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Das goldene Zeitalter der Brettspiele hat begonnen

von Dominik Schönleben
Brettspiele sind dabei, ihre Nische zu verlassen und den Massenmarkt zu begeistern. Innovative Spieleerfinder wie Christian T. Petersen treiben den Boom an. Sein Know-how verdankt der amerikanische Gründer der deutschen Spieleszene – und die muss aufpassen, sich nicht abhängen zu lassen. Eine Analyse von Dominik Schönleben.

Christan T. Petersens Startup hatte eine Marktlücke entdeckt: In den 90er Jahren übersetzte fast niemand europäische Comics für ein amerikanisches Publikum. Petersen wollte die Alternative zu den Superhelden-Comics von Marvel und DC sein. Lucky Luke, Asterix, Tim und Struppi – was hierzulande längst ein Massenhit war, musste auch in den USA funktionieren. Tat es aber nicht: „Es war eine sehr, sehr finstere Zeit. Wir hatten viel Enthusiasmus, gingen dann auf eine große Messe und verkauften drei Hefte“, sagt Petersen.

Sein Unternehmen stand kurz vor dem Bankrott; dann kam der Pivot, wie man im Silicon Valley sagt: der Moment, in dem Petersen erkannte, dass sein Unternehmen noch zu retten war – mit Brettspielen. Denn im Gegensatz zu Comics verkauften die sich auf den Messen gut. Nur eben an den Nachbarständen.

Petersen setzte alles auf eine Karte: Er entwarf eines der ambitioniertesten Brettspiele dieser Zeit. Es war groß – nein riesig –, eine Weltraumoper zum Spielen. Mit menschenähnlichen Löwen und pangalaktischen Schildkröten. Mit Hunderten Figuren und Karten und fünf Stunden Spieldauer pro Partie. Twilight Imperium war teuer und verrückt. Aber es konnte etwas, das viele komplexe Strategie-Spiele dieser Zeit nicht schafften: eine Geschichte erzählen und die Fantasie anregen.

Am ersten Tag auf der nächsten Messe verkaufte Petersen mehr als hundert Exemplare. Und Twilight Imperium rettete 1997 nicht nur Petersens Zwei-Mann-Unternehmen Fantasy Flight Games, sondern machte ihn in den Folgejahren zu einem der einflussreichsten Männer der Brettspiel-Welt. Eine Welt, die dabei ist, ihre Nische der kruden Weltraum-Opern zu verlassen und ein Massenpublikum zu begeistern.

Das goldene Zeitalter der Brettspiele hat begonnen: Jedes Jahr knacken die meisten Neuheiten auf der weltgrößten Brettspielmesse SPIEL in Essen neue Rekorde. Analysten von Research and Markets sagen voraus, dass der internationale Umsatz analoger Spiele bis 2022 Jahr für Jahr um neun Prozent wachsen wird.

Verantwortlich für diesen Boom sind jedoch nicht in erster Linie amerikanische Firmen: „Die deutschen Spiele kamen zu uns und starteten einen Kult von Brettspiel-Enthusiasten“, sagt Petersen. Deutschland exportiere einen Trend, und der ist jetzt dabei, leicht verändert wieder zurück in sein Heimatland zu kommen.

Während in Amerika das Spielen bis heute als nerdig und kindisch gilt, gab es in Deutschland stets einen Markt auch für Erwachsene. Diese Produkte lebten zwar auch in den 90er Jahren vorwiegend in einer Nische, waren aber ein Hobby wie viele andere. Spieleabende standen in einer Reihe mit Angeln, Modelleisenbahnen oder Gartenarbeit.

Während in Deutschland gesiedelt und gebaut wurde, waren die Amerikaner auf der Jagd nach Drachen und Science-Fiction-Monster. Petersens Twilight Imperium ist das beste Beispiel dafür. Es ist fast zeitgleich mit dem deutschen Klassiker Die Siedler von Catan erschienen (heute: Catan). Beide weisen auf den ersten Blick einige Ähnlichkeiten auf: Auf sechseckigen Feldern wurde um Ressourcen und Punkte gestritten. Bei Catan siedelten aber keine Aliens, sondern bodenständige, nicht näher beschriebene Pioniere mit schlichten Holzhäuschen. Und Krieg gab es auch keinen.

„Amerikanische Spiele waren auf Immersion fokussiert“, sagt der renommierte Spieledesigner Eric M. Lang. Damit meint er, dass vor allem versucht wurde, das Thema eines Spiels zu transportieren. Durch die Illustrationen, Figuren und Mechaniken sollte sich der Spieler so fühlen, als sei er tatsächlich in eine andere Welt transportiert worden. Was dabei auf der Strecke blieb: die strategische Tiefe. Meist entschied allein der Würfel über Sieg und Niederlage. Abfällig werden Spiele aus dieser Zeit deshalb heute als Ameritrash bezeichnet. Sie sahen toll aus, das eigentliche Spiel hinter der Aufmachung war in den Augen der Kritiker aber Müll.

