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Morbides Massenphänomen: Der True-Crime-Podcast „Serial“ macht seine Zuhörer zu Erzählern

von Oliver Klatt
Am 13. Januar 1999 verschwindet die achtzehnjährige Schülerin Hae Min Lee auf dem Heimweg von der Woodlawn High School in Baltimore spurlos. 27 Tage später wird sie in einem Waldstück im fünf Kilometer entfernt gelegenen Leakin Park tot aufgefunden — erwürgt und begraben von ihrem Mitschüler und Ex-Freund Adnan Syed.

So zumindest sieht es das Urteil des Gerichts, das den Neunzehnjährigen im Februar 2000 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Trotz dünner Beweislage ist sich die Jury nach einem sechswöchigen Prozess und nur zwei Stunden Beratungszeit einig: Der Muslim Syed hat seine große Highschool-Liebe aus gekränktem Ehrgefühl und mit Vorsatz ermordet. Stärkstes Argument der Anklage: Die Zeugenaussage eines Freundes von Syed, der ihm beim Beseitigen der Leiche geholfen haben will. Obwohl er mehrmals der Lüge überführt wird und sich immer wieder in Widersprüche verstrickt, glaubt man dem Zeugen. Für Syed, der bis heute seine Unschuld beteuert, beginnt ein neues Leben hinter Gefängnismauern. Außer Familienangehörigen und Freunden kümmert sich kaum noch jemand um den Fall.

Woche für Woche kann man mit anhören, wie die Reporterin mit der Suche nach der Wahrheit ringt, und mit ihrem Unvermögen, sie zu finden. 

Zeitsprung in die Gegenwart. 15 Jahre nach dem gewaltsamen Tod von Hae Min Lee kennen Hobbydetektive auf der ganzen Welt ihren Namen und den ihres mutmaßlichen Mörders. Und sie kennen den Namen jener Frau, die den Fall mit ihrem Audiopodcast „Serial“ neu aufgerollt hat: Sarah Koenig. Die Reporterin hat schon für ABC News, die New York Times und die Tageszeitung Baltimore Sun gearbeitet. Seit zehn Jahren ist sie Co-Produzentin der preisgekrönten Radiosendung „This American Life“, die wöchentlich aus dem mal kuriosen, mal ganz gewöhnlichen Leben von US-Bürgern berichtet. Die Grundidee zu „Serial“ kam Koenig, weil sie während langer Autofahrten gern Audiobooks hört. Da läge es doch nahe, auch einmal eine wahre Geschichte über einen längeren Zeitraum hinweg zu erzählen und dabei die gegensätzlichen Sichtweisen der Beteiligten zu Wort kommen zu lassen, fand sie.

Die Wahl für die erste Staffel von „Serial“ fiel auf die traurige Geschichte von Lee und Syed, weil eine Freundin der Familie Syed Koenig auf die vielen Ungereimtheiten in dem Justizverfahren aufmerksam machte. Ein ganzes Jahr verbrachten Koenig und ihr Team mit Recherchen, bevor am 3. Oktober dieses Jahres die ersten zwei Folgen online gingen. Ein Privatdetektiv wurde angeheuert, Sachverständige um Gutachten gebeten, alte Schulfreunde von Lee und Syed ausfindig gemacht und interviewt. Auch der Verurteilte selbst erklärte sich zu wöchentlichen Telefongesprächen mit Koenig bereit. 

Weil es um reale Schicksale geht, wird man vom passiven Zuhörer schnell zum Fürsprecher oder Aktivisten.

Pete Rorabaugh, Literaturwissenschaftler und „Serial“-Experte

Die entgegenkommende Art, in der Syed Koenigs Fragen beantwortet, nährt die Zweifel an seiner Schuld nur noch, die der schlampig geführte Prozess und unglaubwürdige Zeugen zuvor längst gesät haben. Wer sagt die Wahrheit? Wer lügt? Und warum? Habe ich gerade die Stimme eines Mörders im Ohr oder die eines unschuldig Verurteilten? Wessen Erinnerungsvermögen kann ich nach 15 Jahren noch trauen? Woche für Woche setzt sich „Serial“ mit diesen Problemen auseinander, präsentiert Mitschnitte von Telefonaten und Tonaufzeichnungen aus dem Gerichtssaal. Woche für Woche kann man mit anhören, wie Koenig mit der Suche nach der Wahrheit ringt, und mit ihrem Unvermögen, sie zu finden. Spuren werden aufgenommen und wieder verworfen, Verdächtige ausfindig gemacht und wieder entlastet.

