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Warum Computercode den Geflüchteten in Deutschland besonders helfen kann

von Lina Hansen
Ein Startupgründer, der einen Geflüchteten ans Programmieren heranführt – ein glücklicher Zufall. Aber auch ein Zeichen dafür, dass Coden als universelle Sprache attraktiv ist für die, die neu in Deutschland ankommen. Mehrere Angebote gibt es deshalb allein in Berlin, aber die IT-Branche stellt dennoch nicht ausreichend ein.

Es begann mit der Küchenplaner-Software an einem Samstag bei IKEA. Der damals 17jährige Saleem Khalil war Monate zuvor aus Syrien geflohen, über Madrid und Frankfurt nach Berlin gekommen. Im September 2016 hatte er Christoph Gerber, Gründer eines IT-Startups in Berlin, über ein Patenschaftsprogramm kennengelernt und mit ihm gemeinsam einen Plan aufgestellt: „Anerkennung meines Abiturs, einen Sprachkurs machen und eine Wohnung finden“. Daneben integrierte Gerber ihn in seinen Freundes- und Bekanntenkreis, nahm ihn mit auf Familienfeste – und zu alltäglichen Ausflügen wie eben an diesem Novembertag mit zu IKEA.

Inmitten des Wochenendwahnsinns beim schwedischen Möbelhaus nutzten die beiden die stundenlange Wartezeit in der Küchenabteilung dazu, sich mit dem Küchenplaner zu beschäftigen. Gerber begann zu erklären, wie so ein Programm funktioniert und welcher Code dahintersteckt – und Khalil wollte mehr wissen. Seitdem kommt er jeden Tag nach der Schule in das Büro von Gerbers Startup, liest PHP-Bücher und bastelt an seiner eigenen, selbstgeschriebenen Website. Die Domain gab es von Gerber und seinen Kollegen zu Weihnachten geschenkt. „Ich habe meinem Bruder die Seite geschickt und er hat mir nicht geglaubt, dass ich die selbst erstellt habe“, sagt Khalil.

Ohne IT-Vorkenntnisse fing Khalil bei Gerbers Startup mit dem Lernen an, mittlerweile hat sich das Programmieren für ihn zur Leidenschaft entwickelt. Eine halbe Stunde pro Tag lässt er sich von Gerbers Kollegen neuen Stoff erklären, den Rest des Nachmittags und manchmal bis in die Nacht hinein sitzt er an seinem Code. Neben der Freude an der Herausforderung bietet ihm das Programmieren eine berufliche Zukunftsperspektive. Damit steht er stellvertretend für viele Geflüchtete in Deutschland, die auf einen Einstieg in die IT-Branche hoffen und mithilfe verschiedenster Angebote bereits erste Programmiererfahrungen sammeln.

Der Bedarf auf dem Arbeitsmarkt ist da: Aktuell werden in Deutschland 51.000 IT-Experten gesucht – der Fachkräftemangel mutet teilweise dramatisch an. „Man muss nicht einmal perfekt Deutsch sprechen. Wenn du Englisch kannst und Lust auf das Thema hast, hast du als Entwickler richtig gute Zukunftsaussichten“, sagt Gerber. Zudem sei bei Geflüchteten aufgrund der Herausforderungen, die sie meistern mussten, eine Bereitschaft da, sich auf Neues einzulassen.

Zum Wesen der Branche gehört ihr stetiger Wandel und der Bedarf nach Arbeitnehmern, die neue Sichtweisen mit einbringen. Und auch Formalia sind weniger wichtig als in anderen Jobs: Die Schul- und Universitätsabschlüsse vieler Geflüchtete werden in Deutschland nicht oder erst nach langem Procedere anerkannt. Was in vielen Bereichen dazu führt, dass gewisse Jobs von vornherein nicht in Frage kommen, ist in der Tech-Branche laut Gerber oft zweitrangig.

Das liege vor allem daran, dass es bei der Suche nach geeigneten Mitarbeitern weniger um deren theoretisches Wissen und mehr um das praktische Verständnis und die Fähigkeit gehe, eine Problemstellung im Sinne des Unternehmens zu lösen. Das lasse sich anders unter Beweis stellen als mit Diplomen. Programmieren zu lernen scheint sich für Immigranten besonders zu lohnen: Die erforderlichen Grundkenntnisse lassen sich bei guter Betreuung mit einem Laptop und zahlreichen kostenfreien Online-Quellen erlernen. Und die Programmiersprachen als Lingua franca der Gegenwart sind auch mit kulturellen Unterschieden der Entwickler universell verständlich.

Der Weg in die IT-Branche, ein erfolgversprechender Versuch für jobsuchende Geflüchtete? Nakeema Stefflbauer, die mit ihrer Initiative FrauenLoop neunmonatige Programmierkurse für Frauen – Deutsche und Immigrantinnen – anbietet, macht auch andere Erfahrungen. Obwohl einige ihrer nicht-deutschen Studentinnen mehrmonatige Praktika absolvieren, finden sie keinen Einstieg. „Viele Unternehmen schmücken sich damit, dass sie auch Immigranten einstellen wollen. Aber sie setzen es einfach nicht um.“ Als Gründe würden dann fehlende Sprachkenntnisse und Bedenken vor kulturellen Schwierigkeiten angeführt, sagt Stefflbauer. „So viele hochqualifizierte Leute, die ich kenne, suchen vergeblich nach einer Festanstellung“, sagt sie und kritisiert: „Man kann doch nicht innovativ sein, wenn man immer auf Diversität verzichtet und damit kaum Input von außen bekommt.“

