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Vom Erfolgs- zum Eignungsdelikt: Warum der Stalking-Paragraph geändert werden sollte

von Henning Lahmann
Ständige SMS-Nachrichten und Emails, Nachstellungen, Telefonterror, zerstochene Autoreifen, Liebesbriefe: Stalking macht das Leben der Betroffenen zur Hölle. In den meisten Fällen kommt ihnen allerdings niemand zur Hilfe. Denn nur wer sich seinem Stalker faktisch ergibt, also umzieht oder Schutz vor ihm sucht, bekommt Unterstützung. Dank einer couragierten Bloggerin hat Justizminister Heiko Maas jetzt angekündigt, die Rechtslage zu überprüfen.

Seit zwei Jahren wird Mary Scherpe von einem Stalker verfolgt. Im Namen der Berliner Bloggerin legt er Twitter- und Instagram-Accounts an, schickt ihr SMS-Nachrichten, die sie glauben lassen sollen, er sei in ihrer Nähe, und er lässt Pakete an ihre Adresse senden, die sie nie bestellt hat. Anders als viele Opfer ist Scherpe mit ihrem Fall an die Öffentlichkeit gegangen. Zuerst mit dem Blog Eigentlich jeden Tag, dann mit ihrem Buch „An jedem einzelnen Tag: Mein Leben mit einem Stalker“. Scherpe machte ihre persönliche Geschichte publik und wies damit zugleich auf das Schicksal vieler tausend weiterer Menschen – zumeist Frauen – in Deutschland hin. Zuletzt ging sie aber noch einen Schritt weiter: Auf der Plattform change.org startete sie eine Petition, um eine Änderung des sogenannten Stalking-Paragraphen zu erreichen.

Erst seit 2007 ist „Nachstellung“, wie es im Strafgesetzbuch heißt, überhaupt ein Straftatbestand. Von der Einführung versprach sich die Politik, Stalking-Opfer besser zu schützen. Nicht zuletzt der Fall Mary Scherpe zeigt allerdings, dass es mit dem Opferschutz nicht weit her ist. Im Jahr 2010 zum Beispiel wurden insgesamt 21.698 Personen wegen Stalkings angezeigt. Lediglich in 748 Fällen kam es anschließend überhaupt zu einer Anklage durch die Staatsanwaltschaft, 414 Täter wurden rechtskräftig verurteilt.

Nur 414 von knapp 22.000 Stalking-Anzeigen wurden  verurteilt

Woher kommt dieser krasse Gegensatz, der sich sonst nirgends im Strafrecht findet? Untersuchungen zufolge werden die meisten Verfahren schlicht deshalb schnell wieder eingestellt, weil kein ausreichender Grund zur Anklage festgestellt werden kann. Die Erklärung ist einfach: Stalking ist ein sogenanntes Erfolgsdelikt. Das heißt: Es reicht nicht aus, dass der Täter etwas tut, was unter Stalking fällt. Strafbar wird die Sache erst, wenn das Opfer zusätzlich nachweisen kann, dass dadurch die eigene Lebensführung schwerwiegend beeinträchtigt wird. Bislang reicht dafür nicht aus, dass Betroffene angeben, unter Panikattacken und Angstzuständen zu leiden oder andere psychische Verletzungen davongetragen haben. Um den Anforderungen des Gesetzes als Opfer zu genügen, müssen sie sich vielmehr erkennbar zu Konsequenzen gedrängt gefühlt haben – zum Beispiel indem sie ihre Wohnung oder ihren Job gewechselt haben.

Diese Hürde ist vom Gesetzgeber durchaus beabsichtigt. Denn die Politik hatte Angst, eine zu weit gefasste Definition des Stalkings könne zu einer Vielzahl ungerechtfertigter Verurteilungen von Menschen führen, die von hysterischen oder gar böswilligen, also nur vermeintlichen Opfern angezeigt worden waren. Für tatsächlich Betroffene aber ist dies offensichtlich ein großes Problem. Und wie die Zahlen zeigen, allzu oft sogar ein unüberwindbares. Dieser Umstand hat zu einer widersinnigen Situation geführt: Die Einführung der Strafvorschrift sollte ja gerade verhindern helfen, dass ein Stalking-Opfer durch die Handlungen des Täters nicht mehr frei über das eigene Leben entscheiden kann. Doch genau dazu muss es bereits gekommen sein, damit die Staatsanwaltschaft überhaupt eingreifen kann.