Und immer mehr Menschen hören dabei zu. Über fünf Millionen Downloads verzeichnet „Serial“ mittlerweile. Apple hat den Podcast gerade erst zum besten des Jahres gekürt. Beim internationalen Dokumentarfilmfestival in Amsterdam gab es den Preis für die gelungenste digitale Dokumentation. Ein Aufruf Koenigs, das Projekt finanziell zu unterstützen, war erfolgreich. Es wird eine zweite Staffel geben — mit einer neuen Geschichte. Aber was macht „Serial“ für Millionen von Zuhörern so unwiderstehlich?

Bei ,Serial‘ können wir selbst aktiv werden, die Geschichte weitererzählen und sogar beeinflussen.

Pete Rorabaugh, Literaturwissenschaftler und „Serial“-Experte

„Neu ist dieses Erzählen in Episodenform jedenfalls nicht“, sagt Literaturwissenschaftler und „Serial“-Fan Dr. Pete Rorabaugh von der Southern Polytechnic State University in Marietta, Georgia. „Schon Charles Dickens hat im 19. Jahrhundert seine Romane Kapitel für Kapitel in Wochenzeitungen veröffentlicht. Bei Comic-Heften ist die Erscheinungsweise in zeitlichen Abständen immer noch üblich.“ Eine weitere offensichtliche Parallele sind Fernsehserien. Genau wie „True Detective“ spielt „Serial“ mit der Gegenüberstellung von Perspektiven und der Unzulänglichkeit von Erinnerungen. Anstatt wie in „Twin Peaks“ die Frage nach dem Mörder einer fiktiven Figur namens Laura Palmer zu stellen, lautet sie hier „Who killed Hae Min Lee?“.

Auch Kriminalreportagen und Gerichtssaal-TV gibt es schon lange. Mehrteilige Dokumentarfilme wie Jean-Xavier de Lestrades „The Staircase“ und „Paradise Lost“ von Joe Berlinger und Bruce Sinofsky haben mysteriöse Mordfälle rekonstruiert und dem launischen Justizsystem der USA den Spiegel vorgehalten. Beiden gelang — ähnlich wie „Serial“ — der Balanceakt zwischen der Darstellung von Fakten und dem Erzeugen von Spannung. Und beide haben ihren Teil dazu beigetragen, dass Justizirrtümer korrigiert wurden. Etwas, dass sich viele Zuhörer auch von „Serial“ erhoffen. „Dieser Podcast ist mehr als nur Unterhaltung“, sagt Rorabaugh. „Weil es darin um reale Schicksale geht, wird man vom passiven Zuhörer schnell zum Fürsprecher oder Aktivisten, wenn man in der Öffentlichkeit Stellung zum Fall Syed bezieht.“

Das Besondere an „Serial“, so Rorabaugh, sei die Meta-Erzählung — das Erzählen über das Erzählen: Auf der Diskussionsplattform Reddit wird im eigens eingerichteten „Serial“-Subreddit über Schuld und Unschuld spekuliert und Geld für ein Stipendium im Namen des Opfers gesammelt. Die Anwältin Susan Simpson veröffentlich in ihrem Blog akribische Auswertungen der Beweislage. Es gibt Podcasts zum Podcast, Stellungnahmen von Juristenverbänden, Hommagen und Parodien. Ein YouTuber ist sogar alle Orte abgefahren, die mit dem Verbrechen in Verbindung stehen. In den Gehirnen der „Serial“-Hörer kollidieren seine Videobilder mit den Vorstellungen, die sie sich von den im Podcast erwähnten Plätzen gemacht haben.

,Serial‘-Fan ist man auch wegen des morbiden Reizes der Grenzüberschreitung. Wegen des Gefühls, es mit etwas Wahrhaftigem — und Furchtbarem — zu tun zu haben.

