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Gegen den Stream: Der Frust mit den Online-Videotheken

von Karsten Lemm
Streaming-Dienste locken mit einer überwältigenden Programmfülle. Mit Erfolg: Netflix etwa hat derzeit rund 100 Millionen Mitglieder in mehr als 130 Ländern. Zugleich treiben die Nutzer Sperrfristen aus Hollywood und der Kampf der Plattformen wieder in die Arme von Piraten. 

Update, 18. April 2017: An einem der nächsten Tage wird Netflix die Marke von 100 Millionen Mitgliedern in mehr als 130 Ländern überschreiten. Kein anderer Streaming-Service ist weltweit ähnlich populär. In den ersten drei Monaten dieses Jahres gewannen die Kalifornier fast fünf Millionen neue Mitglieder dazu, nicht zuletzt dank eigener Serien wie House of Cards und Marvel’s Iron Fist. Der Erfolg ändert aber nichts an dem Grundproblem, dass sich immer mehr Dienste um eine begrenzte Zahl von Produktionen prügeln: So wird das Angebot bei jedem einzelnen kleiner, und die Gefahr wächst, dass Filmfans, die eigentlich zahlungsbereit sind, aus Frust am Ende doch wieder in die Arme von Piraten laufen, wie unser Artikel aus WIRED 2/2017 erklärt.

Her damit! Jetzt! Sofort! Das ist der frühkindliche Futterreflex, den Video­Portale auslösen, wenn sie uns mit ihren Reizen betören: unbegrenzte Auswahl, sekundenschneller Zugriff auf die liebsten Serien, Shows und Spielfilme, für jede Laune, für jeden Bildschirm, zu jeder Zeit. 

Der Hingabe folgt oft die Ernüchterung. Netflix mag Sherlock zeigen, doch von Sili­con Valley keine Spur. Maxdome wirbt mit X-Files und Quantico als „exklusiven Serien“, muss bei Walk­ing Dead oder Lost aber passen. So geht das quer durchs Programm, bei allen Anbietern: Da sich immer mehr Stream­ing­Diens­te um eine überschaubare Zahl von Filmen und TV-­Produktionen prügeln, wird die Auswahl bei jedem Einzelnen dünner: Netflix, so hat der Blog Exstreamist nachgezählt, kam in den USA vor fünf Jahren auf etwa 11.000 Titel – inzwischen sind es gerade noch 5000.

Wenn der kalifornische Streaming-­Pionier dennoch einen Umsatzrekord nach dem anderen aufstellt – 8,3 Milliarden Dollar im vorigen Jahr, ein Plus von 35 Prozent –, dann liegt das vor allem an der Strahlkraft von Eigenproduktionen wie House of Cards und Orange is the New Black; Serien, die es eben nur bei Netflix gibt und die ein solides, wenn auch schrumpfendes Hollywood-Angebot ergänzen.

Weltweit ist Netflix so zur unbestrittenen Nummer eins geworden. In Deutschland allerdings kämpfen die Amerikaner mit der Gratismentalität eines Publikums, das lieber in die Mediatheken der TV-Sender schaut, als monatlich Geld für ein Abonnement auszugeben. Nur jeder vierte Haushalt nutzt überhaupt einen Bezahl-Dienst, und die meisten von ihnen gehen bei Amazon auf Schnäppchenjagd: Der Online-Händler wirft Tausende von Videos gleich mit ins Digitalpaket, wenn Kunden für 69 Euro im Jahr Prime-­Mitglieder werden.

„Amazon ist in Deutschland ohnehin sehr stark“, sagt David Sidebottom, Analyst beim Marktforscher Futuresource. „Dazu kommt, dass es keine etablierte Kultur des Bezahlfernsehens gibt. Das macht sich auch beim Streaming-­Geschäft bemerkbar.“ 

Europäische Eigenproduktionen sollen den US-Rivalen helfen, mehr Zuschauer zu gewinnen. Netflix entwickelte zunächst das französische Drama Marseille und lässt nun Dark folgen, einen zehnteiligen Thriller, der in Berlin spielt. Amazon kontert mit Matthias Schweig­höfers You Are Want­ed. „Wer über sein Kernpublikum hinauswachsen will“, sagt Sidebottom, „braucht starke lokale Inhalte.“

Eigenproduktionen haben außerdem den Vorteil, dass die Streaming-­Dienste die Spielregeln selbst festlegen können. Dagegen stehen ihnen bei lizenzierten Shows häufig Produzenten im Weg, die auf ­antiquierten, aber profi­ta­blen Verwertungsketten beharren: Im traditionellen Geschäft ist es üblich, Ausstrah­lungs­rechte für jedes Land einzeln zu verkaufen, oft mit unterschiedlichen Startterminen. 

In Zeiten des Antennen-Fernsehens funktionierte das gut; doch das Internet mag keine künstlichen Einschränkungen: Wenn legale Anbieter nicht zeigen, was das Publikum sucht, springen andere ein, die auf dunklen Kanälen streamen oder Raubkopien zum Download anbieten.

So erreicht Piraterie plötzlich wieder ein Mainstream-Publikum, das eigentlich zahlungsbereit ist. „Es wird für Nutzer immer schwieriger zu wissen: Welche Kombination aus Anbietern brauche ich wirklich?“, sagt ­Daniel Knapp, Analyst beim Medien-­Markt­forscher IHS Markit. „Das öffnet der Piraterie Tür und Tor, weil Menschen schnell frustriert werden können, wenn sie viel Geld zahlen, aber merken, dass sie trotzdem vor verschlossenen Türen stehen.“


Studios haben durch Streaming viel zu verlieren: Die Rechte für Fernseh­Ausstrahlungen bringen ihnen dreimal so viel Geld ein wie Netflix und zehnmal so viel wie Youtube, schätzt die Investmentbank Needham. Deshalb achten sie streng darauf, dass Lizenz-Beschränkungen eingehalten werden, und versuchen, auch die letzten Lücken zu schließen – etwa VPN-­Tunnel, die es erlauben, die eigene Internet-Adresse zu verschleiern. 

Trickreiche Nutzer gaukeln Video-­Portalen damit vor, aus einem anderen Land zu kommen. Netflix etwa ließ es lange zu, dass deutsche Kunden, wenn sie sich als Amerikaner ausgaben, auf den weit größeren US-Katalog zugreifen konnten. Heute sperrt der Dienst den Zugriff, sobald er vermutet, dass Nutzer über eine getarnte Adresse Verbindung aufnehmen.

Noch ist Netflix-Gründer Reed Hastings auf fremde Inhalte angewiesen;  doch er tut alles, um seine Abhängigkeit zu verringern: Sechs Milliarden Dollar will Netflix allein in diesem Jahr in Eigenproduktionen investieren. Auch Amazon steckt laut Branchenberichten schon mehr als zwei Milliarden Dollar pro Jahr in selbst entwickelte Programme. Die Rivalen sammeln dabei reihenweise Preise ein: Nach Emmys für Serien wie Transparent und Bloodline erhielten Amazon und Netflix nun erstmals auch Oscars für Filmproduktionen. So viele Shows, die man eigentlich nicht verpassen darf, stellen Nutzer dann vor ein neues Problem: Der Feier­abend ist immer viel zu kurz.

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