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Sind US-Diplomaten in Kuba Opfer einer Schall-Attacke geworden?

von Adam Rogers
Ist das US-Ministerium auf Kuba Opfer eines Angriffs mit einer rätselhaften Schall-Kanone geworden? 21 Mitarbeiter erlitten plötzliche Gehör- und Hirnschäden, die sich niemand erklären kann. WIRED geht auf Spurensuche nach einer mögliche Ursache.

Es ist wie ein Abenteuer aus James Bond oder Akte X, was sich da gerade in Kuba abspielt. Vergangene Woche hat das US-Außenministerium Familien und Mitarbeiter, die kein Sicherheitspersonal sind, aus der Botschaft in Havanna nach Hause zurückbeordert. Die 21 Personen seien verletzt oder krank. „Gehörverlust, Schwindel, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Gedächtnis- und Schlafstörungen“, hieß es in dem Statement von Außenminister Rex Tillerson.
Diese 21 Menschen waren nicht einfach nur diplomatische Vertreter. Einige derer, die es am schlimmsten erwischt hat, waren laut einer Mitteilung der Presseagentur AP US-Geheimdienstmitarbeiter. Das heißt: Jemand in Kuba hat aus der Ferne irgendetwas Merkwürdiges mit den Ohren und Gehirnen der Spione angestellt.

Die meisten Berichte gehen bisher von einer Art „Schallwaffe“ oder „Schallattacke“ aus, vielleicht auch als Nebeneffekt einer Überwachungstechnologie. Das Problem ist, dass Physiker und Akustiker sich nicht erklären können, wie Ultraschall (hohe Frequenz) und Infraschall (tiefe Frequenz) die Symptome auslösen können, die das Außenministerium beschreibt. Damit bleiben nur zwei andere Möglichkeiten: Es gibt eine neuartige SciFi-Waffe – oder es handelt sich doch um etwas ganz anderes.

Eine Hypothese für das „etwas ganz anderes“-Szenario ist Gift. Aber erstmal einen Schritt zurück. Die gemeldeten Verletzungen variieren zwischen Gehörverlust (möglicherweise permanent) und Schwindel, Betroffene berichten von Verwirrung, Kopfschmerzen, manche haben gar ein leichtes Hirntrauma. Audiologen und HNO-Ärzte kommen zu dem Schluss, dass das auf Verletzungen im Innenohr zurückzuführen ist. Das ist nämlich dafür verantwortlich, Schallwellen in Nervenimpulse umzuwandeln und das Gleichgewicht zu regulieren. Einige der Betroffenen berichteten von merkwürdigen Geräuschen, manchmal nur in bestimmten Bereichen bestimmter Räume – andere hörten gar nichts Ungewöhnliches.

Niemand scheint von irgendeiner Technologie zu wissen, die solche Angriffe möglich macht.

Das klingt ganz nach einer gezielten Schallattacke. Aber niemand scheint von irgendeiner Technologie zu wissen, die solche Angriffe möglich macht. „Nichts an der Geschichte ergibt Sinn“, sagt Robert Putnam, Senior Marketingchef des Long Range Acoustic Device (LRAD), der Schallkanone des US-Verteidigungsministerums, die 2005 gegen Piraten eingesetzt wurde. Das LRAD setzt hörbare und sehr, sehr laute Schallwellen ein. Die meisten der Attacken in Kuba waren allerdings lautlos. „Wenn es Infraschall war, hört man es nicht wirklich und man muss eine Menge Energie in den Boden leiten“, sagt Putnam. „Ultraschall wird ziemlich schnell gedämpft und wenn man viel Energie aufwendet, erhitzt sich die Haut.“

Alle Methoden, die einen einzigen Schallstrahl auf einen Punkt konzentrieren können, decken nicht den Frequenzbereich ab, den diese hypothetische Sci-Fi-Waffe bräuchte. Seit 2010 „muss man einen Abstand von 1,5 bis 3 Meter zum Sender haben, damit es überhaupt einen Effekt hat“, sagt Putnam. Vielleicht hat der technologische Fortschritt seitdem so eine magische Sci-Fi-Waffe hervorgebracht.

Aber Schall ist nicht das Einzige, das das Gehör und Gehirn beeinträchtigen kann. Chemikalien können das auch. Ototoxizität, die zerstörerische Wirkung von Substanzen auf das Innenohr, ist eine bekannte Nebenwirkung von bestimmten Chemothrapeutika und Antibiotika. Das häufig eingesetzte Krebsmedikament Cisplatin kann Gehörverlust auslösen, ebenso Aminoglykoside, eine Gruppe von Antibiotika. Diese Substanzen wirken in den Kanälen und Kammern im Innenohr, die mit Flüssigkeit gefüllt sind. Dort beschädigen sie die Haarzellen, die den Schall an die Nervenbahnen weiterleiten, die zum Gehirn führen.

