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Was braucht Virtual Reality, um wirklich zu begeistern?

von Karsten Lemm
In den Kopf gestellt: VR schafft nie da ge­wesene Erlebnisse in künstlichen Welten. Doch so beeindruckend die Technologie ist – zunächst muss sie gegen den eigenen Hype bestehen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im April 2017 und ist Teil des Entertainment Specials. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

Gigantisch, dieser Ausblick. Da drüben am Horizont die Berge von St. Moritz mit schneebedeckten Kuppen, links ein paar Ausflügler und direkt vor den Füßen – ein Abgrund. Jetzt nur kein falscher Schritt, sonst droht der Sturz in die Tiefe. „Fantastisch!“, ruft Justin East. „Diese Landschaft, die Rundumsicht und dazu das Gefühl von Höhe und Gefahr: Mein Herz rast!“

East nimmt die Virtual-Reality-­Brille ab und lacht vergnügt. Ein Spektakel genau dieser Art hatte sich der 50-jährige Brite für seinen Besuch beim Fraunhofer-Institut in Nürnberg erhofft. Als Kreativ-­Chef des Freizeitpark-Betreibers Merlin Entertainments sucht East immer neue Wege, um Besucher unterhaltsam in fremde Welten zu entführen – und das Holo­deck­VR-­System, das er gerade ausprobieren durfte, sieht vielversprechend aus. 

„Ich möchte Abenteuer erleben, die bisher nie möglich waren“, sagt East. Mit Virtual Reality (kurz: VR) könnte das gelingen: im einen Moment über den Mond spazieren, im nächsten durch Spielzeuglandschaften laufen – für das Unternehmen aus London, dem unter anderem die Legoland-Parks und Madame Tussauds gehören, böte VR ­schier unendliche Möglichkeiten, Erlebnisse zu schaffen, die Youtube und TV alt aussehen lassen.

Zunächst aber muss die Technologie zeigen, dass sie alltagstauglich ist. Seit Jahrzehnten arbeiten Forscher daran, dem Gehirn mit Rechenmaschinen eine alternative Wirklichkeit vorzutäuschen – mit 360-­Grad-­Bildern, die das Umschauen in alle Richtungen zulassen, und so lebensecht, dass Nutzer sich in der Digitalwelt bewegen können wie in ihrer eigenen.

Diese Herausforderung ist alles andere als gelöst. Noch immer verlangt VR viel Aufwand und die Bereitschaft zu Kompromissen. Grundbedingung ist eine Brille, die Stör­signa­le aus der Realität ausblendet und direkt vor dem Auge des Betrachters künstliche Landschaften entstehen lässt. Mobile Systeme wie das HolodeckVR arbeiten mit Smartphones als Display. Das bedeutet, sie müssen mit geringer Rechenpower auskommen, und die Bilder zeigen Pixelmuster – andererseits können Nutzer sich frei bewegen. 

Komplexere Illusionen verlangen den Grafikchips so viel ab, dass die Brillenträger an Kabeln hängen, weil der  PC bis zu 120 Bilder pro Sekunde berechnen und jedem Auge einen eigenen Blickwinkel präsentieren muss, um räumliche Tiefe zu erzeugen. Das gelingt nur High-End-­Systemen, bei denen für Brille und PC mehr als 1000 Euro zusammenkommen. 

Kein Wunder, dass 2016 gerade mal 6,3 Millionen Head­sets weltweit verkauft wurden, wie der Marktforscher Super Data schätzt. Der Großteil davon entfiel auf die billige, aber vergleichsweise schlichte Samsung Gear-­VR-Brille. Die Stars der Szene, Playstation VR, Oculus Rift und HTC Vive, tun sich bisher deutlich schwerer. 