„Alle diese Diskussionen und Interpretation, die aus ,Serial‘ hervorgehen, sind Teil der Meta-Erzählung“, sagt Rorabaugh. „Bevor es das Internet gab, waren wir darauf beschränkt, die Geschichten, die uns Verlagshäuser und Medienkonzerne vorgesetzt haben, zu konsumieren. Nun können wir selbst aktiv werden, die Geschichte weitererzählen und im Fall von ,Serial‘ sogar beeinflussen.“ Die Grenzen werden durchlässig. Es kommt zu Rückkopplungen: Ehemalige Mitschüler des Verurteilten, die über Reddit von „Serial“ erfahren haben, nehmen Kontakt zu Sarah Koenig auf und sprechen mit ihr über Syed; Koenig integriert Auszüge dieser Telefonate in eine Folge ihres Podcasts, und auf Reddit wird im Anschluss wieder genau darüber diskutiert. Theorien, die unter „Serial“-Hörern aufgeworfen werden, finden bei den Produzenten des Podcasts Gehör. Der Wahrheitsfindung dient das allerdings nur bedingt, denn mehr Meinungen bedeuten nicht automatisch mehr Klarheit.

Hin und wieder droht die Meta-Erzählung sogar zur Gefahr zu werden. Etwa dann, wenn im Internet der vollständige Name und der Facebook-Account des Zeugen veröffentlicht werden, der Syed belastet hat. Und auch der Bruder der Ermordeten Hae Min Lee meldet sich zu Wort. Auf Reddit schreibt er, dass Koenig zwar einen guten Job mache, er seiner Mutter aber vorerst nichts von „Serial“ erzählen wolle, um sie vor noch mehr Schmerz zu bewahren. Man stelle sich vor: Die eigene Schwester wird ermordet, und für viele Podcast-Hörer ist sie nichts weiter als eine Randfigur — der Auslöser für ein kurzweiliges, multimediales Spektakel. Wer „Serial“-Fan ist, der ist es auch wegen des morbiden Reizes der Grenzüberschreitung. Und wegen des Gefühls, es mit etwas Wahrhaftigem — und Furchtbarem — zu tun zu haben.

Wenn aber jeder an der Geschichte von ,Serial‘ miterzählen darf, handelt es sich dann noch um eine gute Geschichte?

Um sich auf das Zusammenspiel all dieser Ebenen einen Reim zu machen, diskutiert Rorabaugh einmal pro Woche per Google Hangout über die Erzählweise von „Serial“ — und die Art, wie über „Serial“ erzählt wird. Immer mit dabei: Rabia Chaudry, die Rechtsanwältin und Freundin der Familie Syed, die Koenig zum ersten Mal von dem Fall berichtete und damit das Phänomen „Serial“ ins Rollen brachte. Aber auch ein Reddit-Moderator und Freunde Syeds sind unter den Gästen. Rorabaugh weiß, dass er mit seinen Gesprächskreisen selbst Teil der Meta-Erzählung geworden ist. Und ihm ist bewusst, dass er durch die enge Verbindung Chaudrys zum Verurteilten der Geschichte von „Serial“ emotional sehr nahe kommt. „Ich hoffe, dass ich genügend akademische Distanz wahren kann,“ sagt er. „Für Rabia ist der ,Serial‘-Podcast kein Vergnügen. Das Zuhören und das Warten auf neue Folgen macht sie fertig. Manchmal merke ich, dass es mir ähnlich geht.“

Wenn aber jeder an der Geschichte von „Serial“ miterzählen darf, handelt es sich dann noch um eine gute Geschichte? Und ist Sarah Koenigs Podcast-Experiment nur dann erfolgreich, wenn Hae Min Lees Mörder anhand stichhaltiger Beweise überführt oder zumindest Adnan Syeds Unschuld bewiesen wird? Rorabaugh sieht das nicht so. „Wenn man sich von der Vorstellung löst, die Wahrheit herausfinden zu müssen, wird ,Serial‘ zu einer Erzählung über ganz viele andere Dinge“, sagt er. Zum Beispiel das System der Rechtsprechung in den USA, die Darstellung von Muslimen in den Medien, den Drang zum Lügen oder das komplizierte Leben von Highschool-Schülern. Wenn den Machern von „Serial“ eines gelungen ist, dann dass sie dem Mordfall eine menschliche Seite — und viele Stimmen — gegeben haben. „Für mich bleibt ,Serial‘ daher trotzdem eine gute Geschichte, auch wenn am Ende keine Lösung wartet“, sagt Rorabaugh. „Und dasselbe gilt für die zahllosen Geschichten, die andere Menschen sich über ,Serial‘ erzählen.“

Die zwölfte und letzte Folge von „Serial“ wird heute veröffentlicht. Wer den Podcast noch nicht kennt, sollte aber dringend mit der ersten Episode beginnen. Alle Folgen können auf der Website zum Podcast kostenlos heruntergeladen werden. 

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