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Experiment: So lebt es sich im Facebook-Feed eines anderen

von Dirk Peitz
Wired-Redaktionsleiter Dirk Peitz und Vogue-Digitalredakteurin Hella Schneider tauschten eine Woche lang ihre Facebook-Accounts – und sahen die Welt mit völlig anderen Augen.

Als dieser Text im Herbst entstanden, war noch nicht klar, wer der nächste Präsident der USA werden würde und die Debatte um Fake News, Zielgruppen-Targeting und politische Manipulation, die uns in den vergangenen Wochen beschäftigte, war noch nicht in Sicht. Ein gewisses Unwohlsein machte sich aber auch damals schon breit. Denn die Erkenntnis, dass wir uns auf Facebook alle tendenziell in unseren eigenen, gleich denkenden Filterblasen bewegen, ist nicht neu. Auch die Sorge, wie das unsere Sicht auf die Welt verzerrt, nicht. So entstand die Idee zu einem Experiment: Wie unterscheidet sich die Welt eigentlich durch die Facebook-Brille zweier Menschen, die beide Journalisten sind, sonst aber auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben? Eine Woche lang haben WIRED-Redaktionsleiter Dirk Peitz und VOGUE-Redakteurin Hella Schneider ihre Feeds getauscht – und waren erstaunt, wie diese Perspektiv-Schlagseite einiges für sie wieder zurechtgerückt hat.

Dirk Peitz über seine Zeit im Account von Hella Schneider:
Mit einem Mal war Donald Trump verschwunden. Das war das Erste, das mir auffiel, als ich an einem Montagmorgen Hellas Facebook-Account übernahm: In Hellas Filterblase existierte der Mann nicht, der mir seit Monaten jeden Morgen zu versauen schien. Wenn ich Facebook geöffnet hatte, war Trump immer schon vor mir da, in den Meldungen und Kommentaren der US-Medien, denen ich folgte. Die New York Times und der Atlantic schienen kaum ein anderes Thema mehr zu kennen. Ich hatte also meine Tage regelmäßig mit dem bevorstehenden Weltuntergang begonnen.

An diesem Morgen sah ich stattdessen: Fotos von hübschen Menschen, die an schönen Orten angenehmen Tätigkeiten nachgingen. Ein fabelhaft schlanker Mann stand in Badehose auf einer Jacht, eine junge Frau posierte zwischen Strandzelten in Biarritz; es gab Landschaftsbilder von Santorin, Malta, den Cliffs of Moher in Irland. Viele dieser Fotos waren automatische Reposts von Instagram – und sie stimmten mich nicht etwa neidisch, sondern zutiefst zufrieden, wie sie so zwischen Meldungen von BuzzFeed und Werbung für Make-up platziert waren. Den Leuten auf den Bildern ging es offenbar super, und diese Laune ging in den folgenden Tagen beständig auf mich über. Wäre ich mieser gestimmt gewesen, hätte ich vielleicht darüber gegrübelt, warum Menschen glaubten, die Fabelhaftigkeit ihres Daseins auf Fotos inszenieren zu müssen. Doch der Strom der Bilder beruhigte mich eher: Die Welt und das Leben waren vielleicht doch irre schön. Das hatte ich zuletzt fast vergessen über dem politischen und anderweitigen Elend, dem ich mich über die Einstellungen meiner Filterblase täglich aussetzte.

Das Leben ist irre schön, ich hatte es nur fast vergessen.

Dirk Peitz, Redaktionsleiter WIRED Germany

Ich lasse mir Nachrichten in den Newsfeed schaufeln und bin ihnen dort gleichsam wehrlos ausgeliefert. Hella hingegen nutzt Facebook, wie es ursprünglich gedacht war, als digitale Freundschaftsrunde. Vermutlich holt sie sich ihre Dosis an schlechten Weltnachrichten gezielter als ich außerhalb von Facebook. Die eigene Wahrnehmung für die Gegenwart zu schärfen, indem man das Gute und das Böse trennt wie Hella, erschien mir nun klüger als meine Strategie, in News-Sturzfluten zu ersaufen.

