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„Heute posen im Internet nur noch die Gewinner“: Autorin Titiou Lecoq im Interview

von Gero Günther
In Frankreich gilt Titiou Lecoq als Bloggerin der ersten Stunde. Inzwischen ist die 36-jährige auch als Romanautorin erfolgreich. In ihrer „Theorie des Marmeladenbrots“ geht es um drei junge Pariser, die sich im Netz besser zurechtfinden als im echten Leben. WIRED sprach mit Lecoq über das Buch, ihren kurzweiligen Spaß mit YouPorn und ein verlorenes Internet.

Mit ihrem Blog girls and geeks ging es los. Titiou Lecoq berichtet darin seit Jahren von ihren Erlebnissen im Internet, ihren sexuellen Erfahrungen und dem Alltag in Paris. Intelligent, humorvoll und zuweilen recht drastisch kommentiert die studierte Literaturwissenschaftlerin das soziale und politische Geschehen in Frankreich.

2011 veröffentlichte Lecoq ihren Debütroman. „Les Morues“ („Kabeljau“), er verkaufte sich mehr als 100.000 Mal und bescherte der Pariserin eine stetig wachsende Fangemeinde. Nun ist „La Theorie de la tartine“ auf Deutsch erschienen: „Die Theorie des Marmeladenbrots“ ist ein Pop-Roman, der von dem Gefühl erzählt, wenn einem das Lieblingsspielzeug unter der Nase weggeklaut wird.

Die ewige Studentin Marianne, Christophe, ein verarmter Web-Journalist, und Paul, ein von seinen Eltern genervter 19-jähriger Hacker, begegnen sich darin in einem Chat. Bei dem Versuch, einen Sexfilm aus der Welt zu schaffen, den Mariannes Ex aus Rache auf YouPorn gestellt hat, entsteht eine Freundschaft fürs Leben. Was die drei liebenswerten Loser verbindet, ist die Tatsache, dass sie mit dem Netz besser klarkommen als mit ihrem sogenannten echten Leben. Doch leider ist auch das Web bald nicht mehr das, was es einmal war. Hilflos muss das Trio dabei zusehen, wie das Projekt ihrer Jugend kaputt geht.

WIRED: „Die Theorie des Marmeladenbrots“ ist ein klassischer gedruckter Roman über ein rein digitales Thema. Wie passt das zusammen?
Titiou Lecoq: Beim Netz handelt es sich ja auch zum Großteil um etwas Geschriebenes. Außerdem hat es mir Spaß gemacht, mit dem neuen Genre des Chats zu arbeiten. Ein Chat ist weder wirklich gesprochen, noch geschrieben. Eine Zwitterform. Klassische Literatur trifft die Pop-Kultur des Netzes. Passt doch.

WIRED: Dein Roman ist also eine Hommage an den Online-Chat?
Lecoq: An seine Nutzer eher. Die Leute, die sich vor 15 Jahren im Netz tummelten, waren dort nicht zufällig unterwegs. Sie unterschieden sich voneinander, aber sie hatten eines gemeinsam: Man fühlte sich in der „wirklichen“ Welt nicht sehr wohl. Es gab einen starkes Gemeinschaftsgefühl. Die Menschen saßen lieber vor ihrem PC, um mit Unbekannten zu diskutieren, als sich auf einer Party von sozialen Codes und scheinheiligen Regeln einschränken zu lassen.

Instagram ist das soziale Netzwerk der Gewinner. Genau das Gegenteil davon, was das Internet noch vor ein paar Jahren verkörperte.

WIRED: Diese Zeiten, das schreibst du auch in deinem Roman, scheinen ja vorbei zu sein.
Lecoq: Eine der traurigsten Veränderungen im Netz ist meiner Meinung nach, dass man sich früher seine Schwächen eingestanden hat, während es heute größtenteils darum geht zu zeigen, was für ein geniales Leben man doch führt. Deshalb hasse ich Instagram. Das ist für mich das soziale Netzwerk der Gewinner. Genau das Gegenteil davon, was das Internet noch vor ein paar Jahren verkörperte.