Spiele aus Deutschland waren eine Offenbarung für viele amerikanische Fans: Sie sahen langweilig aus, entpuppten sich aber als Dauerbrenner. Ihre simplen Regeln machten sie zugänglich, und dennoch gab es strategische Tiefe. Das bereits erwähnte Catan war der erfolgreichste Titel: Mit mehr als 22 Millionen weltweit verkauften Exemplaren.

Das Spiel hatte so viel Einfluss auf die amerikanische Popkultur, dass es sogar einen Auftritt in der Hit-Serie Big Bang Theory bekam. Und die im Ausland sogenannten German-style board games (auch: Eurogames) werden heute von Filmstars und Silicon-Valley-Gründern gezockt. „Die Ankunft von Die Siedler von Catan veränderte Nordamerika wie kein anderes Spiel“, sagt Lang. „Nicht einmal Magic: the Gathering oder Dungeons & Dragons hatten so viel Einfluss.“

Eric M. Lang gehört zu einer neuen Generation von Spieledesignern, die jetzt zwei Welten zusammenbringen: „Mit Spielen ist es wie bei Musik. Für mich gibt es keine nationalen Grenzen. Was wir als Eurogame bezeichnen, ist eigentlich eine Disziplin.“ Die Spiele von Lang sehen zwar aus wie Ameritrash, spielen sich aber wie Titel aus Deutschland oder Europa. Sie werfen die beiden Design-Philosophien zusammen. Und das hat Brettspielen jetzt den Schub gegeben, um sie für den Massenmarkt zugänglich zu machen.

Auf diesem Prinzip baute auch Christian T. Petersen seinen Erfolg auf: Sein Startup Fantasy Flight Games war eines der ersten Unternehmen, die hier eine große Chance erkannten: „Unsere Spiele haben versucht, die Philosophie von amerikanischen Spielen mit der deutschen Denkweise zu verbinden.“ Dabei gelang Petersen ein Glücksgriff: Fast zehn Jahre vor dem Hype um die Serie Game of Thrones kaufte er die Lizenz an der Romanreihe, weil er einfach eine gut ausgearbeitete Fantasy-Welt für seine Spiele suchte. Davon profitiert Petersen noch heute – gemeinsam mit dem Autor George R.R. Martin, der einer der ersten Investoren des damals winzigen Startups war.

Eric M. Lang entwickelte zusammen mit Petersen die erste Auflage des Game-of-Thrones-Kartenspiels, bevor er dann 2017 zur Firma CMON wechselte. Brettspielfirmen funktionieren in den USA eher wie Videospielstudios, bei denen kleine Teams an einer neuen Idee basteln. In Deutschland betrachten sich viele Spieleentwickler hingegen als Künstler oder Erfinder: Ähnlich wie Schriftsteller schlagen sie ihr nächstes Werk zunächst großen Verlagen vor.

Ein gutes Bespiel für einen solchen Autor ist Reiner Knizia. Der 59-Jährige ist der erfolgreichste deutsche Spieleautor – zumindest, wenn es nach der Zahl seiner veröffentlichten Titel geht. Mehr als 600 hat Knizia bereits erfolgreich lanciert. Der ehemalige Investment-Banker ist quasi selbst zu einer Art Marke geworden, obwohl auch bei ihm andere Menschen im Hintergrund mitwerkeln: „Es muss ja vorne auf der Schachtel ein Name stehen“, sagt Knizia.

Vor der Wand von Knizias Arbeitszimmern stehen mehrere Regale mit kleinen Schubladen. In jedem Fach steckt ein Prototyp, eine Idee für ein neues Spiel. Jeden zweiten Tag trifft Knizia sich mit Freunden und Kollegen, um sie zu testen. Er glaubt, dass viele Klassiker, die heute noch gespielt werden, längst veraltet sind, und es eigentlich bessere Alternativen gibt. Trotzdem sind diese Titel wie Monopoly, Mensch ärgere dich nicht und Schach den Deutschen am besten bekannt. Das zeigte zuletzt auch eine Studie von Splendid Research. Knizias Spiele wie Keltis, Orongo oder Drachenhort kennt hingegen kaum jemand hierzulande mit Namen.