Hella und ich hatten verabredet, einmal am Tag in unseren eigenen Account sehen zu dürfen, und nach einer Woche fiel die Bilanz deutlich aus: Nur eine einzige Meldung aus ihrem Feed sah ich später auch bei mir. Die Überschrift lautete: „Warum Männer mehr Orgasmen haben als Frauen.“ Ausgerechnet beim Thema Sex sahen wir die Welt also mit gleichen Augen, nur dass die Nachricht für Hella eine schlechtere war als für mich. Ansonsten überwogen in meinem Feed eindeutig die Meldungen, die für alle doof waren. Und so entschloss ich mich, nach dem Ende unseres Experiments meine Filterblase neu zu sortieren. Mehr Gutes rein, das Böse raus. Wenn die Welt untergehen sollte, dachte ich, würde ich es wenigstens nicht über Facebook erfahren. • Dirk Peitz

Hella Schneider über ihre Zeit im Account von Dirk Peitz:
Einer der ersten Posts, der mir im Facebook-Feed von Dirk ins Auge fällt, ist ein Artikel, in dem es darum geht, dass Hunde und Katzen lieben können. Am Ende wusste ich alles über den Stoff Oxytocin und seine Herstellung in Deutschland. Die Welt, die ich sonst in meinem Feed erfahre, mit Cropped Jeans oder Style Icons aus den 70ern, ist dagegen ziemlich unterrepräsentiert.

Plötzlich kommt es mir so vor, als würden sich meine Freunde und ich nur am Rande für Wissenschaft und Politik und mehr für Bella Hadids Concealer und die neuen Plateauschuhe von Marc Jacobs interessieren. Ist das wirklich so oder nur eine kurzzeitige Halluzination – ausgelöst durch all die Analysen des Weltgeschehens in Dirks Feed?

Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Dann frage ich mich: Warum eigentlich? Vielleicht reden wir in 30 Jahren genauso über Donald Trumps Versuch, US-Präsident zu werden, wie über Kendall Jenners Vogue-Cover. Ich fange an, meine vermeintlich seichte Weltsicht vor mir selbst zu verteidigen.

Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Warum eigentlich?

Hella Schneider, Redakteurin Vogue Digital

Dirks Facebook-Feed lässt sich in drei Teile gliedern: Im ersten Drittel erfahre ich, was in der Welt passiert, im zweiten erfahre ich Meinungen über das, was in der Welt passiert, und im dritten bleibt nur noch Humor, um damit umzugehen. Da ist ein kritischer Kommentar zu Edmund Stoiber, darunter ein Video der „World’s Greatest Collection Of Hamster Butts“ und darunter ein Artikel zur Burkini-Debatte.

Viele von Dirks Freunden posten Dinge, die wohl ehrlich wirken sollen. Sie scheinen aber – wie alles auf Social Media – ebenfalls inszeniert. Da ist der bekannte Musikjournalist, der einen Dialog mit einem „jungen“ Taxifahrer wiedergibt. Oder der noch viel bekanntere Journalist, der sich über Hamburg auslässt. Pop-Journalisten mit in die Stirn gekämmten Haaren versammeln sich hier. Stellenweise fühle ich mich wie in einem dieser Pop-Romane – und ich finde, dass meine Freunde gute Figuren darin abgeben würden.

Mir fällt auf, wie sehr wir unsere Feeds stilisiert haben. Was ich auf Facebook sehe, unterscheidet sich extrem von dem, was Dirk sieht. Während bei ihm darüber diskutiert wird, ob Bioläden „muffige Sekten unserer Zeit“ sind, werden in meinem die „15 Best Desserts You Won’t Believe Are Gluten-Free“ gepostet. Ich merke aber auch: Es liegt immer noch ein Unterschied zwischen dem Blick, den uns Facebook auf die Welt bietet, und unserer tatsächlichen Perspektive aufs Leben. Trotz der Unterschiede glaube ich nämlich, dass wir und unsere Ansichten gar nicht so unterschiedlich sind.

Am Ende sind es nicht die politischen Posts in Dirks Feed, sondern gerade die lustigen, die mir im Gedächtnis bleiben. Mein Favorit: „Perfekte Busen für alte Frauen mit Problemen“, eine Medienkritik über ein extrem unwichtiges Magazin – das Unterhaltsamste, was ich seit Langem gelesen hatte. Vielleicht geht es am Ende eben wirklich nicht so sehr darum, was wir in der Welt sehen. Sondern eher darum, wie wir sie sehen. Vielleicht brauchen wir einfach mehr Oxytocin. • Hella Schneider

Dieser Artikel erschien zuerst im Condé-Nast-Magazin UNIKAT, das in diesem Monat dem aktuellen WIRED-Magazin beiliegt.

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