Nur wer die Mittel hat, umzuziehen oder seinen Job zu kündigen, kann dem Richter „beweisen“, dass  gestalkt wurde.

Darüber hinaus ist die Regelung ungerecht: Durch sie sind nicht nur diejenigen besonders betroffen, die sich beharrlich weigern, ihren kompletten Alltag über den Haufen zu werfen, aber möglicherweise trotzdem nachhaltig psychisch geschädigt werden. Es gibt auch keine Lösung für diejenigen, die es sich schlicht finanziell nicht erlauben können, den Job aufzugeben oder eine neue Wohnung zu suchen, nur um einem Richter „beweisen“ zu können, dass sie unter strafwürdigem Stalking leiden. Darunter könnten potenziell etwa alleinerziehende Mütter ohne großes Einkommen fallen.

Das ist kein reines Gedankenspiel. Denn in mehr als der Hälfte aller Fälle ist der Täter ein Ex-Partner des Opfers. Zwar gibt es neben der Anzeige noch die Möglichkeit, vor das Familiengericht zu ziehen, um die Anordnung einer Kontaktsperre zu erreichen. Aber auch den dafür nötigen anwaltlichen Beistand muss man sich leisten können. Außerdem erweist sich diese Maßnahme häufig als zahnlos: Gerade Stalker entwickeln im Laufe der Zeit oft erstaunliche kriminelle Energien, gegen die eine zivilgerichtliche Aufforderung irgendwann kaum mehr etwas ausrichten kann. Das Strafecht ist das deutlich schärfere Schwert.

Der Stalking-Paragraph ist bisher nicht geeignet, die Opfer zu schützen.

Dass der Stalking-Paragraph in seiner gegenwärtigen Form kaum geeignet ist, wirklich etwas für die Opfer zu erreichen, hat sich nicht erst seit Mary Scherpes Initiative herumgesprochen. Die Forderung nach einer grundlegenden Reform wird lauter und auch von einigen Bundesländern unterstützt. Eine Lösung könnte sein, die Strafvorschrift vom Erfolgs- zum sogenannten Eignungsdelikt umzuwandeln. Das würde bedeuten, dass ein Stalker sich schon strafbar macht, wenn seine Handlungen lediglich geeignet sind, die genannten schweren Folgen für das Opfer zu verursachen. Eine solche Änderung wäre für das deutsche Strafrecht nichts Ungewöhnliches: Auch jemand, der stark angetrunken Auto fährt, begeht eine Straftat, ganz gleich, ob während der Fahrt tatsächlich jemand anderes verletzt oder auch nur ernsthaft gefährdet wurde. Und in Österreich ist der Straftatbestand des Stalkings schon seit 2006 entsprechend ausgestaltet.

Genau auf eine solche Neuformulierung zielt Scherpes Petition. Und ganz langsam gibt es Hoffnung, dass auch Bundesjustizminister Heiko Maas die Dringlichkeit der Sache begreift. Auf seiner Facebook-Seite reagierte er auf Scherpes Initiative. Er schrieb dort: „Die Petition greift ein Thema auf, das bereits im Koalitionsvertrag von CDU und SPD Berücksichtigung gefunden hat. (...) Der Schutz von Stalking-Opfern ist der Bundesregierung ein wichtiges Anliegen. Wir prüfen derzeit, wie die konkrete juristische Umsetzung der Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag erfolgen kann.”

Allerdings gibt es auch Gegenwind: Nicht alle Juristen teilen die Ansicht, es bestehe Änderungsbedarf. Gerne behaupten diese zumeist männlichen Kollegen, die hohe Zahl der Anzeigen gegen Stalker sei in erster Linie einem grassierenden Medienhype geschuldet. Und überhaupt: Wer vermeiden wolle, als Stalking-Opfer zu enden, der müsse eben besser aufpassen, mit wem er sich einlässt. Dabei ist es genau solches victim blaming, das auch dem Letzten klar machen sollte, dass eine Reform tatsächlich dringend nötig ist. Denn natürlich ist schwer vorauszusehen, ob eine Änderung des Paragraphen in ein Eignungsdelikt wirklich zu mehr Verurteilungen wegen Stalkings führen würde. Ganz sicher aber nähme es die Last von den Opfern, ihr gesamtes Leben umkrempeln zu müssen, nur um den Gerichten zu beweisen, wie sehr sie unter den Nachstellungen leiden. Allein deshalb ist ein Handeln im Sinne Mary Scherpes unbedingt geboten.

Henning Lahmann ist freier Mitarbeiter bei iRights

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