Stefflbauer ist sich jedoch sicher, dass diese Erkenntnis sich in der Branche durchsetzen wird. Natürlich bilde sie ihre Teilnehmerinnern weiter in allem aus, was für einen Job im IT-Bereich nützlich ist, sagt sie. Denn dahin wollen die meisten ihrer Schülerinnen. Abeer zum Beispiel hat eigentlich Business Administration studiert und sammelte im Jemen in dem Bereich Berufserfahrung. In Deutschland wurde sie von einem Freund motiviert, sich für einen FrauenLoop-Kurs anzumelden. Dass Programmieren etwas für sie sein könnte, lag ihr zunächst fern. „Nakeema hat mir dann erzählt, was ich damit alles machen könnte. Jetzt habe ich den ersten Kurs absolviert und kann mir mittlerweile gut vorstellen, das später auch beruflich zu machen – beides lässt sich sicherlich gut verbinden“, sagt sie auf die Frage, wie sie sich ihre berufliche Zukunft vorstellt.

Stefflbauer ist die Integration von unterrepräsentierten Frauen im IT-Sektor ein besonderes Anliegen. Den freien Zugang zu digitalen Ressourcen für Entwickler sieht sie als großen Vorteil an – auch wenn die Tech-Branche ihrer Meinung nach immer noch nicht inklusiv genug ist: „Als Facebook die Funktionalität des Safety Check eingeführt hat, wurde der für Paris freigeschaltet – nicht aber für Beirut. Die Entscheider müssen gemeinsam der Ansicht gewesen sein, Paris sei wichtiger. Das ist zwar nur ein Beispiel, aber mit solchen Denkmustern wird ein großer Teil der internationalen Community ausgeschlossen. Hat man diverse Teams in der IT-Branche, werden auch diversere Meinungen, Erfahrungen und Hintergründe mit einbezogen. So besteht die Möglichkeit, dass weniger marginalisiert wird – davon profitieren wir letztendlich alle.“

Das weiß man auch bei Facebook. „Wir glauben, dass Technologie Menschen zusammenbringen und einige der drängendsten gesellschaftlichen Herausforderungen lösen kann“, sagte Sheryl Sandberg kürzlich bei der Eröffnung des Digitalen Lernzentrums in Berlin. Im Sony Center am Potsdamer Platz befinden sich die Räume des Lernzentrums, das mit drei Partnerorganisationen zusammenarbeitet. Zu ihnen gehört auch die ReDI School of Digital Integration, gegründet von Anne Kjær Riechert. Hier können Geflüchtete kostenlose Programmierkurse absolvieren und werden auf eine Karriere in der Digitalbranche vorbereitet. „Es geht zum Teil darum, was du weißt, aber auch darum, wen du kennst“, sagt Fadi Zaim, der im ersten Semester auch Student der ReDI-School war und nun dort angestellt ist. Deshalb vermittele die ReDI-School auch Praktika an ihre Studenten – beispielsweise bei SAP, Cisco oder Zalando. So könnten wertvolle Kontakte geknüpft werden, sagt Zaim.

Der Wunsch der Studenten, den Einstieg in die Digitalbranche zu schaffen, ergibt sich nicht nur daraus, dass es so viele freie Stellen gibt. „Technologie umgibt uns jeden Tag und ich will sie mitgestalten“, sagt eine der ReDI-Studentinnen und die anderen nicken zustimmend. Manche Studenten der ReDI-Kurse haben das bereits zu ihrem Beruf gemacht: Sie entwickeln Apps wie Bureaucrazy, die den Weg durch den bürokratischen Dschungel Deutschlands leichter macht oder Startups wie Jasmin Catering, das syrischen Frauen in Berlin zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit verhilft.

Auch Saleem Khalil nutzt seine neu erworbenen Programmierkenntnisse in Gerbers Büro, um denen zu helfen, die hier gerade erst Fuß fassen. Er beschäftigt sich auf seiner Seite mit den Inhalten der Deutschkurse, die für Geflüchtete angeboten werden – und programmiert Quizzes, die andere Geflüchtete auf den Abschlusstest des Integrationskurses vorbereiten.

Wo sich Startups, NGOs und Privatleute engagieren, fehlt vielen jedoch die Unterstützung von offizieller Seite: Als deutlich wurde, wieviele Geflüchtete nach Deutschland kommen würden, erwartete Nakeema Stefflbauer eine Art Plan, eine Vision der Bundesregierung – aber es kam nichts. Stattdessen arbeitet Stefflbauer jetzt mit FrauenLoop an ihrer eigenen Vision.

Dass man selbst aktiv werden muss, damit aber eben auch an Grenzen stößt, erlebte auch Christoph Gerber, der die Situation 2015 zunächst nur aus Australien mitbekam und sofort das Gefühl hatte, „etwas machen zu müssen“. Er hilft gerne, integriert Khalil in die eigene Familie und Freunde und Bekannte tragen ihren Teil dazu bei. Aber: „Es gibt zurzeit keinen Modus, in dem wir jemanden hier anstellen können. Für uns als Startup ist es noch unrealistisch, Ausbildungsplätze oder bezahlte Praktika anzubieten. Dabei geht es mir doch nur darum, die Leute zu fordern und sie zu beschäftigen. Das wird uns von der Bundesregierung nicht gerade leicht gemacht“. Und es geht darum, ihnen eine Zukunft zu anzubieten. Khalil möchte mit dem Programmieren weitermachen. „Vielleicht gehe ich auf eine Fachhochschule, Christoph hat mir gesagt, dass die etwas praktischer ausgerichtet sind“. Aber jetzt muss er erstmal an seinen Quizzes weiterarbeiten. 

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