WIRED: Stimmt, deine Protagonisten sind nicht gerade Gewinner-Typen. Paul verdient sein Geld in deinem Roman mit einer Offshore-Briefkastenfirma, die Penis-Pumpen verhökert.
Lecoq: Diese Geschichte ist wirklich passiert. Ein Freund von mir gründete dieses Business vor langer Zeit tatsächlich. Es ist faszinierend, wie leicht es ist, ein Bankkonto am anderen Ende der Welt von seinem Sofa aus zu eröffnen. Das Thema passt ja gerade ganz gut. Wusstest du, dass 95 Prozent der Franzosen, die in den Panama Papers namentlich gelistet sind, ganz normale Bürger sind: Ärzte, Beamte und so weiter?

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WIRED: Also ist Paul ein Prototyp für viele?
Lecoq: Er erwartet nichts von der Gesellschaft, er lehnt sie ab, sieht es überhaupt nicht ein, Steuern zu bezahlen oder sich in irgendeiner Form zu beteiligen. Immer mehr meiner Freunde weigern sich, zur Wahl zu gehen. Die kratzt das nicht mehr. Ein eindeutiges Zeichen für eine Spaltung der Gesellschaft, wenn immer mehr Menschen das Spiel nicht mehr mitspielen.

Im Netz geben wir Wohnungen und Möbel weiter. Wir kommen schon zurecht, vom Staat wird nichts mehr erwartet.

WIRED: Flucht ins Internet also?
Lecoq: Ich glaube auch, dass die sozialen Netzwerke eine andere Art von Solidarität erschaffen, die sich parallel zur klassischen Gesellschaft herausbildet. Wenn ein Arbeitsloser heutzutage einen Job sucht, macht er das inzwischen im Internet. Die Chancen, etwas zu finden, sind viel höher als auf dem Arbeitsamt. Im Netz geben wir ja heutzutage auch Wohnungen und Möbel weiter. Wir kommen schon zurecht, vom Staat wird nichts mehr erwartet.

WIRED: Also sind die guten alten Zeiten des Internets jetzt vorbei oder nicht?
Lecoq: Es besteht einfach ein großes Risiko bei allem. Dass wir einen Teil unserer Freiheit an die Algorithmen abgeben, die an unserer Stelle entscheiden. Dass Banken überwachen, ob du gut oder schlecht bezahlst. Dass soziale Unterschiede vergrößert werden, während doch das ursprüngliche Ziel des Internets genau das Gegenteil war.

WIRED: Dein Roman spielt im Jahr 2006, YouPorn kommt gerade nach Frankreich. Man hat das Gefühl, du hast das ein wenig gefeiert. Gehört das Portal für dich auch zu diesem „Gegenteil“?
Lecoq: Das war eine krasse Phase, als wir zum ersten Mal diese Amateurpornos zu sehen bekamen. Echte Menschen, die echten Sex hatten. Es gab auch Paare und einzelne Mädchen, die sich rund um die Uhr filmten. Diese Zeit hat aber leider nicht lange angedauert.

WIRED: Was hat sie beendet?
Lecoq: Die Industrie hat den Faden sehr schnell aufgegriffen und begonnen, Fake-Amateurfilme zu produzieren. Vielleicht hat es immerhin die ästhetischen Ansprüche an Pornodarstellerinnen verändert.

Als ich mein Kind gebar, postete ich ein Foto meiner Plazenta. Viele Leute waren total geschockt.

WIRED: Als Bloggerin hast du dich unter anderem auf solche sexuelle Themen spezialisiert. Hast du manchmal Angst, zu viel von deinem Intimleben Preis zu geben?
Lecoq: Als ich anfing in meinem Blog über meine Sexualität zu schreiben, hat mir das überhaupt keine Probleme bereitet. Das störte eher die Typen, mit denen ich zusammen war. Später, als ich Kinder bekam, musste ich mich zwingen, vorsichtiger zu werden. Im letztem Sommer habe ich einen Post über Zoophilie geschrieben und mir dabei gedacht: „Oh lala, wenn meine Töchter das in ein paar Jahren lesen.“ Nicht einfach, damit umzugehen.