Chemotherapeutika und Antibiotika werden intravenös verabreicht, um einen Effekt zu haben, also fallen diese auch als mögliche Verursacher aus. Schwere Metalle wie Blei und Quecksilber können ototoxisch sein, sind aber auch ziemlich lange im Blut nachweisbar. Das Außenministerium hat zwar noch keine Untersuchungsergebnisse veröffentlicht – vielleicht wird es das auch nie – aber man kann davon ausgehen, dass sie Bluttests durchgeführt haben.
Eine andere Klasse von Ototoxinen sind Lösungsmittel wie die Reinigungsprodukte Xylol oder Styrol, die bei der Herstellung von glasverstärktem Polyester verwendet werden. Einige sind im Blut nachweisbar, andere haben kürzere Halbwertzeiten. Sie dünsten aus neuen Teppichen, Farbe und Möbeln aus, was der Grund ist, warum neu eingerichtete Wohnungen nicht sofort bezugsbereit sind. „Einige Stoffe sind wirklich deutlich bemerkbar. Man würde sie riechen“, sagt Kathleen Campbell, eine Spezialistin für Ototoxizität an der medizinischen Fakultät der Southern Illinois University. „Wenn wir diese Substanzen untersuchen, dann im Rahmen von industrieller Verarbeitung. Wir studieren nicht wie man sie zur Waffe machen kann, indem man den Geruch entfernt.“

Gehörverlust beginnt und endet nicht unbedingt in der Hörschnecke

Ein Ototoxin entspricht allerdings allen Anforderungen: Kohlenmonoxid. Es verursacht Gerhörverlust wegen seiner Wirkung als Stickgas. Es verdrängt den Sauerstoff aus dem Hämoglobin, den roten Blutkörperchen, die Sauerstoff durch den Körper befördern. Es ist geruchlos, gasförmig und wirkt auf das gesamte Gehirn und nicht nur Teile des Ohrs.

Zwar müsste man schon so viel inhalieren, dass man ohnmächtig wird, um Gehörschäden davonzutragen. Aber „es erhöht das Risiko für lärmbedingten Gehörverlust immens. Es ist synergetisch“, sagt Campbell. „Wenn die Sauerstoffkonzentration im Innenohr sinkt und man mit einem lauten Ton konfrontiert wirt, attackieren freie Radikale die Haarzellen im Innenohr.“

Synergie ist ein gutes Stichwort. Gehörverlust beginnt und endet nicht unbedingt in der Hörschnecke, wo die mechanischen Töne in Nervenimpulse umgesetzt werden. Etwas, das das zentrale Nervensystem angreift – wie ein Lösungsmittel oder Kohlenmonoxid – könnte auch das Vestibularsystem angreifen. Dieses besteht aus drei mit Flüssigkeit gefüllten, halbkreisförmigen Kanälen, die für das Gleichgewicht verantwortlich sind. Andere Teile des Gehirns könnten ebenfalls betroffen sein.

Möglicherweise – und das ist aus gutem Grund noch nicht am Menschen erprobt worden – könnte lautloser Infra- oder Ultraschall synergetisch mit einem Ototoxin wirken. So wie Fabrikgeräusche oder Mikrowellen vielleicht auch.

Die Sache ist, dass die Kubaner jede Verwicklung in den Fall abgestritten haben. In einer Besprechung sagte ein Beamter des Außenministeriums, dass die Ermittlungen weitergehen werden.

US-Beamte untersuchen derweil, ob Geheimdienste andere Länder hinter dem Vorfall stecken könnten. Vielleicht sogar Russland, das in Angriffe auf US-Medien und das Wahlsystem involviert war. Zudem sind russische Sicherheitsdienste dafür bekannt, auch Gift als Waffe einzusetzen: Vom Mord am bulgarischen Theaterautor Georgi Markov im Jahr 1978 mit einer Kugel aus Rizin, die aus einem Tarn-Regenschirm gefeuert wurde, bis hin zum Mord an dem Spion Alexander Litwinenko durch Polonium-210, das in Tee gelöst war.

Sowjietische Geheimdienste haben jahrzehntelang die US-Botschaft in Moskau mit Mikrowellen bestrahlt

Die Russen haben zudem Mikrowellen als Überwachungswerkzeug eingesetzt. Sowjetische Geheimdienste haben jahrzehntelang die US-Botschaft in Moskau mit Mikrowellen bestrahlt, um ein passives Mikrofon mit Energie zu versorgen, das in einem geschnitzen Siegel der Vereinigten Staaten versteckt war.

Synergetische Effekte sind auch nicht auf Ototoxine beschränkt. Infraschall – also alles unter 20 Hertz – kann noch schädlicher sein, wenn es von hörbaren Frequenzen begleitet wird. Das erklärt zwar noch nicht die geistigen Beeinträchtigungen, die die Mitarbeiter erlitten haben. Aber ein hörbares Geräusch, von dem einige der Amerikaner berichteten, kann als Tarnung für den Infraschall gedient haben. „Ist es plausibel, dass tiefe Frequenten das Innenohr verletzen, das Gleichgewicht stören oder Schwindel und Übelkeit auslösen können?“ sagt Robert Jackler, ein HNO-Arzt an der Stanford Medical School. „Ja, das ist absolut möglich.“

Ultraschall braucht eine Leiterflüssigkeit. Darum bekommen schwangere Frauen ein Gel aufgetragen vor einem Ultraschalltest. Infraschall wird über die Luft übertragen. Jeder, der schon einmal in einem Club getanzt hat oder mit einem Helikopter geflogen ist, wird das vibrierende Gefühl des Infraschalls kennen – dieses dröhnende Gefühl in der Magengegend.

