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Soziologe Sennett: Die Menschen vergessen, dass Großbritannien einst ein Weltreich war

von Chris Köver
Der Soziologe Richard Sennett forscht seit mehr als 30 Jahren zur Frage, wie Menschen zusammenleben und arbeiten. Städte und Gesellschaften, das ist eine seiner zentralen Thesen, müssen porös bleiben, immer im Austausch mit ihrer Umwelt. WIRED sprach mit ihm gestern in London über den Austritt der Briten aus der EU und das Versagen der EU-Befürworter.

Richard Sennett sitzt in seiner Wohnung im fünften Stock eines Bürogebäudes in der Londoner Innenstadt, nur ein paar Gehminuten vom Finanzdistrikt und der London School of Economics entfernt, wo er unterrichtet. Er und seine Frau Saskia Sassen haben hier ein ehemaliges Büro in eine Art Loft umgebaut, möbliert mit Perserteppichen und Antiquitäten. Aus den raumhohen Fenstern sieht man ein Solides Grau, draußen schüttet und stürmt es bereits den ganzen Tag, London steht unter Wasser und Sennett schaut ebenfalls begossen. Es ist der Nachmittag der Abstimmung über die Frage, ob Großbritannien in der EU verbleiben soll. Keine 24 Stunden später werden die Briten nicht mehr zum politischen Europa gehören.

Seit mehr als 30 Jahren forscht und lehrt Sennett zur Frage, wie Menschen in Städten zusammenleben und arbeiten, erst in New York, seit 22 Jahren in London. Er ist einer der großen öffentlichen Intellektuellen, die sich politisch positionieren, ganz in der Tradition seiner Lehrerin Hannah Arendt. Die Finanzkrise und die verfehlte Wohnungsmarktpolitik in London, Berlin oder Hamburg hat er ebenso kommentiert wie die Macht von Google und jetzt den Brexit.

„Es gibt viele Aspekte des Referendums, die in der Presse nicht diskutiert wurden,“ sagt er. „Die Menschen vergessen, dass Großbritannien einmal ein Weltreich war. Das durchzieht dieses Land von unten bis oben, diese Auffassung, dass es einmal Herr der Lage war, dass es niemandem gehorchen musste.“ Die angestrebte Unabhängigkeit der Pro.Leave-Fraktion, sagt Sennett, sei vor allem eine Vergewisserung: Wir haben noch die Kontrolle. „Das spricht viele Briten an.“

Die Menschen vergessen, dass Großbritannien einmal ein Weltreich war. Das durchzieht dieses Land von unten bis oben

Richard Sennett

Das Hauptproblem sieht er allerdings nicht hier, sondern im strategischen Versagen des britischen Premiers David Cameron und seiner Konservativen Partei. „Ich bin offensichtlich dafür, dass Großbritannien in der EU bleibt, aber so wie Cameron das Referendum eingefädelt hat, gibt es ein großes Problem: Für den Verbleib zu stimmen hieß automatisch, auf die Drohung ,Austritt‘ zu verzichten.“ In Verhandlungen mit der Europäischen Kommission hat Cameron diese Möglichkeit gerne als Druckmittel eingesetzt. Diesen Hebel hätte er im Fall eines Pro-EU-Votums verloren – ein Umstand, der den meisten Briten nicht verborgen geblieben ist und den Befürwortern des Austritts weiter in die Hände gespielt hat. „Cameron war dumm,“ sagt Sennett. „In Wirklichkeit ist dieses Referendum ein Referendum zu seiner Regierung geworden, und das ist sehr traurig.“

Denn es hätte nicht an konkreten Themen gemangelt: Einwanderung, Gesundheitspolitik. Stattdessen hätten Gegner wie Befürworter nur die Ängste der Bevölkerung mobilisiert – für Sennett die Ursache dafür, dass die Anfangs niedrige Unterstützung für den Austritt so dramatisch gestiegen ist. „An die Ängste der Menschen zu appellieren, das funktioniert in diesem Land nicht gut. Das hat etwas mit dem zweiten Weltkrieg zu tun. Wenn Menschen damals nach ihren Ängsten gehandelt hätten, würden wir heute Deutsch sprechen.“

Eine Gesellschaft als geschlossene Systeme, das ist eine der Grundannahmen von Sennetts Arbeit, ist instabil und anfällig – zu unflexibel um auf Veränderungen zu reagieren. Je mehr Offenheit und Austausch hingegen besteht, sowohl innerhalb als auch mit dem Außen, umso besser für eine Gesellschaft – das gilt für einzelne Stadtviertel und Städte wie für ganze Länder.

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In diesem Fall, sagt Sennett, standen die Gegner klar für eine Abschottung: Sie wollen das System Großbritannien dicht machen, bezeichneten den Tag des Referendums als Independence Day der Briten. Sennetts Kritik: Die Befürworter haben es versäumt, sich als Kämpfer für ein offenes Großbritannien zu positionieren. „Niemand hatte den Austritt je für möglich gehalten. Das Ergebnis wird daran liegen, dass die Regierung unfähig war, ihre Seite zu organisieren und ihre Argumente für ein Bleiben klar zu machen.“

Sennett hat nach 22 Jahren in London vor kurzem die Britische Staatsbürgerschaft bekommen, er konnte an der Abstimmung teilnehmen, eine weitere Stimme Pro-Verbleib. Heute am Tag darauf, nach dem Votum der Briten für den Austritt und dem Rücktritt von David Cameron, ist klar: Es hat nicht gereicht. Das britische System, es macht dicht nach außen.

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