WIRED: Weil sie öffentlich zu viel über Intimes ihrer Mutter erfahren könnten?
Lecoq: Vielleicht, aber auf der anderen Seite: Es hängt ja auch davon ab, was man als Intimität bezeichnet. Als ich mein Kind gebar, postete ich ein Foto meiner Plazenta in meinem Blog. Viele Leute waren total geschockt. Persönlich hatte ich überhaupt nicht den Eindruck, etwas von meiner Intimität preis zu geben. Eine Plazenta ist ja bloß ein Stück Steak. Wirklich intim wäre es gewesen, mein Baby zu posten. Das habe ich nicht gemacht.

WIRED: In diesen Momenten hattest du die Kontrolle über das, was mit deinen Geschichten passiert. Deine Protagonistin verliert diese Kontrolle.
Lecoq: Das kann einem heutzutage einfach passieren. Hacktivisten und Webjournalisten haben es noch nicht geschafft, die Leute ausreichend vor den Gefahren zu warnen. Einerseits, weil die meisten denken: „Informatik ist mir viel zu hoch“, zum anderen weil die Tech-Giganten uns Dienstleistungen zur Verfügung stellen, die ultra-easy zu nutzen sind. Und schließlich fühlt es sich an, als ob es gar keine Überwachung und keine Gefahr geben würde. Dabei werden wir ununterbrochen getrackt. Unsere Daten werden illegal ausgewertet, weiterverkauft, wir schleppen längst alle unsere Profile mit uns herum. Damit muss dann auch meine Protagonistin kämpfen, als sie versucht ein Revenge-Porn-Video wieder aus dem Netz zu entfernen.

Wir werden nie dahin zurückkehren, wie es vorher war. Das Internet und das echte Leben sind verschmolzen.

WIRED: Ein anderer Charakter aus deinem Buch, Christophe, muss in seiner Redaktion mitansehen, wie sein News-Portal immer stärker von Algorithmen gesteuert wird. Hast du so etwas in deiner Karriere auch erleben müssen?
Lecoq: Ich war davor immer durch meinen Status gefeit. Ich bin Journalistin, aber ich hatte nie einen Posten mit Verantwortung. Über mir gab es immer Chefredakteure, die mich vor direktem Druck bewahrt haben. Andererseits hast du als Internet-Journalist ja stets die Clicks im Nacken. Auch da muß man dauernd Kompromisse eingehen. Als Beispiel: Lass uns einen kleinen netten Text über ein Kätzchen verfassen, das in den Mülleimer fällt. Das beschert uns schön viele Besucher. Und anschließend haben wir dann die Freiheit, einen langen Artikel über den Yemen zu schreiben. Ein Text, der uns keinen einzigen Click einbringt. Der Web-Journalismus ist eben ein permanentes Jonglieren.

WIRED: Klingt alles schon sehr desillusioniert, um ehrlich zu sein.
Lecoq: Ich hätte schon gerne Hoffnung, aber ich glaube nicht wirklich daran. Die Institutionen werden die Gesetze verfeinern und dann auch anwenden müssen. Zum Beispiel, was die Verwertung der persönlichen Daten ihrer Bürger angeht. Aber wir werden nie dahin zurückkehren, wie es vorher war. Das Internet und das echte Leben sind verschmolzen. Vorher hatten sie nichts miteinander zu tun. Wir waren ja alle mit Pseudonymen unterwegs. Das hat uns eine große Freiheit verschafft. Heute ist das Netz eine Verlängerung unseres Lebens. Das ist nicht umkehrbar. Andererseits kann das Internet ein Tool sein, die Gesellschaft zu verändern. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Den Sexismus und den Rassismus in der Werbung. Wenn eine Marke heute so etwas macht, wird sie auf allen Netzwerken gedisst. 

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