Es könnte auch als Waffe gegen Menschen angewandt werden. Jackler verweist auf eine Studie von 2007, in der die Wissenschaftler Chinchillas Infraschall und hörbaren Frequenzen aussetzten. Beides zusammengenommen verletzte Die Hörschnecke durch einen Riss, der die Flüssigkeiten miteinander vermischte. Stoff für Verschwörungstheorien liefert ein Test, den russische Forscher 2011 am Menschen durchführten. Sie haben Soldaten untersucht, die mit schweren Fahrzeugen, Helikopern und Luftkissenbooten zu tun hatten. Diejenigen, die dem meisten Infraschall ausgesetzt waren, hatten auch mehr Hörschäden und Probleme mit dem Verdauungs - und Nervensystem, sowie Augenerkranungen. (Dasselbe Team fand in einer Studie von 2017 heraus, dass Infraschall erbgutverändernde Effekte auf Mäuse hat.)

Eine der Forscherinnen, die an der Studie von 2010 und 2017 beteiligt war, sagte auf die Frage, ob ihre Forschung etwas mit den Ereignissen in Kuba zu tun haben könnte: „Wir wissen nichts über solche Waffen und finden es auch inakzeptabel.“ So schreibt es Irina Vasilieva in einer E-Mail an WIRED. Sie ist Biologin am Forschungsinstitut für Onkologie NN Petrov in St. Petersbug.

Wie kann irgendjemand herausfinden, ob irgendeine der Theorien wahr ist? Durch Tests, natürlich. Gehörverlust durch die Nebenwirkungen von Medikamenten passiert zuerst in den hohen Frequenzen, Lösungsmittel greifen die mittleren Frequenzen an. Gehörverlust durch laute Geräusche führt zu Lücken zwischen zwei und sechs Kilohertz. Haarzellen geben Mini-Pfeiftöne ab, wenn sie gesund sind – so genannte otoakustische Emissionen. Außerdem kann man am Hirnstamm testen, ob die Schäden zentral oder dezentral sind. „Ich hab mit dem Verteidigungsministerium jahrzehntelang in der Hörforschung gearbeitet. Ich bin von den Fähigkeiten des Ministeriums sehr beeindruckt. Ich bin sicher, dass dort schon alles untersucht wird, von dem ich gesprochen habe“, sagt Campbell. „Ich glaube immer mehr, dass es eine Kombination von Ursachen gibt und nicht nur eine.“

Diese Kombination von Ursachen müsste nicht einmal absichtlich ausgelöst worden sein. Angenommen eine magische Schallkanone wechselwirkt mit Umweltgeräuschen und einem unbekanntes Ototoxin, wenn sie eigentlich nur geheime Gespräche abfangen sollte. Vielleicht ist es nicht James Bond oder Akte-X, sondern es sind vielmehr die Coen Brüder. Vielleicht sollte niemand, wie es die unglückseligen Anti-Helden der Brüder oft sagen, verletzt werden.

Es ist eben sehr schwer, Menschen aus der Ferne zu vergiften. „Du brauchst eine gleichmäßige Dosis und eine gleichmäßige Verabreichungs-Methode“, sagt Edward Boyer, Toxikologe an der Harvard Medical School. Jeder Stoff, der ototoxisch genug ist, um die Symptome bei den Diplomaten auszulösen, wäre auch anderweitig giftig, sagt er. Alle Symptome, die das Außenministerium öffentlicht gemacht hat, „deuten auf ganz unterschiedliche Prozesse und Wirkungsweisen im Körper hin, was mir sagt, dass der hypothetische Stoff als Toxin unbrauchbar ist. Wenn du nicht alle außer Gefecht setzten kannst, warum dann überhaupt anwenden?“

Das ist aber noch kein Grund die Verschwörungstheorie gänzlich zu verwerfen. „Es kann natürlich sein, dass das nur ein Testdurchlauf war. Sie wollten vielleicht nur sehen, wie effektiv die Methode sein kann. Wer auch immer dahinter steckt“, sagt Boyer.

Fürs Erste bleibt es ein Rätsel, was mit den Diplomaten und Spionen in Kuba passiert ist. Die Experten, die WIRED gesprochen hat, bräuchten Laborergebnisse, eine neuropsychiatrische Aufarbeitung und Berichte über mögliche Umwelteinflüsseum, um mehr zu tun als nur zu spekulieren. Kurzum: Alle Daten, die das Außenministerium nicht öffentlich gemacht hat, falls solche Tests überhaupt stattgefunden haben. Und selbst wenn das Ministerium herausbekommt, was seine Mitarbeiter krank gemacht hat, heißt das noch lange nicht, dass sie es verraten. Manchmal ist die Wahrheit eben nicht irgendwo da draußen.

WIRED.com

Dieser Artikel erschien zuerst bei WIRED.com
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