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Fast wie Serial: Im Game „Her Story“ wird der eigene Rechner zum fiktiven Desktop eines Polizisten

von Oliver Klatt
Eine Frau sitzt in einem kargen Verhörzimmer an einem Tisch. Sie soll eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte über das Verschwinden ihres Ehemanns. Weiß sie, wo er geblieben ist? Hat sie ihn umgebracht? Wer ist diese Frau? Fragen wie diese stellt sich der Spieler von „Her Story“, einem Independent Game von Sam Barlow aus Großbritannien. Das Gewagte daran: „Her Story“ besteht allein aus einer Videodatenbank, die per Texteingabe nach Schlüsselbegriffen durchsucht wird. Aufgabe des Spielers ist es, aus den Filmschnipseln vom Verhör der Verdächtigen die Wahrheit herauszulesen und eine Geschichte entstehen zu lassen. WIRED Germany sprach mit Barlow über sein Gameplay-Experiment.

 

WIRED: Ihr Spiel „Her Story“ erzählt die Geschichte der Hauptfigur anhand von Videofragmenten, die der Spieler selbst zusammenpuzzeln muss. Ein ziemlich ungewöhnlicher Ansatz?
Sam Barlow: So ungewöhnlich ist das gar nicht. Auch in Militär-Shootern und anderen Games finden Spieler ständig Textdokumente, Audio- oder Filmdateien, aus denen sie Geschichten zusammensetzen. In der Literatur gibt es Briefromane und andere Werke, die aus scheinbar authentischen Fundstücken bestehen. In Videospielen fühlt sich diese Erzählweise aber immer etwas seltsam an, weil ein Bruch entsteht zwischen dem eigentlichen Gameplay und der Hintergrundgeschichte, die auf andere Weise vermittelt wird. Auch ist die Reihenfolge, in der man diese Dokumente in Games findet, meistens nur scheinbar zufällig und in Wahrheit von den Entwicklern vorgegeben. Meine Idee war es, diese Erzähltechnik auf die Spitze zu treiben. Für „Her Story“ habe ich das Herumlaufen und Herumballern in einer räumlichen Spielwelt einfach rausgeschmissen. Und dem Spieler dafür die komplette Kontrolle über die Reihenfolge gegeben, in der er die Videofragmente ansieht und anhört.

Es geht um das Unausgesprochene. Subtext spielt eine große Rolle.

WIRED: In diesen Clips sieht man die Schauspielerin Viva Seifert in der Rolle einer Mordverdächtigen. Warum haben sie sich dafür entschieden, mit Videos zu arbeiten anstatt ausschließlich mit Wörtern wie in ihrem Textadventure „Aisle“?
Barlow: Weil mir der Subtext sehr wichtig ist, der sich bei einer Performance entfaltet. Im Fernsehen, im Film oder auf einer Theaterbühne spielt er eine große Rolle. Es geht um das Unausgesprochene. Um das, was sich in den Köpfen der Zuschauer abspielt und was sie in eine Performance hineininterpretieren. In Games ist für Subtext häufig kein Platz. In ihnen geht es meistens nur um Aufgaben, die man als Spieler zu absolvieren hat.

WIRED: Ein Missionsziel...
Barlow: „Gehe hin und töte den Drachen“ lässt wenig Deutungsspielraum. In „Her Story“ hingegen wird der Subtext zum Gameplay. Alles dreht sich um die Auslegung durch den Spieler. Weil die Datenbank ihm nur die aus dem Zusammenhang gerissenen Antworten der Verdächtigen präsentiert, liegt es an ihm, sie in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen oder sich auszumalen, welche Fragen ihr gestellt wurden.

WIRED: Dieses Zerstückeln und erneute Zusammensetzen einer Erzählung erinnert an die Cut-Up-Technik des Schriftstellers William S. Burroughs, der Texte gerne mal mit der Schere zerschnitten hat. War der Beatnik-Papst eine Inspiration?
Barlow: Seit meiner Jugend habe ich mich für Menschen wie Burroughs, J.G. Ballard und die Surrealisten begeistert. Alles Leute, die hin und wieder eine Handgranate in die Struktur ihrer Geschichten geworfen haben, um zu schauen, was passiert.

Her Story erlaubt es, die Chronologie der Unterhaltung zu ignorieren.

WIRED: Aber was passiert denn nun genau?
Barlow: Wenn man so vorgeht, kommen manchmal Dinge zum Vorschein, die normalerweise unter der Oberfläche bleiben. Das ist das Interessante daran. Der Computer bietet in wunderbare Möglichkeiten. In „Her Story“ erlaubt er es, die Chronologie einer Unterhaltung zu ignorieren, und sie stattdessen nach bestimmten Schlüsselwörtern zu ordnen. Dadurch wird freigelegt, was zwischen den Zeilen steht: Themen und Bilder, die einem normalerweise entgangen wären. Unser Gehirn kann gar nicht anders, als diese Fragmente in Beziehung zueinander zu setzen und einen neuen Zusammenhang herzustellen. Das fühlt sich sehr aufregend an.

WIRED: Woher stammt die Idee für die Verhörsituation als Videospiel?
Barlow: Ich habe viel Lektüre zum Thema verschlungen. Dabei ist mir klar geworden, dass sich auch während eines Polizeiverhörs alles um den Subtext dreht. Die Kunst in einer solchen Interviewsituation besteht darin, der verdächtigen Person das Gefühl zu geben, ganz offen reden zu können — und darauf zu achten, was sie verschweigt. Gelächter spielt dabei eine wichtige Rolle.