Ähnlich wie das Kino in seinen Anfängen ist Virtual Reality gerade dabei, seine eigene Sprache zu finden

Alle locken mit hoch auflösenden Displays und präziser Ortsbestimmung der Nutzer im Raum, dem sogenannten Tracking – eine Grundbe­dingung für anspruchsvolle VR-Anwendungen. Doch kosten sie auch ein kleines Vermögen und sprechen bisher vor allem leidenschaftliche Gamer und Firmen an. Die einen wollen als Erste bei den jüngsten Spiele-Abenteuern dabei sein, die anderen eine Technologie testen, die Hotelgästen schon vor der Reise zeigen könnte, was sie am Urlaubs­ort erwartet, oder wie es wäre, die Akropolis zu besuchen, als sie noch heil war.

„An VR knüpfen sich enorme Hoffnungen“, sagt Timm Lutter, Entertain­ment-Experte bei Bitkom. Der Digitalverband rechnet in Deutschland schon für 2020 mit einem Umsatz von mehr als einer Milliarde Euro. Ähnlich optimistisch zeigt sich Werner Ballhaus von der Unternehmensberatung PwC: „Das Potenzial der Virtual-­Reality-Technologie ist riesig – vielleicht sogar vergleichbar mit dem Smartphone. 2017 und 2018 könnte der endgültige Durchbruch kommen.“
Soll das gelingen, muss nicht nur die Hardware besser und billiger werden, sondern es braucht vor allem eines: packende Inhalte. „Wer einmal Virtual Reality ausprobiert hat, ist begeistert und will mehr davon“, sagt Lutter. Mit 500 Millionen Dollar will allein Oculus die Produktion von VR-Anwendungen unterstützen – auch wenn die Facebook-Tochter mangels Interesse gerade 200 Demo-­Stationen im US-Handel dicht machen musste. 

Der Mainstream wird sich auf VR stürzen

Jules Urbach

Dass die verführerische Technologie am Ende Erfolg haben wird, ist für viele aber nur eine Frage der Zeit. „Der Mainstream wird sich auf VR stürzen, wenn es unwiderstehliche Erlebnisse gibt, an die man anders nicht herankommt“, glaubt etwa ­Jules Urbach, Mitgründer des Grafikspezialisten Otoy. Dutzende von Spielen und Filmen zeigen bereits, dass die Technologie das Zeug hat, ihre Nutzer zu verzaubern. „Im besten Fall fühlt VR sich an wie reine Magie“, schwärmt das Magazin „New Yorker“. 

Filmemacher stehen dabei vor der Frage, wie sie in einem Medium Geschichten erzählen können, das es dem Publikum erlaubt, sich nach Belieben umzuschauen und in die Handlung einzugreifen. „Über den Ton lässt sich viel machen, um die Aufmerksamkeit zu lenken“, erzählt der Berliner Regisseur Cyril Tuschi, der mit VR experimentiert. Feste Regeln gibt es dabei nicht: „Weltweit hat noch keiner einen Schimmer“, sagt Tuschi. Ähnlich wie das Kino in seinen Anfängen ist Virtual Reality gerade dabei, seine eigene Sprache zu finden. 

Und wer weiß, ob Menschen eine Technologie, die mit ihren Sinnen spielt, lieber zu Hause genießen, in der Sicherheit ihrer Wohnung – oder im Gegenteil als gesellschaftliches Ereignis? Bei ersten Gemeinschafts-Projekten wie dem gefeierten Ghostbusters Dimen­sion ist die Zahl der Teilnehmer noch auf wenige beschränkt. Fraun­hofers HolodeckVR dagegen könnten bis zu 120 Menschen gemeinsam nutzen, so versprechen es die Entwickler. 

Die Demo­­-Anwendungen sind un­spektakulär, zeigen aber, was möglich ist. „Wenn man mit anderen interagieren kann, das hat was“, sagt Justin East. Schon ein virtueller Café-­Besuch begeisterte ihn so sehr, dass er – noch mit der Brille auf der Nase – zu einem Kollegen lief. „Ich sah ihn als kleines grünes Männchen, und er war in einer ganz anderen Welt unterwegs, aber ich habe ihn mir einfach geschnappt und gesagt: ,Komm, wir gehen ins Café!‘“
East muss lachen: Ein ganz simples Erlebnis eigentlich, in der wirklichen Welt zumindest. In der virtuellen hat es ihm schlicht den Kopf verdreht.

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