Eine gute Meinung hat Knizia von den Klassikern nicht: „Die fangen langsam an. Bis dann irgendwann etwas passiert, dauert es lange.“ Wer sich schon mal stundenlang bei einer Partie Monopoly gelangweilt hat, weiß, warum viele Menschen ein schlechtes Bild von Brettspielen haben – zu recht: Mathematiker von der amerikanischen Cornell University haben berechnet, dass zwölf Prozent aller Partien endlos weitergehen, wenn niemand vorzeitig aus Wut den Tisch umwirft. Beim Wort Brettspiel also an Monopoly von 1933 zu denken ist ein bisschen so, wie bei Videospiele an pixelige Atari-Games zu denken.

Gegen dieses schlechte Image kämpft die ganze Branche. Aber mittlerweile mit internationalem Erfolg: Petersens Startup Fantasy Flight Games fusionierte 2014 mit dem französischen Spieleverlag Asmodee. Der hatte bereits in den vergangenen Jahren weltweit ein gutes Dutzend kleinere Studios aufgekauft. So hat sich Asmodee als einer der großen vier Riesen-Verlage etabliert – neben Hasbro, Mattel und Ravensburger.

Petersen wurde durch die Fusion zum CEO von Asmodee Nordamerika – und damit zu einem der wichtigsten Entscheider auf diesem Markt: „Ich komponiere die Musik nicht mehr und spiele kein Instrument. Aber von Zeit zu Zeit muss ich dirigieren“, sagt Petersen. Selbst sein Baby, die im Dezember erschienene vierte Neuauflage von Twilight Imperium, gab Petersen in die Hände seiner Top-Designer. Zwar steht noch immer sein Name auf der Schachtel, doch auch Petersens Meisterwerk von 1995 musste mit der Zeit gehen.

Der Erfolg von Asmodee wurde spätestens 2017 in Essen auf der weltgrößten Brettspiel-Messe greifbar. Von den insgesamt sieben Hallen besetzte der Brettspiel-Titan fast eine ganze für sich allein. Mit riesigen Werbebannern, die bis zur Decke reichten, und gigantischen Bildschirmen, auf denen Trailer in Dauerschleife liefen. Eine Inszenierung, die fast schon an die weltgrößte Videospielmesse Gamescom denken ließ. Verständlich, wenn man die Zahlen betrachtet: Der Umsatz von Asmodee hat sich nach eigenen Angaben in den letzten vier Jahren mehr als verdreifacht und lag allein in Deutschland 2017 bei knapp 20,2 Millionen Euro und mehr als 1,8 Millionen verkauften Spielen.

Ein Grund für den Erfolg der Brettspiele könnte auch die Überdrüssigkeit vieler Menschen für das Digitale sein. Nach einem Arbeitstag am Bildschirm und dem ständigen Blick aufs Smartphone wollen viele Menschen vielleicht einfach bei etwas Analogem entspannen. Mit Menschen in direktem Austausch stehen, anstatt nur über den Facebook-Messenger. So bieten Brettspiele sich als Alternative für all jene an, die durch Videogames ihre Liebe zum Spielen entdeckt haben – aber einfach mal weg vom Monitor wollen.

Wie weit kann dieses Wachstum gehen? Petersen vermutet, der Boom könnte zu einer Blase werden, für die auch seine Firma mit verantwortlich ist: „Die Preise für Brettspiele in den letzten Zehn Jahren sind ein riesiges Problem. Sie sind einfach zu niedrig“, sagt er. Damit denkt Petersen zurück zu seinem ersten Hit Twilight Imperium. Ein ambitioniertes Erlebnis für echte Fans mit zahllosen Figuren und Tokens kann eben nicht zum Preis eines Die Siedler von Catan über den Ladentisch gehen. Viele Kunden hätten aber eben die Erwartung, dass ein Spiel nicht mehr als 30 Euro kosten darf. „Wir sind eine Firma, die Geschichten und Erlebnisse über Brettspiele transportiert“, sagt Petersen. 150 Euro für die vierte Edition von Twilight Imperium klingt da mehr als ein bisschen gewagt.

Obwohl es schnell so wirken mag: Die innovativsten Brettspiele kommen heute nicht nur aus Amerika. Auch hierzulande arbeiten Autoren an neuen Ideen: Kennerspiel des Jahres – einer der prestigeträchtigsten Brettspielpreise der Welt – ging 2017 etwa an das Ehepaar Inka und Markus Brand für ihre EXIT-Das-Spiel-Reihe. Die beiden hatten den Escape-the-Room-Trend in die Brettspielwelt übertragen. Und damit auch eines dieser Erlebnisse geschaffen, von dem Petersen spricht. Nur eben zum Preis von zwölf Euro.

Die Deutschen sollten dennoch aufpassen, dass ihnen Amerikaner wie Eric M. Lang und Christian T. Petersen nicht mit etwas den Rang ablaufen, das sie ihnen selbst beigebracht haben. Das letzte Mal endete das nicht so positiv: Wir exportierten die Wurstsemmel und bekamen dafür das Subway-Sandwich zurück.

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