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Was heißt schon noch „privat“?

von Max Biederbeck
Wer in der Großstadt wohnt, kann sich nicht mehr gegen die allgegenwärtige Vernetzung wehren. Fast jeder Schritt wird aufgezeichnet, jede Gewohnheit dokumentiert. Das macht vielen Menschen Angst. Seit langem gibt es große Debatten über die Frage: Wie können wir unsere Privatsphäre noch schützen? Aber vielleicht sollten wir das gar nicht.

Nach Berlin zu reisen, bedeutet für Heather Moore im Moment mehr als nur Jetlag. Die vergangenen Wochen hat sie in San Francisco verbracht, davor musste sie geschäftlich nach London. Überall fiel ihr auf, wie sich die Städte verändert haben. Wie sich Überwachungskameras in jeden Winkel ausbreiten und Gesichtserkennungs-Software in den Alltag der Stadtbewohner einzieht. In Geschäften, mit Apps und durch das Smartphone des Gegenübers in der Metro. Stadtbewohner tragen heute dutzende zusätzliche künstliche Augen und Ohren.

Der öffentliche Raum wird sich in deutschen Städten bald völlig verändert haben.

Heather Moore

Moores Suche nach einer Antwort begann 2014 auf einem Design-Workshop in Genf. Dort überlegte sie zusammen mit Künstlern und Designern, wie zukunftsfähige Kleidung aussehen könnte, die unsere Privatsphäre auch im öffentlichen Raum einer Smart City schützt. Also einer total vernetzten Stadt, in der das Internet und vor allem das Internet of Things überall sind, Kameras aus jedem Telefon blitzen und Apps die Umgebung abscannen.

Alle versuchen, in der Öffentlichkeit möglichst viele Spuren zu verwischen. Ein Fehler?

Künstler finden immer wieder kreative Antworten auf diese Frage, auch WIRED Germany hat darüber berichtet: Einige wollen mit tausenden kleinen Kameras in der eigenen Kleidung zurückfilmen, andere erschaffen komplizierte Masken, die vor Gesichtserkennung schützen sollen. Und immer heißt die Devise: Wir müssen uns wehren! Auch Moore begegneten zahllose solcher Ideen. Sie waren mehr oder weniger auffällig am Körper verpackt, in umständlichen Anzügen, in Schmuck oder als reflektierendes Make-up. Alle hatten das Ziel, in der Öffentlichkeit möglichst alle persönlichen Spuren zu verwischen und das Sammeln von Daten entweder unmöglich zu machen oder Informationen sofort wieder zu löschen. Ein paradoxes Verhalten, fand nicht nur Moore.

„Die Frage ist doch, was bedeutet Privatsphäre in der Öffentlichkeit heute überhaupt“, sagt die Anthropologin und Expertin für „Movement Research“ Doerte Weig. Sie saß zusammen mit Moore auf einem Podium bei der re:publica 2015 in Berlin. Vielen der gerade entwickelten Ansätze fehle es am richtigen Gefühl für den menschlichen Körper. „Unsere Daten sind Teil unser natürlichen Kommunikation miteinander und das war auch früher schon so“, erklärt Weig. Hier liege das Paradoxon: Um unsere Kommunikation mit anderen zu schützen, versuchen wir, sie zu löschen.

Heather Moore glaubt, dass viele Menschen ihre Daten nicht dauerhaft vernichten, sondern viel mehr wieder besitzen wollen. Es müsse ein Dialog entstehen zwischen denen, die in Zukunft für die Netzwerke und Angebote verantwortlich sind und denen, die sie nutzen. Zwischen Infrastruktur und User. „Wir müssen verstehen lernen, was Privatheit und Öffentlichkeit in einer total vernetzten Welt eigentlich bedeuten. Ist meine Familie privat, meine Bekannten, oder meine Nachbarn? Wer darf welche Daten sehen und benutzen.“

Privatsphäre ist ein Kunstbegriff.

Jérémy Zimmermann

Einen darauf aufbauenden Ansatz verfolgt der Netzaktivist Jérémy Zimmermann von La Quadrature Du Net. „Privatsphäre ist ein Kunstbegriff“, sagt er. Es gehe den Menschen gar nicht um „Privates“, denn das sei längst im Internet aufgegangen — es finde in privaten Gruppen und sozialen Netzwerken genauso statt wie auf der Straße oder im Café nebenan. Es gehe viel mehr um Intimssphäre.

Zimmermann spielt dabei auf ein kürzliches veröffentlichtes Video von John Oliver an. Darin zwingt der US-Polit-Comedian den NSA-Whistleblower Edward Snowden, die Probleme mit Datenmissbrauch anhand von „Dick pics“ zu erklären, Penisbildern also. Mit einer Straßenumfrage in New York hatte Oliver zuvor gezeigt, dass die Menschen nur dann Empfindlich auf den Missbrauch ihrer Daten reagieren, wenn ihre Intimsphäre ins Spiel gebracht wird.

Auch Moore glaubt, dass es vor allem darum geht, den richtigen Intimbereich zu definieren, anstatt in Privatssphäre-Fanatismus zu verfallen. „Es wird einfach nicht viel helfen, in Zukunft den ganzen Tag die Hand vor das Gesicht zu halten, sobald ich aus der Haustüre trete“, sagt sie.

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