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Verrückte Ideen sind die besten: Segway-Erfinder Dean Kamen im Interview

von Karsten Lemm
Der Segway Scooter hat Dean Kamen bekannt gemacht – doch der Erfindungsreichtum des Amerikaners geht weit über den balancierfreudigen Stehroller hinaus: Mehr als 400 Patente hat der 65-Jährige sich erarbeitet. Mit WIRED spricht er über Innovation, seinen neuen treppensteigenden Rollstuhl und über einen Roboter-Wettbewerb für Kinder, den er als seine wichtigste Erfindung ansieht.

Ein Dialysegerät für den Heimgebrauch, damit Nieren-Patienten nicht ständig ins Krankenhaus kommen mussten? „Die Leute haben uns alle für verrückt erklärt“, erinnert sich Dean Kamen. Aber das kümmerte ihn nicht. Kamen ist Gründer des privaten Forschungslabors DEKA Research und einer der wichtigsten amerikanischen Erfinder der vergangenen Jahrzehnte. Er beschloss, seine Idee trotzdem umzusetzen – und hatte Erfolg. Sein Homechoice-Dialysegerät erleichtert Millionen Patienten heute das Leben. „Wenn Leute nicht glauben, was ihr vorhabt, ist verrückt, dann ist es wahrscheinlich auch nicht innovativ, sondern einfach nur eine Weiterentwicklung“, erzählt Kamen seinen Zuhörern bei einem Auftritt auf dem Pioneers Festival in Wien.

Am bekanntesten ist Kamen mit dem Segway Scooter geworden, dem Stehroller, der eigenständig die Balance halten kann und mit bis zu 20 Stundenkilometern durch die Stadt kurvt – beliebt bei Touristen, Polizisten und vielen anderen, die wendig, flink und mobil sein wollen. Dabei war der 2001 vorgestellte Segway nur ein Nebenprodukt, entstanden aus der Arbeit an einem Rollstuhl, der Treppen steigen sollte, dem iBot. Die Kreiselinstrumente und Stabilisatoren, die für den iBot entwickelt wurden, erlauben es dem Segway, sich aufrecht zu halten. (Ein britischer Millionär, der die Firma später kaufte, verunglückte 2010 tödlich mit seinem Segway, was zu dem verbreiteten Missverständnis führte, Kamen, der Erfinder, sei gestorben.)

Für den iBot selbst dagegen brauchte Kamen mit seinem Team aus etwa 500 Forschern und Entwicklern 15 Jahre, um sich dem Ziel zu nähern: Die erste Version war mit über 25.000 Dollar zu teuer, 2009 wurde die Produktion eingestellt. Jetzt nimmt Kamen mit Toyota als Partner einen zweiten Anlauf, den Rollstuhl auf den Markt zu bringen. „Der Neue ist fantastisch – 50 Kilo leichter und in jeder Hinsicht leistungsfähiger“, schwärmt Kamen im Gespräch mit WIRED. Die Art der Treppe, die Höhe der Stufen spiele keine Rolle: „Der Maschine ist das ganz egal, sie läuft einfach.“

Der Einfallsreichtum des 65-Jährigen hat noch vieles mehr hervorgebracht, darunter ein neuartiges Frischwasser-System für Entwicklungsländer, den Roboterarm „Luke“ (benannt nach Luke Skywalker) und, Anfang der 1970er Jahre, die erste tragbare Insulinpumpe der Welt. Dennoch liegt Kamen nichts so sehr am Herzen wie der FIRST-Wettbewerb, der jährlich Hunderttausende von Schülern in 86 Ländern zum Roboterbauen anspornt. „Wir hoffen, FIRST zum festen Teil der Kultur für Kinder in aller Welt zu machen“, erklärt er im WIRED-Gespräch. Schließlich braucht die Zukunft Nachwuchs, der keine Angst davor hat, für verrückt gehalten zu werden.

WIRED: Herr Kamen, den Segway-Scooter hat fast jeder schon einmal gesehen – ist das Ihre bedeutendste Erfindung?
Dean Kamen: Nein, im Gegenteil. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, medizinische Geräte zu entwickeln. Vor 30 Jahren waren 80 Prozent aller Insulinpumpen das Modell, das ich entwickelt hatte, und wir haben mehr als 500 Millionen Dialysegeräte für den Heimgebrauch verkauft. Fast alle der 500 Ingenieure, die heute für mein Unternehmen arbeiten, beschäftigen sich mit medizinischen Themen – und doch werde ich aller Welt wohl als „der Segway-Typ“ in Erinnerung bleiben.

WIRED: Bedauern Sie das?
Kamen: Der Segway ist ziemlich cool. Er hat viele Menschen über Verkehr und Beförderung nachdenken lassen. Hunderttausende sind inzwischen verkauft worden, und Dutzende Firmen stellen ähnliche Geräte her. Wie heißt es doch gleich? „Nachahmung ist die höchste Form der Schmeichelei.“ Aber wenn Sie mich fragen, welche meiner Arbeiten wohl die größte Bedeutung haben wird, dann vermutlich mein Roboter-Wettbewerb FIRST, der Kinder dazu bringen soll, sich für Technik zu begeistern. Wir sind jetzt bei mehr als einer Million Teilnehmern aus 86 Ländern.

