Im Januar 2011 wurde Sabu vom FBI überführt und diente den Agenten über Monate als Informant. Das führte zur Verhaftung zahlreicher Aktivisten, die mit dem Netzwerk in Verbindung standen.

Die Aktion stoppte Anonymous nicht. Im selben Jahr wurden die Hacktivisten weltbekannt, nachdem sie die Proteste des arabischen Frühlings unterstützten. Die Gruppe erlangte Momentum auf der ganzen Welt und zog Bewunderer und Anhänger als Trittbrettfahrer an. Anonymous kämpfte an der Seite der Demonstranten in Hong Kong und nahm Seiten des Ku-Klux-Klan aus dem Netz. Die Fawksche Maske war aus den Weltnachrichten nicht mehr wegzudenken.

Im Juni 2014 planen Mitglieder unter verschiedenen Titeln zum ersten Mal Operationen gegen den IS. Ihr Hebel damals: das Geld. Ihr Ziel: Staaten, die den IS finanziell unterstützen. Speziell Saudi-Arabien ist im Visier der Aktivisten.

Wie sieht Anonymous 2015 genau aus?
Mit dem Massaker in der Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo ändert sich das Motto zu #opFrance (andere beziehen sich auf #opISIS). Anonymous-Aktivisten sammelten Tausende von Profilen, die sie mit Terroristen in Verbindung brachten und stellten diese Listen online. Insgesamt, behauptet das Netzwerk, habe es binnen einen Jahres 149 IS-Websites vom Netz genommen, über 100.000 Twitter-Accounts gemeldet und knapp 6000 Propaganda-Videos gemeldet. Gleichzeitig operieren im Netzwerk auch Hacker, die daran arbeiten, die geschützten Kommunikationskanäle des IS offenzulegen.

Es geht dabei auch um einen Kampf um die Deutungshoheit im Internet. Denn gerade Aktivisten bei antistaatlichen Netzwerken wie Anonymous sehen ihre freiheitlichen Grundrechte im Netz und in der Gesellschaft durch den IS-Terror gefährdet. 

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