WIRED: Empathie?
Barlow: Im Grunde Ja. Als Ermittler muss man erkennen, was sich aus Auslassungen und Körpersprache des Gegenübers herauslesen lässt. Auf Videoportalen wie Youtube finden sich tonnenweise Videoaufzeichnungen von solchen Gesprächen. Ein weiterer Gedanke war, dass es für uns heute zur Selbstverständlichkeit geworden ist, Wörter in ein Suchfeld einzugeben und unmittelbar darauf passende Videoclips präsentiert zu bekommen. Auch das Erzählen und Zusammenfügen einer Lebensgeschichte anhand von Bruchstücken gehört mittlerweile zum Alltag. Man denke nur an Google oder die Timeline bei Facebook. Ganz ähnlich funktioniert auch die Mechanik von „Her Story“.

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WIRED: Viele Videospiele lassen einen in eine Parallelwelt eintauchen. Man soll vergessen, dass man auf einen Bildschirm starrt und sich fühlen, als wäre man wirklich an einem anderen Ort. „Her Story“ ist anders: Der Bildschirm ist das Spiel.
Barlow: Der Computer des Spielers wird zum Computer im Spiel — zum fiktiven Desktop eines Polizisten im Jahre 1994. Dadurch ist man viel näher an der Geschichte. Die Grenze zwischen dem Menschen, der du bist, und dem Menschen, den du spielst, verschwimmt.

Das Spiel verlangt recht viel von dir.

WIRED: Man wühlt sich durch die Datenbank eines Polizeicomputers aus den Neunzigerjahren, macht sich dabei Notizen und Gedanken zur Geschichte dieser Frau. Gibt es dabei auch so etwas wie ein „Game Over“ oder ein definitives Spielende?
Barlow: Ein „Game Over“ gibt es nicht. Auch keine Gesundheitsanzeige wie in den „Phoenix Wright“-Spielen. Das war mir sehr wichtig, denn obwohl „Her Story“ nicht im klassischen Sinne schwierig ist, verlangt es dennoch recht viel von dir. Du wirst nicht bei der Hand genommen, sondern mit einer Datenbank aus hunderten von Videoclips allein gelassen. Du musst dich konzentrieren, beharrlich bleiben und Ideen entwickeln. Im Gegenzug gibt es kein Versagen und auch keinen Spieltod. Aber das Game merkt sich sehr wohl, wie du beim Durchforsten des Archivs vorgehst. Und es gibt einen Abschluss, der dir das Gefühl vermittelt, dass deine Mühen nicht umsonst gewesen sind.

WIRED: Im realen Leben werden die meisten Gewaltverbrechen von Männern begangen. Warum sitzt bei Ihnen eine Frau in der Verhörstube?
Barlow: Einer der Gründe war, dass ich wieder mit Viva Seifert als Schauspielerin zusammenarbeiten wollte. Wir sind beide an einem Videospielprojekt beteiligt gewesen, das leider nach drei Jahren Entwicklungszeit vom Publisher auf Eis gelegt wurde. Darüber hinaus ist mir die Art aufgefallen, in der die Medien mit Frauen umgehen, die eines Gewaltverbrechens beschuldigt sind. Angeklagte wie Jodi Arias oder Amanda Knox werden anders dargestellt, als männliche Verdächtige. Das mag daran liegen, dass so etwas seltener vorkommt. Derartige Fälle werden sehr gern zu Dramen hochstilisiert, in denen die Klischees der Femme Fatale oder der eiskalten Mörderin bemüht werden. Auch schaut die Öffentlichkeit viel genauer hin und beurteilt das Verhalten dieser Frauen viel schärfer. Das kann man sehr gut an den Kommentaren unter Youtube-Clips von Verhören oder Gerichtsverhandlungen erkennen. Es mag etwas hochgegriffen klingen, aber indem ich die Videoclips in „Her Story“ auf die Antworten der Verdächtigten beschränkt habe, wollte ich ihr etwas von der Macht zurückgeben, die einer Frau in einer solchen Situation genommen wird.

WIRED: Sie waren als Lead Designer und Autor an erfolgreichen Spielen wie „Silent Hill: Shattered Memories“ beteiligt. Worin unterscheidet sich die Arbeit mit einer richtigen Schauspielerin von der Arbeit an Games, in denen animierte Figuren die Hauptrolle spielen?
Barlow: Bei großen Spielen wird die Performance von echten Schauspielern häufig mit der Videokamera festgehalten. Anschließend sind bis zu hundert Menschen damit beschäftigt, diese Performance zu gut wie möglich in 3D-Animationen umzuwandeln. Dabei wird immer wieder auf die Aufnahmen von Mimik und Gestik der Schauspieler zurückgegriffen, um die Figuren möglichst authentisch aussehen zu lassen. Das ist ein sehr eigenartiger Prozess. Sehr anstrengend und sehr kostspielig. All das fehlt bei „Her Story“. Wir haben die Aufnahmen innerhalb einer Woche abgeschlossen. Ich habe dabei den Detektiv spielen müssen und Viva die Fragen gestellt. Manchmal hat sich das für uns wirklich so angefühlt, als säßen wir in einem stundenlangen Polizeiverhör.

„Her Story“ erscheint in Kürze für PC, Mac und iOS.

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