Stolz zeigt Kamen auf dem Pioneers Festival ein Video zum FIRST-Roboterwettbewerb, der in mehr als 80 Ländern Kinder und Jugendliche für Technik begeistert.

WIRED: Finden Sie, Robotik sollte zum Schulfach werden?
Kamen: Nein. Die Roboter sind nur ein Mittel zum Zweck: Kinder sollten lernen, sich für Physik, Mathematik und Ingenieurswesen zu begeistern – und mit Robotern fällt das leichter. Die Geräte sind ein guter Weg, den Kindern auf unterhaltsame Weise Technologie nahezubringen. Es ist so ähnlich wie beim Sport: Wenn Kinder sich bewegen sollen, könnte man ihnen vorschreiben, jeden Tag eine Stunde herumzulaufen. Aber es wäre nicht leicht, das durchzusetzen. Sagt man ihnen dagegen „Spielt Fußball!“, dann bewegen sie sich von allein.

WIRED: Ist Technik-Unterricht wichtiger als Kunst oder Musik?
Kamen: Solche Vergleiche sind wie die Frage: „Was ist wichtiger – Luft oder Wasser?“ Beides ist lebensnotwendig. Die Welt braucht Kunst, sie braucht aber auch Wissenschaft. Und das Problem ist, dass viele Kinder und Jugendliche – besonders Mädchen und Minderheiten – Wissenschaft als ein Fach für Sonderlinge ansehen: nur für Nerds. Wir müssen es schaffen, dass Themen wie Technik und Mathematik für alle interessant werden. Viele Karrierechancen werden sich denjenigen bieten, die sich früh für diese Dinge begeistern können. Während andere, die von Mathematik und Physik nichts verstehen, in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts nur begrenzte Chancen haben. Deshalb versuchen wir mit FIRST, das alles mit Spaß zu erfüllen.

WIRED: Sie haben gerade den weiterentwickelten iBot vorgestellt, der Treppen steigen kann. Klingt wie ein Segway, der noch etwas hinzugelernt hat.
Kamen: Das Gegenteil ist der Fall! In Wahrheit haben wir den iBot vor dem Segway entwickelt – und als wir verstanden hatten, wie wir Balance nachahmen können, ist uns der Gedanke gekommen: Die Technik ließe sich nutzen, um ein Fortbewegungsmittel für Menschen zu bauen, die auch abspringen können, wenn sie wollen. 

WIRED: Warum hat es noch 15 Jahre gedauert, diese neue Version des iBot marktreif zu entwickeln?
Kamen: Den ersten iBot haben wir 2001 vorgestellt, gemeinsam mit dem Segway. Aber Krankenversicherungen haben immer nur die Kosten für einen Rollstuhl übernommen. Damit ließ sich unmöglich ein massentaugliches Geschäft aufbauen. Wir haben einige hundert iBots verkauft und viele Nutzungsdaten gesammelt, die zeigten: Das Gerät ist sicher. Wir sind dann zu Toyota gegangen und haben gesagt: „Helft uns, dieses Gerät verfügbar zu machen.“ Und Toyotas Antwort war im Prinzip: „Wenn ihr uns helft, Roboter zu bauen, helfen wir euch mit euren Medizinprodukten.“

Das Tempo des Fortschritts in der Medizin wird den Dotcom-Boom langweilig aussehen lassen

Dean Kamen

WIRED: Warum Toyota? 
Kamen: Weil das Unternehmen etwas von Mobilität versteht und weil wir dieselbe Vision haben. Das wurde mir im Laufe der Gespräche immer deutlicher klar. Eine alternde Gesellschaft verlangt andere Transportkonzepte. „Wir haben bisher Tür-zu-Tür-Technologie angeboten“, hieß es bei Toyota. „Künftig brauchen wir Technologie, die hinter der Tür weitergeht. Es hilft uns nichts, Autos anzubieten, wenn Menschen die Autos gar nicht erreichen können.“

WIRED: Wo erwarten Sie in der Medizin die größten Fortschritte durch Digitalisierung?
Kamen: Für mich ist der spannendste Aspekt, dass Medizin jetzt zu einer Technologie wird. Als ich ein Kind war, wurde Medizin noch „heilende Kunst“ genannt, und Ärzte „praktizierten Medizin“ mit Urteilsvermögen und Intuition. Heute sind Gentechnik, Proteomik und Nanotechnologie weit vorangekommen. Es geht nicht mehr darum, einen Zaubertrank zu mixen – regenerative Medizin erlaubt es uns, sehr genaue Ziele zu erreichen und einzelne Zellen oder ganze Organe zu erzeugen. Medizin ist dabei, eine Ingenieurswissenschaft zu werden. Das wird die Möglichkeiten, Menschen zu behandeln und ihre Lebensqualität zu erhöhen, dramatisch verbessern. Und das Tempo des Fortschritts wird den Dotcom-Boom im Vergleich dazu langweilig aussehen lassen. 

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